Fehlfarben, Foto: (c) Neal McQueen

Fehlfarben - "?0??"
Trotz allem und deswegen.

Neues Album, neues Buch, Anderes und Jenes zu jener Band, die, würde sie sich trennen, eine Leerstelle hinterließe, in die niemand reinpasst. Das Niemandsland ist nicht nirgendwo.

Drittklassig

Hand auf' s Herz: Hätten die Fehlfarben nur ihr erstes Album „Monarchie und Alltag“ (1980) gemacht und danach keinen weiteren gemeinsamen Ton, sie hätten heute trotzdem diesen Band-wie-keine-andere-Status im deutschen Sprachraum. Ein veritabler, staubfreier Klassiker heutzutage mit Kraft und Konsens, wies die Platte vor 42 Jahren ein gutes Stück über das Übliche im Rock hinaus, zeigte einem neu dräuenden Spießertum und pseudo-anarchischen Verhaltenskodexen gerade im neuen Pogo-Selbstverständnis schneller den Mittelfinger, als man „punk“ sagen konnte.

Zum Ausdruck zu bringen, wie man sich fühlte als Bürger*n zwischen 15 und 25 im noch jungen Sozialrückbaustaat BRD, war das besondere Talent des Fehlfarben-Sängers Peter Hein. Sehnsucht, Resignation und hilflose Wut, akute Vereinsamung, Beziehungsängste, Liebe geht kaputt und schlägt dich nieder - eine emotionale Palette, die Hein in freier, stellenweise betondurchzogener Gegenwartslyrik unweit Heine auf den Punkt setzte. „Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt“, prophezeite er und sang es laut. Ein Jahr später wurde der drittklassige ex-Hollywood-Schauspieler und kalifornische Gouverneur Ronald Reagan neuer US-Präsident. Es ging voran.

Nun ist es in Buchform erschienen, „Monarchie und Alltag - Ein Fehlfarben-Songcomic“, ein visuelles Coveralbum mit stilistisch heterogenen Künstler*nnen und Interpretationen der 12 Tracks des Albums. Wunderbares Buch. Nachdrücklich wird die praktisch abriebfreie Relevanz und Erfassbarkeit der Platte und ihrer Aussage verdeutlicht, zeigt sich doch, dass unter Zeichner*nnen wie Karochy, 18 Metzger, Minou Zaribaff, Nicolas Mahler u. a. ausnahmslos auch die jüngeren dem Thema und den Songs gewachsen waren.

Ein Blick zurück in eine Gegenwart, die sich im Hier-und-Jetzt-Noch spiegelt. Polit-Paranoia. Ein trauriger Werbearbeiter im Hot-Dog-Kostüm in der Rauchpause. Mutationen mit Human-Anteilen in Klamotten. Maschinenartige Tierwesen im Menschenalltag. Surrealismus, Spray-Ästhetiken, Stilzitate aus Belgien, Italien und den USA. Zweimal das Plakat eines deutschen TV-Herstellers auf der leeren Hauswand, wie es auf dem Albumcover mit einem lachenden Ehepaar und dem Slogan „Zehn Millionen Fernsehzuschauer können sich nicht irren“ abgebildet ist: Ein nostalgischer Unterton an dieser Stelle, ein kurzes Seufzen im Langzeitgedächtnis.

(c) Tine Fetz(c) Tine FetzAbstrakt, irr, skurril, schneidend grell in Farbe, Form und Aussage, dann s/w in runder Linienführung und ausdrucksvoll wie bei Anna Sommer, die ohne Text und Sprechblasen auskommt. „Die Leute merken wieder, ich bin zu bleich“ ist der letzte Gedanke einer Ratte in der Stadt, als sie von einem Lkw überfahren wird (eine Zeile aus „Angst“). Leben live, meine Damen und Herren!, kommentiert von Begleittexten des jeweils Ausführenden sowie den Fehlfarben Hein und Schwebel. „Das Mysteriöse an guter Musik“, konstatiert Cartoonistin und Musikerin Tine Fetz, bekannt u. a. aus der Süddeutschen Zeitung, in ihrem Begleittext, „ist, dass sie Jahrzehnte überdauert, obwohl sie einen ganz spezifischen Moment festhält.“ Wer wollte da widersprechen.

Kompromisse

1980, als die LP erschien, war sie für viele eine markante musikalische Äußerung zur bedauerlichen Lage der Nation und der zunehmenden sozialen Entfremdung darin. Zeilen wie: „Wo ist die Grenze, wie weit kann ich gehen / Verschweige die Wahrheit, ich will sie nicht sehen / Schneid' dir die Haare, bevor du verpennst / Wechsle die Freunde wie andere das Hemd“, oder: „Was ich haben will das krieg' ich nicht / und was ich kriegen kann das gefällt mir nicht“ hatte man so noch nicht gehört in Deutschland nach dem Wirtschaftswunder. Sauber ausgearbeitet, beweglich und klar verständlich, warfen die Stücke weißes Licht auf einen Alltag zwischen Kosumterror und Kaltem Krieg. Ausdrucksstark, mit Hingabe und resonanter Unstimme, entzog sich Heins offensiver Gesang den Kriterien und Hörgewohnheiten des Mainstream komplett. Bis Ideal, D.A.F. und Trio in die Hitlisten grätschen und nach Nena alles ganz furchtbar werden würde, sollte es noch ein bisschen dauern. Noch war Neue Deutsche Welle ein Underground-Begriff, erzeugt von Zickzack-Labelchef Alfred Hilsberg („Geräusche Für Die 80er“), umstrittene Schlüsselperson des radikal-innovativen, frühen deutschen Post-Punk. Ohne jemanden wie ihn wäre sehr viel ganz anders gelaufen. Wenn überhaupt.

Die Fehlfarben gingen aus den freigeistigen Düsseldorfer Punk-Pionieren von Mittagspause hervor, die seit der Single „Herrenreiter“ die Aufmerksamkeit der Szene und von ein paar Medienleuten hatten: „Schwarz der Himmel unserer Zukunft / Rot die Erde der Vergangenheit / Gold die Zähne unserer Väter“. Als Sänger Hein und Gitarrist Thomas Schwebel mit neuen Leuten und als Fehlfarben „Monarchie und Alltag“ beim EMI-Konzern veröffentlichten und wohl doch nicht die ideologisch fest vertäute Band waren, als die manche sie sehen wollten, warf man ihnen Ausverkauf und Verrat an der Punk-Sache vor. Was letztlich nicht aufging, denn während z. B. The Clash (eine Lieblingsband von Hein, nebenbei) mit peinlich schwafeliger Revoluzzer-Attitüde beim damals weltgrößten Label CBS unterschrieben, schoben die Fehlfarben nichts dergleichen vor. Die Kunst ist frei, sonst ist sie keine.

Und künstlerisch machte die Band keine Kompromisse; die Realisierung der ambitionierten Debüt-LP wäre kaum möglich gewesen ohne irgendeinen Finanzreichen. Mit Producer Horst Luedtke und den Tonleuten Rolf Hanekamp und Harald Lepschies verstoffwechselten die Fehlfarben Ska-Reste, Dub, UK-Einflüsse von Clash und Wire mit Funk-Elementen und Songwriting zu einem hochdifferenzierten, homogenen Rock-Sound mit echter Songqualität. Instrumente, Stimmen, jedes Scheppern war sorgfältig herausgearbeitet, die Stücke wirken aufgeräumt, abstrakt irgendwie, ohne es an Energie fehlen zu lassen. Eine vorbehaltlos professionelle Studioproduktion, Punk ohne Lärmklischees. Schwebels Gitarre schliddert sauber durch die Uptempo-Chorusse von „Gottseidank nicht in England“, schärft die Textur von „Militürk“, tickt stoisch über 8 Minuten Achtelnoten mit dem Schlagzeug bei „Paul ist tot“: Ein karger Raum, die verlaufene Seele gibt sich preis. Erschütternd und packend. „Ein Jahr (Es geht voran)“, kühl funky mit einer astrein abgefeimten, eloquenten Zackigkeit im Subtext, zählt bis heute international zu den Tanzflur-Standards. Dass es in Deutschland wiederholt zur Hausbesetzerhymne wurde, ist vom Text her nicht nachvollziehbar.

Hirn und Hintern

Daten und Namen sind verflogen, haben sich geändert seit damals, kurz vor Kohl. Der wachsende Verlust zwischenmenschlicher Werte und von Lebensfreude jenseits des Materiellen ging weiter. Wegwerfdeutschland. Inzwischen haben wir den Salat.

Alle sind schlau / keiner ist klug / niemand sagt: Jetzt ist genug. („Der letzte Traum“)

Die Fehlfarben arbeiten unregelmäßig, sind kein umsatzbestimmt im Reißverschlussprinzip aus Tour und Tonträger funktionierendes Outfit. Es braucht Zeit, Sinn und Gegenstand, um rauszuholen, was drin ist in der Combo. „?0??“, das neue Album, ist ein exzellentes, überzeugendes Album geworden, der Titel ein skriptographisches Kleinod, das sich erschließt, noch bevor man es nicht aussprechen konnte. Explizit. Songs, die kommunizieren, während der Vogel Strauß und Olaf Scholz sich still im Sand begegnen.

Mach dich auf den Weg / den Weg, den keiner sonst geht. / Geh ihn nicht allein / allein kommst du nicht heim. / Heim in jene Zeit / die Zeit, die dir noch bleibt. / Bleib nicht zu oft stehen / im Stehen wirst du bequem. / … / Versuch mehr als du kannst. / Du kannst mehr als verlangt. / Verlang alles was Du brauchst / Du brauchst mehr, mehr als erlaubt. / Geraubt ist was Dir fehlt / kein Fehler mehr gefühlt / und ein Gefühl gibt keine Garantie / denn Garantien, die gibt es nie. („In die Welt gestellt“)

Die Band spielt konzentriert mit Wucht und Besonnenheit das nackte Wesentliche, hebt Hooks und Sounds unter die extratrocken durchziehende Rhythmusgruppe, greift umeinander, ist in bester Verfassung und Besetzung: Saskia von Klitzing (dr), Michael Kemner (b), Thomas Schneider (git), Frank Fenstermacher (key, sax, perc), Pyrolator (key, synth). Drei Gründungsmitglieder also mit Sänger Hein, der, wunderbar großmäulig manchmal, mit resonanter Pressstimme singt.

Tanz auf der Straße / bis morgens um Vier / bis zur Ekstase / denn dafür sind wir hier. („Tanz auf der Straße“)

Free your mind and your ass will follow, trotz alledem und deswegen. Zuversicht statt Ignoranz. Das Leben lieben, wann immer es geht. Sonst kann es keins sein.

Dazwischen

Gleich nach Veröffentlichung des Debüts und viel Resonanz, verließ Peter Hein die Band, ging als Bürokaufmann zurück zu Rank Xerox, wo er 2003, nach 30 Jahren, „wegrationalisiert“ (Hein) wurde. Zusammen mit Xao Seffcheque formierte er '81 die ruppig-souligen Family 5 (letztes Album: „Richtig Leben in Flaschen“, 2018), arbeitete '91 erstmals wieder mit den Farben und ist seit 2001 und dem famosen Album „Knietief im Dispo“ („Club der schönen Mütter“ - Video mit Charlotte Roche) wieder drin in der Band.

Während Heins Abwesenheit betrieb Gitarrist Schwebel die Band mit wechselndem Lineup und Erfolg eine zeitlang weiter (Hitsingle „Feuer an Bord“), veröffentlichte u. a. '83 das dekadente, von politisch ambitionierten britischen Pop-Acts wie Scritti Politti, Chanson und wiederum Chic beeinflusste Album „Glut und Asche“ (1983). Auf ungewöhnliche Weise anspruchsvolle deutsche Popmusik, sehr gute Produktion, die mit Songs wie „Dollars & Deutschmarks“, „Jenseits der Tür“ und der rumpelnden Poser-Groteske „Agenten in Raucherkinos“ weiter mit Liebe u. a. sozialen Zuständen hadert. Und klingt wie von einer anderen Band.

Niemandsland

(c) Pyrolator(c) Pyrolator

An dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll das aktuelle Album von Kurt Dahlke, so der bürgerliche Name von Pyrolator, wie Fehlfarben-Kollege Fenstermacher ein Mitglied des legendärischen Experimentalpopkunstelektroniktrios Der Plan. „Niemandsland“ ist nach „Inland“, „Ausland“, „Wunderland“, „Traumland“ und „Neuland“ sein sechstes Album der Reihe seit '79. Keine Worldmusic im Sinne Crossover, wie man denken könnte, wie einige der Covergrafiken es anzudeuten scheinen, eher Variationen über ein Thema, die aus klanglichen und tonalen Annehmlichkeiten bzw. Zumutungen und spezifischen Klischees eine jeweils spezifische Grundstimmung erzeugen. „Niemandsland“, laut Definition ein Begriff für ein Gebiet, das staatsrechtlich niemandem gehört, ist also durchaus lesbar als Synonym von Freiheit. Nicht zu wissen, ob und inwieweit sich das mit Dahlkes Intentionen deckt, lässt Raum für das Hörer-Individuum inmitten der Musik. Das Besondere dieser ausdrucksstarken impressionistischen Musik an sich ist vor allem fühlbar. Und ja, sie ist frei. Utopie und Dystopie, vier Windrichtungen und Licht.

Ausgesprochen schattig, damals wie heute, ist „Inland“ (1979), mit dem unscharfen Foto eines Anzugträgers auf der Rolltreppe als Covermotiv. Ein Gang durch ein urbanes Fortschrittsdeutschland, dräuendes Grau mit Lichtschächten, in dem das Menschliche diffus wird, aus found sounds, schorfigen, verschrammten Bytes und Beats und Tanzfragmenten, an denen man sich stößt. „Der Volksmund wird beatmet“ (Songtitel). „Ausland“ (1981), scheinbar das knallbunte Gegenteil davon, ist verpackt in eine strahlend sonnige Luftaufnahme eines Ozeanriesen auf dem Meer, mit einer Bikini-Hübschen im Swimmingpool an Deck, die, huch!, offensichtlich bewacht wird von einer bewaffneten Gestalt im Schutzanzug.

Die Musik ist aufgemischt mit Lateinamerikanismen, Aloha und '60er Ferien-Kitsch, mit Unterwanderungssounds und einer betonten Künstlichkeit, musikalisch realisiert mit unerhörter Brillanz. Zwei Alben, die zu den wichtigsten im Erneuerungsprozess der elektronischen Musik jener Tage zählen und Dahlke zu einem der maßgeblichen elektronischen Köpfen des Planeten machen. Dahlke erfindet Eins und Null nicht neu; er ist erfahren und beweglich, versteht sich auf den Umgang mit Elektronica schon seit anno Analog. Zu seinen Hauptinstrumenten zählen die von Synthesizerpionier Donald Buchla gebauten MIDI-Controller „Thunder“ und „Lightning II“, bei denen die Musik durch Bewegung und Druck der Hände gelenkt wird, was dem Spieler partiell eine haptische Nähe zu seiner Klangquelle verschafft wie etwa einem Pianisten.

„Niemandsland“, das neue Album, ist Musik ohne beständige Physis. Beständig im Fluss und komplex, scheint sie Dahlke einfach so, frei und gern aus dem Pyrolator zu rutschen. Bssst. Nimmt Strukturen an, um sie aufzulösen, muss Raum und Zeit nicht unterscheiden. Musik mit organischer Anmutung, die alles Künstliche absurd erscheinen und selbst die Person dahinter vergessen lässt. Dass sie mathematisch-technologisch präzise bis ins Innerste ist, scheint absurderweise abwegig. Man schwingt da mühelos mit.

Klickende Klacks, kristallklare Grooves, Sand. Melodische Anteile wie von einer liebesfähigen Pop-KI, eine Art Ambient-Songwriting innerhalb des Abstrakten, wie es der multiplen Musikalität des Pyrolators entspricht. „Acai“, „Djehuti“, „Ein perfekter Abend“, „Borzer“ - eher klangvolle Namen als aussagekräftig, und dann, im Umkehrschluss, eben doch beides, womöglich. Ein klarer Fall von Substanz. Erinnert daran, was ein Mensch jenseits der Macht zu erzeugen in der Lage ist, solange er noch eine Tasse im Schrank hat.

Fehlfarben: „?0??“, Oktober 2022, Tapete Records, Amazon.

Monarchie und Alltag – Ein Fehlfarben-Songcomic, Mai 2022, Ventil-Verlag, 128 Seiten, Amazon.

Pyrolator: Niemandsland, Juli 2022, Bureau B, Amazon

 

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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