Mittendrin Lübeck
Ein Stuhl im Irgendwo

Alltag. Mo Di Mi Do Fr WE. Schlaf. Hm-ta-ta. Trott. Masse, digitale Schlieren. Alles immer. Eine nichtendenwollende manipulative Bilderflut im Handflächenformat schlämmt Wahrnehmung und Alltag zu. Die schulterzuckende Redewendung, dass etwas nicht mehr ist, was es mal war, wird Wunschdenken. Sie wissen schon.

An vier Tagen im vergangenen August schickte sich das Projekt „Mittendrin“ an, dem etwas entgegenzusetzen. Die andere Waagschale zu heben. Den Alltag als Lebensraum in Erinnerung zu bringen. Das Besondere im Banalen wiederzuerkennen. Und stellte zunächst einen Stuhl ins Irgendwo. Einen großen Stuhl. Und ein sorgfältig ausgewähltes Irgendwo. Paradox. Und einleuchtend.

Vis-à-vis am Wühltisch

Ein Hochstuhl, lichte Höhe 1,83m. Ein Durchschnittserwachsener erreicht hier oben eine Augenhöhe von ca. 2,50m, findet einen Kopfhörer und eine Tonbox vor, die bei Knopfdruck einen gelesenen Text abspielt. 5- bis 8-minütige Hörstücke, mit inhaltlichem Bezug zu den unterschiedlichen und unterschiedlich belebten Standorten des Hörmöbels, exklusiv für „Mittendrin“ geschrieben: Die Grundstimmung ist heiter, Ironie und unblutiger Sarkasmus, die Einblicke und Seitenhiebe über den Ort des Geschehens und seine Klientel transportieren, wirken im Subtext.

Im Hagebaumarkt Lübeck an der Lohmühle etwa, wo Sigrid Dettlof (Theater Combinale) den komplexen und langwierigen Entscheidungsprozess für oder gegen die Anschaffung einer 10m-Alu-Ausziehleiter kompromisslos offenlegt (Titel: Wohlfühlzone Baumarkt, Autorin: Majka Gerke). „Lustig, netter Text“, findet Kunde Matthias (50), und den Sitzplatz „ein bisschen eigenartig, mit dem Kopfhörer auch, als wäre man als Beobachter da“. Anne (25) sagt vor allem der Bezug zwischen dem gelesenen Text und der etwas veränderten Sicht auf die Location zu, während eine Mittfünfzigerin, vis-à-vis an einem Wühltisch, neugierig scheue Blicke über den Brillenrand wirft, aber auf Distanz bleibt.

Mit „Einer hatte eine Gitarre dabei“ teilt Schauspieler Peter Grünig vom Lübecker Stadttheater Jugenderinnerungen des Kolumnisten und Bloggers Maximilian Buddenbohm – Treffen am Brodtener Ufer, Lagerfeuer am Strand, Postkartenschiffe, Gespräche, güldene Zukunftsvermutungen. Künstlerin Nicola Reinitzer liest „Krähenfüße und Krähenflügel“ von HannaH Rau, die gewinnend Parallelen zu einer Showtreppe ins Krähenbad zieht. (Titelfoto)

In der Lübecker Bahnhofshalle gibt es Matthias Kröner mit einem eigenen Text zu hören, „Grüß Gott“. Ein witziger Blick auf HL, wenn der vor 14 Jahren zugezogene Oberfranke die Puppenbrücke, Lübecks rund 230 Jahre alte Hauptzufahrt zur Altstadt, freundlich „aus der Zeit gefallen“ nennt oder die Statur des Holstentors mit der eines Bodybuilders vergleicht. Andrea (20) und David (24), auf Durchreise in Lübeck, mögen das, sitzen gern da oben und können unversehens die Herkunft des Autors an dessen fränkischem Restdialekt identifizieren: Das Paar kommt aus Erlangen.

Hören und Sehen

Vier verschiedene, gewöhnliche Orte, gut frequentiert, an denen sich zwischenmenschliche Geschichten abspielen können: Eine ungewöhnliche Plattform für die Autor*nnen und Vorleser*nnen wie auch für die Männer und Frauen, die zuhören. Immer ein gutes Stück über der Alltagssituation und im gleichen Moment mittendrin. Ein tendenziell schwereloses Über-Ich im oberen Stockwerk, der Blick nach innen rutscht ins Lot, Perspektive und Selbstverständnis sind zugegen. Ein Ort, um zu sein.

„Wir hatten schon über ein Jahr Corona hinter uns, da habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn der 1,50m-Sicherheitsabstand in der dritten Dimension umgesetzt würde“, erzählt die Lübecker Szenografin und Event-Fachfrau Andrea Bohacz, die mit ihrem Team in den vergangenen Wochen und Monaten u. a. mit den Kultur-Videoprojekten „Wasfehlt.Lübeck“ und „Wasmacht.Lübeck“ Aufmerksamkeit erzeugte. „Die Badewachen am Strand im südlichen Europa fielen mir ein, die auf Hochstühlen sitzen. Und der norwegische Film „Kitchen Stories“ [NOR 2003, Regie: Bent Hamer], in dem professionelle Beobachter vom Hochsitz aus das Verhalten von Junggesellen in deren Küchen studieren.“

Als Synthese, als ein Angebot sieht Andrea Bohacz das Projekt, „dessen Ausdehnung substanziell abhängig ist von der Anzahl der Leute, die den Geschichten Haltung und Emotion geben, während sie 'erlebt' werden.“ Denn anders als der zweckbefohlene, in seiner Alltäglichkeit banale Informations-Overkill, der den Tag verzerrt und den Blick verstellt, richtet „Mittendrin“ den Fokus auf das zu Hörende. Der Mensch, der oben ungestört hört und nicht lesen muss, also sehen kann, erzeugt den Moment selbst, subjektiv, findet sich darin wieder, wird unwillkürlich zu Sender und Empfänger in Personalunion. Das Zuhören wird zum kreativen Akt.

Eine im Grunde einfache Idee, technisch und gestalterisch schnell umgesetzt und intuitiv erfassbar, mit überraschend viel Brechungsfläche und Potenzial. „Mittendrin“ ist praktisch beliebig erweiterbar – Weihnachtsmarkt, Wochenmarkt, Fußgängerzone, Spielplatz, Holstentor, Theaterplatz, Wahltag. Im Team denkt man derzeit über Geschichten in zwei Sprachen und speziell komponierte Musik anstelle der Texte nach.

(P.S.: Für körperlich beeinträchtigte Personen oder Menschen mit Höhenangst wurde das Hörerlebnis auf Straßenniveau ermöglicht. Und dass gerade Frauen die Texte der Autor*nnen und die Männer die der männlichen Kollegen lesen, hat sich schlicht so ergeben. Finanziell gestützt wurde „Mittendrin“ vom omnipräsenten KulturFunken*.)

Fotos und gelesene Texte:

www.facebook.com/mittendrinluebeck
www.instagram.com/urbanprojectionluebeck

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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