Benedict Wells, Foto: (c) Roger Eberhard

Buchtipps
Neue Lektüre im Spätsommer

Heute möchte ich zwei Bücher vorstellen, die sich mit dem Thema Familie, Tod und Überwindung von Kindheitstraumata beschäftigen. Einmal geht es um das „schöne Elend des Erwachsenwerdens“ und zweitens um die Konfrontation mit der Vergangenheit und deren Überwindung hin zu neuen Lebenszielen.

Der 1984 in München geborene Autor Benedict Wells scheint ein besonderes Faible für Geschichten von jungen Menschen am Beginn ihres Erwachsenenlebens zu haben. Nach dem großen Erfolg seines vierten Buches „Vom Ende der Einsamkeit“, einem magisch-tragischen Roman über drei Geschwister, die den Tod ihrer Eltern durch einen Unfall überwinden müssen, hat er jetzt seinen neuen Roman „Hard Land“ vorgelegt.

Wieder geht es um den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens unter schwierigen Bedingungen. Diesmal geht es um den 15jährigen Sam, der in dem kleinen Kaff Grady in Missouri in den USA Mitte der 80er Jahre lebt. Sein bester Freund ist gerade nach Kanada gezogen und seine Eltern wollen ihn in den Ferien zu seiner Tante mit den zwei verhassten Cousins schicken. Glücklicherweise wird im einzigen Kino des Ortes gerade eine Aushilfe gesucht. Dabei trifft der introvertierte Jugendliche auf zwei etwas ältere Jungen und ein Mädchen, die dort bereits jobben. Obwohl sie ihn zunächst nicht so recht ernst nehmen, akzeptieren sie ihn in ihrer eingeschworene Clique, auch weil er ganz gut Gitarre spielt und eigene Songs komponiert.

Der schüchterne, ängstliche Sam überwindet langsam seine Scham und Unsicherheit. Es beginnt ein Sommer, den Sam nie vergessen wird. Es geht um Mut und Vertrauen, erste scheue Liebe und die Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Mutter. Bis zum bitteren Ende durch einen nicht zu heilenden Hirntumor arbeitet seine Mutter als Buchhändlerin im eigenen Buchladen und träumt von einer letzten Reise nach Rom. Sein Vater ist arbeitslos, weil der einstige Arbeitgeber, die Textilfabrik vor Ort dicht gemacht wurde. Die große Schwester hat längst das Weite gesucht und lebt als erfolgreiche Drehbuchschreiberin in Los Angeles.

Sam ist an der Schule ein Außenseiter, dem es vor dem schwarzen Loch des Sommers graust, bis er auf seine neuen Freunde trifft. Zur Musik von Billy Idol oder Bruce Springsteen scheinen ihm buchstäblich Flügel zu wachsen. Denn auch Hightower, der schwarze Footballspieler der Schule, Cameron der schwule Sohn einer reichen Familie und Kirstie sind auf ihre Art Außenseiter. Durch sie lernt er sich selbst gegen den stadtbekannten Schläger zu stellen und wagt sogar den Sprung aus großer Höhe in einen See. Gleichzeitig verliebt er sich heimlich in das umschwärmte Mädchen Kirstie, die in einer Kladde die ersten Sätze von Romanen sammelt, sich eigentlich für ältere Jungs interessiert und deren Verhalten ihn so verwirrt „wie süßsalziges Popcorn“.

Eigentlich ist von vornherein klar, das die drei älteren Freunde nach dem Sommer ebenfalls das aussterbende Kaff zum Studieren verlassen werden, trotzdem wird es für Sam ein unglaublicher Sommer. Gemeinsam gehen sie auf Parties und auf Konzerte, nehmen Drogen und betrinken sich. Fast schon ein typischer Coming-of-Age-Roman, der aber ohne Kitsch und Plattitüden daher kommt, sondern vielmehr mit Witz, hervorragend gezeichneten Figuren, großen Gefühlen und intensiven Dialogen überzeugt.

Obwohl das Buch 80er Jahre pur ist, handelt es sich um einen zeitlosen Roman voller Empathie, der keinen kalt lässt. Wells gelingen Sätze, die lange nachwirken und voller Wahrheit sind. „Ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich“. Oder auch: „Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden, wenn er wieder herunterfällt.“

Und zu allem läuft der Hit „Dancing with myself“ von Billy Idol, selbst auf der Beerdigung der Mutter, als Sam zusammen mit seiner Schwester den Song in der Kirche spielt. Ein wunderbares Buch für alle, die ihre eigene Jugend noch nicht vergessen haben und sich an den Kampf und den Krampf mit dem Erwachsenwerden erinnern.

Benedict Wells: Hard Land, Diogenes Verlag Zürich, 2021, 342 Seiten, Amazon.

Mein zweiter Buch-Tipp stammt zwar schon aus dem letzten Jahr, ist aber ebenfalls ein Roman, der Mut macht und liebevoll davon berichtet, dass man durch einen kompletten Perspektivwechsel alte Kindheitstraumata überwinden kann. Die Autorin Rachel Elliott wurde 1972 im englischen Suffolk geboren und ist nicht nur Schriftstellerin sondern arbeitet auch als Psychotherapeutin. Ihre Protagonistin, Sydney Smith ist mittlerweile 47 Jahre, obwohl sie ihren Geburtstag über 30 Jahre lang nicht mehr gefeiert hat. Das hängt damit zusammen, dass sie es nicht erträgt, dass sie noch lebt, während ihre Mutter während eines Familienurlaubs dramatisch ums Leben kam. Sie fühlt sich bis heute schuldig. Auch ihre Beziehung zum Vater und den Brüdern ist daran zerbrochen.

Als sie nach 30 Jahren an den Strand von St. Ives im Süden Englands zurückkehrt, begegnen ihr eine Reihe skurriler Menschen, deren Leben um keinen Deut weniger chaotisch und belastet ist als ihr eigenes. Ausgerechnet der Ort, wo ihre Mutter starb, soll jetzt der Ort einer Neubesinnung und Veränderung werden. Sydney war schon immer ungestüm, und auch als Erwachsene läuft sie noch über Tisch und Bänke, besteigt Dächer und springt über Mauern, denn sie ist Freerunnerin aus Passion.

Ihr begegnen dabei ziemlich schräge Figuren, die alle ihr eigenes Los zu tragen haben. Da gibt es das unglücklich verheiratete Paar, den Buchhändler Dexter, der mit der Liebe durch ist und gerne Frauenkleider anzieht, die Zahntechnikerin Maria, die Muffins mit heilender Wirkung backt oder die Endzwanzigerin Belle, die völlig unentschlossen immer noch bei den Eltern wohnt, „Ich liebe Otter-T-Shirts“ trägt und das Hängebauchschwein des Nachbarn ausführt, sowie zwei Hunde und ein lesbisches Paar. Sie alle eint die Frage, wer eigentlich bestimmt, wann unser Leben einen Sinn hat.

Rachel Elliott verknüpft alle Personen, indem sie jeweils aus ihrer eigenen Perspektive berichten. Gemeinsam erkennen sie, dass man nur mit Hilfe von anderen, seinem Leben neuen Mut geben kann. In wunderbar leichter Sprache gelingt es der Autorin, schier unüberwindliche Sorgen und Probleme der einzelnen Figuren liebevoll miteinander zu verflechten und somit zu überwinden. Dabei verschmelzen ihre Erzählstränge geschickt zu einer anrührenden Gesamt-Story, die voller Humor und Lebensweisheit steckt. Fast schon philosophisch werden die verschiedensten Klippen des Lebens umschifft, auch wenn den Menschen die eigenen Macken fast schon unüberwindbar im Wege stehen.

Ein herzerwärmendes Buch ohne Kitschfaktor, das die Seele erreicht. Denn zum Weitermachen ist es nie zu spät, besonders wenn man liebenswerte Menschen trifft, deren Leben scheinbar genauso sinn- und nutzlos ist, wie man sein eigenes empfindet, aber gemeinsam alles schaffen kann. Das Leben lebt nämlich von Veränderung, Vergebung, Befreiung und den unendlich vielen Variationen der Liebe. Ein Buch wie eine Therapie - wunderbar.

Rachel Elliott: Bären füttern verboten, Mare-Verlag Hamburg , 2020, 336 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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