Weihnachten naht und Sie zermartern sich noch Ihren Kopf: Was soll ich schenken? Hier sechs Vorschläge für fast alle Gelegenheiten plus Konzerttipp.
1 Søren Bebe Trio - Here Now : Nordische Weite und Ruhe in Musik gefasst
2 Searching for Home - HIDDEN ERRORS : Jazziger Soul-Funk mit spannenden Arrangements und einer großartigen Stimme
3 Louis Matute Large Ensemble - Our Folklore : Ein großer, mal bewegter, mal ruhiger Fluss aus südamerikanischen und europäischen Quellen
4 Initiative H - Polar Star: Bläsergewaltiges Opus opulenten Wohlklangs
5 Federico Albanese - Before And Now Seems Infinite : Sphärische Klänge voller Melancholie
6 Mulo Francel - The Melody Sax : Nostalgischer Wohlfühl-Jazz, der ein Lächeln ins Gesicht zaubert und in die Beine geht
Der legendäre Musikjournalist Joachim Ernst Berendt meinte einst: Die Welt ist Klang. Insofern, Musik kommt immer gut, und zur Weihnachtszeit passt meist etwas weniger hektisches (der Advent ist/ war ja hektisch genug …).
Beginnen wir mit dem Søren Bebe Trio: Mit seinem mittlerweile sechsten Album beweist das 2007 gegründete Søren Bebe Trio erneut, dass es zu den Großmeistern der skandinavisch geprägten Jazzmusik gilt, die mit ihrer in Musik umgesetzten Ruhe den Hörer:innen zu einer entspannten Auszeit verhilft. Trotz Auftritten auf Festivals und in Clubs in Hong Kong, Süd Korea, Marokko, Brasilien, Polen, der USA und natürlich ihrem Heimatland Dänemark sind sie hier noch kaum bekannt. Nein, auf Jazz Baltica waren sie leider auch noch nicht.
Bandleader Søren Bebe hat für Here Now den Schlagzeuger getauscht und Knut Finsrud in sein Ensemble geholt. Am Bass vertraut er dem alten Gefährten Kasper Tagel. Ich empfinde Bebes Talent als Komponist – alle Stücke stammen aus seiner Feder – noch bedeutender als das des Pianisten. Der dänische Feingeist ist ein Gestalter von Landschaftsbildern, die über ihre Stille an Tiefe gewinnen. Selbst die bewegteren Stücke atmen eine ruhige Kraft, die Band malt Bilder großer Weite, vor dem inneren Auge schweifen die Blicke über ruhige Wasser in die Ferne.
Darüber hinaus findet sich ein Ausflug zu einem ruhigen Tangoabend, ein anderes Mal kommen Erinnerungen an den schwedischen Jazzmusiker Jan Johansson, das letzte Stück der CD scheint nach dem Hören eines bekannten Elton John-Songs entstanden zu sein. Und eine Schwäche muss ich doch noch benennen: Das Album ist zu schnell zu Ende – aber zum Glück gibt es ja die Repeat-Taste.
Søren Bebe Trio: Here Now, Out Here Music, 17.11.2023
Die folgenden drei Scheiben wurden alle in den legendären Bauer Studios, Ludwigsburg, aufgenommen und produziert und damit erübrigt sich die Frage nach dem Klang. Ich beginne mit einer jungen, kaum bekannten Formation: Searching for Home steht für Spannung, Vielfalt und das Aufbrechen von Genregrenzen. Das 2016 gegründete Musiker*innenkollektiv hat mit "Hidden Errors" sein zweites Album produziert. Neben Jazz, Funk und Soul hat die Band ihre poppigen Songs dieses Mal auch mit Einflüssen aus afrikanischer Folklore, Trap-Beats oder Sounds aus dem nahen Osten versehen.
Seit dem Debütalbum „Let Yourself Break“ (2019) haben viele Bandmitglieder den früheren Arbeitsmittelpunkt Dresden verlassen und sind mittlerweile in ganz Deutschland verteilt. Glücklicherweise haben sie sich für die Proben- und Recordingphase zu „Hidden Errors“ im Raum Stuttgart wieder zusammengefunden: Johannes Kellig – Precision Bass, Ludwig Barth – Jazz Bass, Fretless Bass, Sounddesign, Hakim Azmi – Fender Rhodes, Piano, Prophet, Hammond B3 Organ, Hannes Stollsteimer – Fender Rhodes, Piano, Prophet, Jeremias Wagler-Wernecke – Electric Guitars, Kilian Srowik – Electric Guitars, Florian Anger – Drums, Synth Bass, Synth Lead, Samuel Joseph – Percussion, Hannes Weidauer – Trumpet, Markus Rethberg – Tenor Sax, Alto Sax, Johann Giesecke – Trombone und nicht zuletzt Lina Ida Wutzler – Vocals, Backing Vocals, lassen sich nicht in Schubladen zwängen und ihrer Kreativität freien Lauf, ohne dass die Scheibe beliebig klingt.
Die 11 Songs strotzen vor Energie und Spielfreude, sind mal feiner, mal fetter (ja, ich bin ein Fan von Bläsern) und ergeben eine CD, die auch nach mehrmaligem Hören neue Entdeckungen offenbart. Die Sängerin Lina Ida Wutzler drückt allem ihren Stempel auf und kann (für meine Ohren) auch bekannten Jazzgrößen mehr als das Wasser reichen. Wer mich kennt, weiß, wie kritisch ich weiblichen Stimmen im Jazz gegenüber bin; hier hoffe ich, dass Lina (vielleicht mit einem fürs Marketing besser geeigneten Nachnamen) unbedingt weitersingen wird, gern unterstützt von dieser jungen, kraftvollen Truppe!
Searching for Home - HIDDEN ERRORS, Neuklang, 2022.
Louis Matute hat viele Wurzeln, weit mehr als die Gene seines honduranischen Vaters und seiner deutschen Mutter: Neben der südamerikanischen Musik vornehmlich aus Kuba, Brasilien, Kolumbien und Costa Rica sind es die großen Komponisten, aus deren harmonischem Geist er schöpft.
Zusammen mit seinem Großen Ensemble bestehend aus Léon Phal – tenor saxophone, Zacharie Ksyk – trumpet, Andrew Audiger – piano, Virgile Rosselet – double bass, Nathan Vandenbulcke – drums, Amine M’Raihi – oud auf den tracks 1, 6, 7, 11, sowie ihm selbst mit electric guitar, voice findet er Brücken und Überschneidungen. Alles mündet in einem großen Strom oder ist es das Meer, das Welle für Welle sich weiterbewegt, mal sanfter, mal kräftiger: So mutet die CD, die in einem durchgehört werden sollte, an und es entsteht eine einzige rhythmische Bewegung auf sich einander zubewegender Schwingungen.
Da begrenzen keine geografischen Linien, keine ethnischen Tabus: Es entsteht eine neue Kultur, eine neue Folklore: Our Folklore. Elektrisch in einem rein instrumentalen, akustischen Ensemble, zeichnet Matutes Gitarre ausdrucksstarke Themen ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Ein musikalisches Hörstück, das innerlich bewegt und verbindet.
Louis Matute Large Ensemble: Our Folklore, Neuklang, 2022.
Vergangenes Jahr feierte die französische Bigband Initiative H (12 Musiker, 2 Techniker) ihr zehnjähriges Bestehen, für eine so große Band ein durchaus seltenes Ereignis. Leiter und Sopransaxofonist David Haudrechy komponierte aus diesem Anlass eine zehnteilige Suite namens „Polar Star“, die von den großen Entdeckern an Süd- und Nordpol inspiriert ist.
Der Klang ist kompakt wie strukturiert, bläserbetonte Kraft wie Finesse: satter, rockiger Sound, angedickt von diversen Synthesizern, die vielen Titeln eine mystische Grundlage geben. Die Bläser ziehen sämtliche Register zwischen cinematografischer Wucht, schmetternden Spitzen und sanften Klassik-ähnlichen Klanglandschaften.
Auch für Soli hat Initiative H Platz, aber diese stehen nicht im Mittelpunkt der Musik – es geht mehr um Stimmungen und eindrucksvoll variantenreiche Klangbilder. Setzen und lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich von den Bläsersätzen die Haare nach hinten föhnen. Keine Angst, zur Entspannung gibt es leise zurückhaltende Phasen. Alles zusammen eine Musik, die es mit der Vorlage des Polarmeeres gut aufnehmen kann.
Initiative H - Polar Star, Neuklang, 2022.
Minimalistische Klaviersounds, gespielt auf einem präparierten Klavier, sich wiederholende Synthie-Figuren und leise Streichinstrumente: Etwas Neoklassik gemixt mit Minimal Music und elektronischer Musik, alles von Takt zu Takt jazzig gebrochen. Macht zusammen ein spannendes Album mit 11 Songs, die ungewöhnlich verschieden sind. Das verbindende Element ist ein sphärischer Klang, der bisweilen in den Bereich Ambient abdriftet.
Tonangebend ist das Klavier; verstärkt mit Synthesizern, E-Gitarre, Bass, Flöte, Klarinette und Tonbandbearbeitungen entführt uns Albanese in Filme melodramatischer Szenen, Klangwelten aus Melancholie und Einsamkeit. Vor dem inneren Auge des Hörers/ der Hörerin geht ein Mensch alleine über einen kilometerweiten Strand, das Meer im Nebel, einsame Möwen stehen im Wind … Aber ich möchte keine Bilder vorgeben, wer weiß, was Sie sehen, wenn Sie sie sich auf die Musik einlassen.
Für manche gilt die Scheibe als Albaneses bisher tiefgründigste und schönste Veröffentlichung, die von zwei mit Gesang angereicherten Titeln ergänzt wird: Summerside mit der Sängerin Marika Hackmann, und Feel Again mit Ghostpoet, mit ungewohntem stimmlichen Ductus – zumindest für die, die Ghostpoet bis dato nicht kannten. Ein Ausflug in vielleicht wenig bekannte Innenwelten gepaart mit sehnsuchtsvollen Klängen.
Federico Albanese: Before And Now Seems Infinite, Mercury, 2022.
Nach dem Abtauchen in tiefe Seelengründe zum Schluss zu Leichtigkeit und virtuoser Spielfreude: Mulo Francel - The Melody Sax. Die unter Ihnen, die ein Instrument spielen, werden es vielleicht kennen: Sie können eine innige Beziehung zu Ihrem Piano, Ihrer Geige, Ihrer Gitarre entwickeln. Sie lieben Ihr Instrument mit all seinen Stärken und seinen Macken. Das ging auch Mulo Francel so mit einem Instrument, das in der populären Musik der 1920er Jahre weit verbreitet war und plötzlich für immer verschwand: Es ist ein C-Melody Saxophon, das er vor beinahe 30 Jahren in New York erwarb. Tatsächlich, das Instrument klingt anders als Francels Tenor oder Alt. Ich hatte jedoch den Klangunterschied bei früheren Aufnahmen nie einem anderen Saxophon-Typ, sondern seiner unterschiedlichen Spielweise zugeordnet.
Francel und seine Freunde Chris Gall am Fender Rhodes Piano, Philipp Schiepek an der Gitarre, Didi Lowka am Bass, Sebastian Wolfgruber am Schlagzeug und Andreas Hinterseher am Bandoneon und der Trompete entwickeln einen im positiven Sinne nostalgischen Wohlfühl-Jazz, der in die Beine geht. Für alle die, die sagen, so etwas gibt es heut ja gar nicht mehr: Doch hier finden Sie es: Melodien voller Wärme und Leichtigkeit auf einem rhythmischen Bett, das gute Laune verbreitet. Die 13 Takes halten im besten Sinne altmodische Melodien aus den 20ern und 30ern des letzten Jahrhunderts bereit, alle übrigens, wie das im Jazz dieser Zeit ganz normal war, tanzbar; die Musik geht in die Beine, beinahe möchte ich behaupten, es wäre Verschwendung, ausschließlich dazu mit dem Fuß zu wippen und nicht das Tanzbein zu schwingen. Machen Sie eine kleine Auszeit, laden Sie auf, um danach gestärkt für das Gute in der Welt zu kämpfen oder Ihren Abwasch zu machen.
Worauf Sie sich bei Mulo Francel (und seiner Truppe) auch dieses Mal wieder verlassen dürfen: Virtuose Spielweise, spannende Arrangements, klasse Klangqualität und last but not least ein ausführliches, liebevoll gestaltetes Booklet. Die CD (oder Schallplatte) ist wie aus einem Guss, wird nicht langweilig, die einzelnen Takes sind weder zu kurz noch zu lang und haben einen stimmigen Spannungsbogen. Das Zusammenspiel der Musiker klingt, als ob sie sich schon ewig kennen würden (und bei Mulo Francel, Didi Lowka und Andreas Hinterseher trifft das auch zu).
Zudem erwerben Sie hier eine kleine Wertanlage, denn (vermutlich, überprüft habe ich das nicht) ist das die erste Scheibe seit einer halben Ewigkeit, die komplett mit einem C-Melodie Saxophon eingespielt wurde. Ich sage der Produktion schon jetzt einen hohen Sammlerwert voraus. Aber (nur) deswegen sollten Sie "The Melody Sax" nicht erwerben.
Mulo Francel: The Melody Sax, GLM, 21.3.2023.
Zum Schluss noch ein Nachsatz: Francel ist gemeinsam mit musikalischen Freunden kommenden Dienstag, den 19.12.23, ab 20:00 Uhr mit Weihnachtlichem im Lübecker Kolosseum zu hören: Ein Weihnachtskonzert, wie es hier in Lübeck noch nicht zu erleben war.