(c) Mulo Francel

Mulo Francel
Und er spielt und spielt und spielt...

Mulo Francels Schaffensdrang lässt sich auch von Corona nicht unterkriegen. Neue und nicht mehr ganz so neue CDs des Saxophonisten und Motors von Quadro Nuevo.

Die letzten drei Jahre waren insbesondere für Musikerinnen und Musiker alles andere als einfach: Die meisten konnten bzw. durften zu den zurückliegenden Corona-Hochzeiten nicht auftreten. Einige haben sich mit Livestreams ein bisschen durch die Zeiten gerettet, manche gaben ein „Best of“ heraus, andere gingen trotz alledem ins Studio, um für eine CD neue Stücke aufzunehmen. Eine weitere gar nicht so kleine Gruppe musste umsatteln und sich von der Musik verabschieden, um zu überleben. Der Vollblutmusiker und Weltenbummler Mulo Francel setzte diese krisenbehaftete Zeit in noch mehr musikalische Produktionen um als je zuvor. Ein paar davon sollen hier vorgestellt werden.

Was hat Mulo Francel angetrieben, was ihn inspiriert? In einem Interview vor Erscheinen des neuesten Albums December erzählte mir der Multiinstrumentalist:

Quadro Nuevo, (c) Josefina HinterseherQuadro Nuevo, (c) Josefina Hinterseher

Es ist immer die Musik an sich und die Freude, die wir haben, wenn wir zusammen spielen, meine Kollegen und ich, natürlich unterschiedliche Kollegen bei unterschiedlichen Projekten, aber dieser Augenblick, wenn man zusammen spielt und im Idealfall auch ein Publikum vor sich hat, das ist eigentlich so die Kür: Und für die lebe ich. Und das ist das, was mir Energie und Kraft gibt und auch in der Coronazeit, wo man schon als aufführender Künstler, der Berufsverbot hatte, manchmal tief unten war, ganz tief im Keller war, woran man sich dann wieder hochziehen kann: Die Aussicht auf diese Lust, auf diese Freude, zusammen zu spielen.

Und mich inspiriert der Zusammenklang von meinem Musikinstrument mit der jeweiligen Umgebung: Das kann ein Tanzsaal in Buenos Aires sein, das kann eine Höhle in der Nähe des Roten Meeres sein, das kann in der Würzburger Residenz dieser Treppenaufgang sein, den Tiepolo wahnsinnig gestaltet hat mit den vier damals bekannten Erdteilen … Wenn ich dort stehe in so einer Umgebung und dann ein Lied habe, das dazu passt und das in dieser Akustik erklingt, dann will ich das festhalten und will‘s weitergeben in dieser Akustik.


Beginnen will ich mit der neuesten Scheibe von Quadro Nuevo: December

Drei weihnachtliche Alben hat Quadro Nuevo bereits veröffentlicht – ich persönlich kann sie alle empfehlen. Und wenn auch die seit 1996 bestehende Band "December" nicht als weiteres Werk dieses Genres sieht, interpretiert die Ausnahmeformation vielfach Melodien religiösen oder spirituellen Ursprungs. Auf den insgesamt in 59 Minuten und 28 Sekunden zusammengefassten 13 Stücken hören wir neben Arrangements von (beispielsweise) „Maria durch ein Dornwald ging“, „Jesu bleibet meine Freude“ oder „Die Nacht ist vorgedrungen“ Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen“: In diesem Lied drückt sich ebenso wie in dem von einem Familienmitglied Francels komponierten „Song for Peace“ Quadro Nuevos Sehnsucht nach Frieden aus. Die CD endet mit dem locker-flockigen „I‘ll be home for Christmas“, und die in diesem Stück wiedergegebene Leichtigkeit durchzieht trotz der Ernsthaftigkeit der Inhalte die gesamte CD. Da wird „O Tannenbaum“ auch mal gegen den Strich gebürstet, „Joseph, lieber Joseph mein“ lädt ein, sich zurückzusetzen und die Augen zu schließen. Viele Stücke haben eine innenwohnende Ruhe, die dazu aufruft, „mal runterzukommen“ und das hektische Getriebe draußen zu lassen.



Das Album spiegelt die aktuelle Band-Besetzung wider: Holzbläser Mulo Francel, Bassist D.D. Lowka und Akkordeonist Andreas Hinterseher bilden den Kern des Ensembles. Nach dem tragischen Tod des Gitarristen und Mitbegründers Robert Wolf aufgrund eines Verkehrsunfalls und dem Fortgang der Harfenistin Evelyn Huber zugunsten ihrer Solo-Projekte spielen nun abwechselnd auf der ergänzenden Position: der langjährige Quadro Nuevo Live-Pianist Chris Gall, der junge Gitarrist Philipp Schiepek und der aus New York stammende Vibraphonist Tim Collins. Für die Kyrie Eleison-Fassungen steuert Rolf Ackermann sakrale Flügelhorn-Linien bei.

Wer Advent und Weihnachten wirklich (zumindest ab und an) besinnlich begehen will, hat hiermit hilfreiche wie wunderschöne Musik zur Hand.

Quadro Nuevo: December, GLM (Edel), 28. Oktober 2022, Amazon

Mulo Francel: Crossing Life Lines

Die Idee zu diesem Album entstand während einer ausgedehnten Konzerttour von Mulo Francels Ensemble Quadro Nuevo durch Tschechien und Polen. In der Begegnung mit unzähligen herzlichen Menschen ließen ihm die Emotionen dieser Reise keine Ruhe. Essentielle Fragen drängten sich auf: Wie gehe ich mit dem Leid um, das die Generation unserer Großväter und -mütter verursacht hat? Spricht man es an? Entschuldigt man sich?

Als Reaktion versammelte der Saxophonist und Weltenbummler kreative Musiker mit biografischen Wurzeln in Mittel- und Ost-Europa. Mit beflügelndem Jazz und World Music feiern Diknu Schneeberger, Izabella Effenberg, Philipp Schiepek, David Gazarov, Bernd Lhotzky, Robert Kainar, Stefan Noelle, D.D. Lowka, Sven Faller, Jiří Bárta und natürlich Mulo Francel selbst 75 Jahre Frieden zwischen den Ländern. Einen historisch beispiellosen Frieden, der alles andere als selbstverständlich ist. Einen Frieden, den es zu erhalten gilt. Das schrieb Francel vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, und trotz all den Schrecken seit Anfang dieses Jahres gilt es umso mehr.



"Crossing Life Lines" kommt neben "Living Is Easy, Mostly" eindeutig am jazzigsten daher. Die einzelnen Titel sind angenehm unterschiedlich, in Form, Rhythmus und Arrangement. Aber allen ist eine schwebende Leichtigkeit eigen, kein Wunder, Francels Ton ist so entspannt locker, als ob die Melodien einfach so aus ihm heraus fließen und diese Stimmung hat sich auch auf seine Mitmusiker:innen übertragen. Mal Tango mal (fast) Reggae, mal schmissig, mal ruhig fließend, gekrönt mittels spannender Rhythmusänderungen innerhalb einzelner Stücke, es gibt immer etwas Neues zu entdecken in dieser mehr als 70-minütigen Musikauswahl.

Mulo Francel: Crossing Life Lines, GLM (Edel), 28. August 2020, Amazon.

Mulo Francel: Mountain Melody

… war „ein Verwirklichungsprozess über mehrere Jahre hinweg“ (Mulo Francel). Über die Jahre sammelte Francel Aufnahmen mit unterschiedlichen Künstler:innen, tatsächlich vor Ort auf diversen Gipfeln Europas. Durch die vielfältigen Besetzungen (mal ist es das Quartett Quadro Nuevo, mal sind es langjährige Weggefährten) gewinnen die Stücke einen unterschiedlichen Charakter; oder waren es die unterschiedlichen Regionen und Berggipfel, die das klangliche Gepräge bestimmten? Bestimmt beides. Ergänzt wurden die Live-Aufnahmen durch nachträgliche Einspielungen im Studio.

Besonders gut gefällt mir der ruhige zurückgenommene Ton Francels, der bei Mountain Melody beinahe ins Kontemplative geht. Auf Basis immer wiederkehrender Tonfiguren entwickeln sich schlichte Melodien, die einen weiten Bogen spannen. Mitunter gibt es Ausflüge in andere Spielarten als die üblicherweise von Quadro Nuevo dargebotenen, sogar Modern Jazz ist in Anklängen zu vernehmen. Alles wird zusammengehalten durch die Blasinstrumente des Projektinitiators, der mit dieser CD ein langjähriges Projekt zum Abschluss gebracht hat.



Auch diese CD ist für Hörer und Hörerinnen, die zur Ruhe kommen wollen. Musikalische Gipfelerlebnisse, die über den Blick in die Ferne den Blick nach innen freigeben.

Mulo Francel: Mountain Melody, GLM (Edel), 29.10.2021, Amazon.

Quadro Nuevo: Mare

Mit dieser Aufnahme kehren Quadro Nuevo zu ihren Wurzeln zurück: Südliche Italianità, Musette, die Sonne scheint durch die Titel, die vielfach an Klassiker erinnern, in den meisten Fällen aber von den Musikern der weitgereisten Truppe geschrieben wurden. Wunderschöne Harmonien, immer mit einem Augenzwinkern, gebrochen durch einzelne wohlausgefeilte Soli. Andreas Hinterseher lässt jetzt auch seine Trompete erklingen und diese, wie das Vibraphon von Tim Collins, fügen Quadro Nuevo neue bereichernde Klangfarben hinzu.

Mulo Francel: „Ich fand "Mare" von Quadro Nuevo als sonniges Gegenstück zu "December" ganz schön. Wobei es gar nicht so viel zu Mare zu sagen gibt, da sie für sich spricht: Das ist sonnige Musik, die wir über ein paar Monate hinweg gesammelt haben, arrangiert haben, auch immer wieder damals, noch vor Corona, nach Italien gefahren sind, dort Videos gedreht haben, Lieder gesammelt haben, über Jahre hinweg immer wieder an unterschiedliche Orten in Italien gereist sind und auch nach Griechenland und da sind die Songs dieses Albums entstanden. Und meistens ist es ja so: Man kann sehr viel über das reden, was einen negativ bewegt hat. Das, was einen positiv bewegt hat, da gibt’s gar nicht so viel zu reden, das ist einfach nur ein Genießen gewesen und das setzt man in Musik um und das kam dann bei Mare raus.“

Quadro Nuevo: Mare, GLM (Edel), 30 Oktober 2020, Amazon.

Zuletzt noch zu einer Produktion, die bereits vor Corona erschienen war, aber über die ich dennoch gerne berichten möchte: MYTHOS

Mulo Francel und Chris Gall haben zusammen ein Album eingespielt, das (für meine Ohren) herausragend ist. Letzteres aus mehrfachen Gründen: Die zwei sind, was die Instrumente angeht (Holzblasinstrumente und Piano), ein seltenes wie ungewöhnliches Duo; beide harmonieren kongenial und bilden eine Klangeinheit. Hier stimmt es, dass das Gemeinsame mehr ist als die Summe der Zwei und schließlich: Sie erzählen Geschichten, inspiriert von den Menschen Europas und ihren Kulturen. Vom Mythos des Ikarus über vertonte Narrative von Purcell, Bach, Antonio Carlos Jobim bis hin zu einem Jazz Standard („Old Folks“ von Robison, Hill) aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

Mit dem Ergebnis, dass die Scheibe nie langweilig wird, auch nicht beim mehrfachen Hören, denn immer wieder eröffnen sich neue Perspektiven. Die musikalische Darbietung ist entsprechend der Thematik vielfältig, mal leicht ins orientalische, mal jazzig wie in einer alten verrauchten Bar, mal ruhiger, inniger, mal weit tragend … scheinbar das Meer überspannend. Auch hier gilt ein weiteres Mal: Der Ton ist entscheidend. Francels Holzbläser klingen leicht und weich, manchmal fast zart, brüchig. Galls Piano setzt eine feste rhythmische, häufig von Ostinati geprägte Grundlage, differenziert und ausgewogen im Anschlag.



Für die audiophile Qualität sorgen die Bauer Studios Ludwigsburg, in denen alle Titel bis auf den letzten, ein Live-Mitschnitt aus dem Konzerthaus Blaibach, aufgenommen und produziert wurden. So kann der jazzige Wohlfühl-Klang der beiden Virtuosen eine soghafte Stimmung erzeugen, die einen weit (weg-)führen oder näher zu sich selbst bringen mag, vorausgesetzt, Sie lassen sich auf diese musikalischen (Zeit-) Reisen ein.

Mulo Francel, Chris Gall: Mythos, GLM (Edel), 02.02.20128, Amazon.

Was vereint die oben genannten Produktionen? Da ist das Gefühl von Weite und Sehnsucht auf einem einladenden Bett schöner Melodien. Alle Scheiben sind geprägt von hoher musikalischer und technischer Virtuosität. Jedoch spielt sich die technische Brillanz nie in den Vordergrund, sie ist stets Mittel zum Zweck, mehr Ausdrucksstärke zu erlangen.

Die CDs werden mit wenigen Ausnahmen von liebevoll zusammengestellten, ausführlichen, fast opulenten Text- und Bildbüchern begleitet. Kenner:innen und Liebhaber:innen der Musik Mulo Francels und Quadro Nuevos werden vielleicht das eine oder andere Stück, einige Riffs und Melodien wiedererkennen. Dabei ist es gleichfalls wie die Freude, einen lieben Menschen wieder in die Arme schließen zu dürfen: Vertrautheit hält sich die Waage mit der freudigen Erwartung, die weitere Entwicklung zu erfahren.

Quadro Nuevo, Foto: (c) Franz HellerQuadro Nuevo, Foto: (c) Franz Heller

Zum guten Schluss: Was ihn antreibt, haben Sie schon gelesen. Mulo Francel antwortete mir auf die Frage, ob Musik etwas beitragen kann zu einem friedvollen Zusammenleben: „Wir haben neulich eine Aufführung gemacht, zusammen mit dem Astrophysiker und Philosophen Harald Lesch, mit dem wir öfter mal Aufführungen gemacht haben, und er hat als Abschluss von seiner Rede - da ging es ums Universum, um die Sonne, die Sterne, um die Entwicklung aber auch jetzt um den Klimawandel - gesagt: ‘Wir werden die Herausforderungen unserer Zeit, Flüchtlingsströme, vor allem den Klimawandel, diese Kriege, wir werden es nur schaffen, wenn wir hier zusammenarbeiten. Wenn wir uns separieren und in Gruppen gegeneinander agieren und kämpfen, dann werden wir das nicht schaffen.‘ Und da kann Musik eine Brücke sein zwischen den verschiedenen Gruppen.

Das volle Interview und mehrere Musikstücke hören Sie kommenden Samstag (10.12.22) von 19:00 – 20:00 Uhr in der Sendung HinHörn auf Lübeck FM. Entweder im Livestream: http://luebeck-fm.de/, oder über Antenne: 98,8 MHz, im Kabel: 106,5 MHz, oder über DAB+. 


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