Alan Gilbert, Foto: (c) Peter Hundert

Musik- und Kongresshalle Lübeck (MuK)
Ein Konzert impulsiver Kraft – 1. Konzert der Elbphilharmoniker in dieser Saison

Pannen passieren, auch großen Veranstaltern wie dem NDR. Am 27. September, beim ersten Konzert der Elbphilharmoniker in der Saison 2019/20 war es die, dass die Programmhefte fehlten. Man mag das als nebensächlich empfinden, aber sie liefern, wenn gut gemacht, und das sind die des NDRs in aller Regel, einen guten Zugang.

Diesmal fehlten sie den Besuchern nicht nur deshalb, weil es der erste Lübecker Auftritt des Orchesters unter Leitung ihres neuen Chefdirigenten Alan Gilbert war. Wer ihn noch nicht aus seiner langen Zeit als Erster Gastdirigent kannte, hätte sicher gern etwas über ihn gelesen. Stärker wird sich ausgewirkt haben, dass zwei Werke im Programm verzeichnet waren, die zur Neuen Musik gehören, diesmal sogar zur neuesten.

Zum einen war es ein Violinkonzert von Enno Poppe, geb. 1969, zum anderen eine Konzertouvertüre für Orchester, geschrieben vom wenig jüngeren Jörg Widmann. „Con Brio“ nennt er seine vor elf Jahren entstandene Komposition. Noch aktueller ist Poppes Konzert. Es ist in diesem Jahr im Auftrag des Beethovenfestes und des NDRs entstanden und in Bonn vor nur anderthalb Wochen uraufgeführt worden. Beide Schöpfungen sind eigenwillig und ambitioniert, verlangen, dass man sich mit ihnen beschäftigt, am besten vor dem Konzert, um zu erfahren, worauf man achten kann, zumindest aber im Nachhinein, um vielleicht etwas mehr zu verstehen.

Einfacher war es mit dem Auftakt, könnte man glauben, mit einem klassischen Werk. Doch der Abend begann äußerst gespannt und impulsiv mit Ludwig van Beethovens „Egmont-Ouvertüre“ – und sollte so ungewöhnlich bleiben. Alan Gilbert schien alles, was genüssliches Musikgestalten und –vernehmen bedeuten könnte, aus dem Saal bannen zu wollen, dafür höchste Aufmerksamkeit zu fordern. Mit den ersten Akkorden wurde das klar. Jeden akzentuierte er, setzte Wachsamkeit heischende Zeichen, formte die melodischen Bögen mit bezwingendem Ausdruck, verstärkte die rhythmischen Profile der Motive. Jedem seiner Musiker schien er seinen Gestaltungswillen mit fordernden Gesten vermitteln zu wollen. Das hatte bei dieser ausdrucksstarken Komposition mit ihrem jubelnden Finale auch auf das Publikum eine magische Wirkung und führte zu einem jubelartigen Applaus.

Caroline Widmann, Foto: (c) Lennard RuehleCaroline Widmann, Foto: (c) Lennard RuehleGanz in klassischer Manier folgte an zweiter Stelle ein Solokonzert, das „Schnur“ genannte Violinkonzert, gespielt von Carolin Widmann. Das aber hatte es schwerer, das Publikum zu begeistern. Es war kontemplativer, in enger Kooperation mit der an der Leipziger Musikhochschule wirkenden Geigerin entstanden, die ihren ungewöhnlich schwierigen Part mit höchster Konzentration gestaltete.

Enno Poppe hatte für sein knapp 20 Minuten dauerndes Werk eine Grundidee, die vor allem für Streicher von Bedeutung ist, deren Saiten er in der Metapher Schnur erfasst. Es ist die Schwebung oder das Tremolo, dem er als einem thematischen Prozess nachhing. Das führte zu reizvollen, doch ungewohnten tonlichen Unschärfen, zu verkleinerten Intervallen, die einen herben Klang bewirkten. In vielen Varianten wurde die Spieltechnik eingesetzt, langsam und schnell, in engeren oder weiteren Amplituden, von anderen Instrumenten imitiert, auch als Glissando genutzt. Es entstand beispielsweise eine Art packender Dialog mit der Pauke oder ein Kontrapunkt zu einer Melodie der Bläser. Formal ließ sich eine Steigerungs- und Verdichtungstechnik heraushören, die in vielen Ansätzen aus der Tiefe in die Höhe stieg, bevor eine neue Welle ansetzte. So begann das Gesamtwerk auch mit tiefen Tönen auf dem Soloinstrument, um zum Schluss auf der E-Saite im geisterhaften Flageolett zu verklingen.

Ganz anders arbeitete Jörg Widmann, der Bruder der Geigerin, von dem in Lübeck bereits verschiedentlich Werke aufgeführt wurden, der hier auch als Klarinettist zu erleben war. Auch er bezog sich auf Beethoven, der damit in diesem Konzert das Kraftzentrum in einem penibel gestalteten Programm wurde. Beide, Poppe wie Widmann, nutzten eine nahezu identische Orchesterbesetzung, wie sie Beethoven voraussetzte, in der Ouvertüre zu Beginn und auch in der siebten Sinfonie zum Abschluss. Während im Konzert die Nähe zu dem Wiener Klassiker weiterhin nicht wahrnehmbar war, war das bei Widmann anders. Mit ebenso kraftvollen Schlägen begann sein „Con Brio“, wie sie anfangs zu hören waren.

In der Fortsetzung allerdings ergab sich der Eindruck einer Demontage des beethovenschen Klangmaterials. Ansatzweise glaubte der Hörer hier ein Thema, auch in klaren Dur-Akkorden etwas erkennen zu können, was auf Egmont zurück oder die Sinfonie voraus verweisen könnte. Er wurde aber sofort durch eine veränderte Weiterführung in die Irre geleitet. Ungewöhnliche Farben ergaben sich. Ein grandioses Klangstück lieferte zudem die Pauke. Sonst nur zwei, hatte Widmann ihre Zahl auf fünf erweitert und nutzte nicht nur wie üblich das Trommelfell, sondern auch den Rahmen mit rhythmisch rasanten, teils geräuschhaften Schlagfiguren, dennoch im sensiblen Zusammenspiel mit anderen Instrumenten. Stephan Cürlis, der Solopaukist des Orchesters, hatte einmal wieder die Möglichkeit, sein ungewöhnliches Können zu beweisen.

Mit gleicher Musikalität und wie so häufig auswendig meisterte er auch seinen Part in der Beethoven-Sinfonie. Das unterstrich, wie sinnvoll, der Gestaltung und dem Ausdruck dienlich, Beethoven selbst das Rhythmus-Instrument eingesetzt hatte. Das passte einleuchtend zu der Absicht von Alan Gilbert, die Sinfonie vor allem impulsiv aufzufassen, ihre ungewöhnliche Energie und den tanznahen Schwung zu betonen. Wieder einmal wurde in dieser Interpretation deutlich, wie Beethoven seine musikalischen Gedanken in bezwingender Weise entwickelt und modifiziert, wie sinnvoll metrische und dynamische Wechsel eingesetzt sind. Der mitreißende Elan entlud sich beim Publikum in lang anhaltendem Beifall.

Alan Gilbert hatte seine Visitenkarte abgegeben: besondere Programme und ungewöhnlich intensives Interpretieren stand darauf. Das Orchester folgte ihm mit höchster Konzentration und spürbarer Freude am Gelingen.

Programmheft zum Download

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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