Schon wieder steht das Weihnachtsfest vor der Tür und die Frage nach dem besonderen Geschenke-Tipp im Raum. Als Freund des geschriebenen Wortes möchte ich deshalb dem geneigten Leser dieser Zeilen meine persönlichen Favoriten für den Gabentisch vorstellen.
Meine bunte Auswahl an Büchern, die sich um Freundschaft, Kindheitstraumata, Sexfilme in New York, Heimat oder einen Hundertjährigen drehen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Für jedes Alter, Genre und jeden Geschmack sollte etwas dabei sein.
Also los geht es mit einem Debütroman aus den USA, geschrieben von Mark Thompson (1958), ein ehemaliger Rock-Musiker, der lange Jahre in Spanien und den Vereinigten Staaten lebte, um sich dann mit seiner Familie im englischen York niederzulassen. Seine Geschichte einer Freundschaft spielt im Jahre 1968, als alles sich um Mondlandung, Woodstock, Vietnamkrieg und Rock´n´Roll drehte. J.J. und seiner bester Freund Tony „El Greco“ Papadakis durchleben einen heißen Sommer voller Abenteuer, postpubertärer Kindereien, ersten sexuellen Fantasien, aber auch dem Ernst des Lebens, der sich immer wieder in ihre Geschichte à la Tom Sawyer und Huckleberry Finn schleicht. Die beiden sind zehn und unzertrennlich. Ihr Revier ist der alte Hafen mit der leer stehenden Dosenfabrik. Sie träumen von der Zukunft, vom mächtigen pazifischen Ozean, dem nächsten Rolling-Stones-Album, vom Erwachsenwerden.
Aus Unachtsamkeit mit den heimlich gerauchten Zigaretten wird schon mal der Sportplatz abgefackelt, aber ansonsten verläuft ihr Leben relativ unaufgeregt. Wäre da nicht der fiese Bruder Cecil, genannt Adolf und der ehebrechende Vater von El Greco, Vater Papadakis. Als Gegenpole agieren die grundanständigen Eltern von J.J., die liebevolle Mutter Papadakis und der melancholisch-verschrobene Witwer Old Man Tayler, der auf seiner Veranda seines Hauses sitzt und den Jungs ein väterlicher Freund ist. Dieser Plot hat tatsächlich was von alten amerikanischen Kinderfilmen, an die man sich gerne zurückerinnert. Aber so ganz ohne Schrecken und Trauer verläuft auch die schönste Kindheit nicht. Geschickt lässt der Autor die aufsteigenden Schatten von Rassismus und Vietnamkrieg die scheinbar heile Welt der Kinder verdunkeln. Die wirklich große Probe des Lebens steht den Jungen noch bevor, darüber kann selbst ein wunderbarer Road-Trip durch das Land nicht hinwegtäuschen.
Mark Thompson gelingt nicht nur eine warmherzige, berührende, teilweise herzzerreißende Coming-of-Age- Geschichte, sondern beschreibt auch ein verstörendes Porträt einer geteilten Nation. Oder wie Old Man Taylor sagt: „Die Menschen sind hoffnungslose Träumer, die allerdings gar nicht anders konnten, weil sie sonst nicht mit dem Elend und den Enttäuschungen des Lebens fertig wurden.“ Dieses scheinbar altmodische Buch dürfte sowohl jüngeren Lesern als auch jung gebliebenen Erwachsenen gefallen.
Mark Thompson: El Greco und ich, Mare-Verlag Hamburg, August 2018, 224 Seiten, Amazon.
Mein zweiter Literatur-Tipp gilt Juli Zeh (1974 in Bonn), die bereits mit ihrem Debütroman (2001) „Adler und Engel“ einen Welterfolg vorlegte, seitdem mehrfach ausgezeichnet wurde und mit Literaturpreisen auch für ihre weiteren Romane gefeiert wird. Dabei sind ihre Arbeiten immer auf der Höhe der Zeit und präsentieren eine Schriftstellerin, die auch in politischen Fragen klar Stellung bezieht. So rechnete sie mit ihrem letzten Buch „Leere Herzen“ aus dem letzten Jahr vehement mit der AfD ab. In dieser teilweise zynischen Dystopie beackerte sie aktuelle politische Themen wie Fremdenhass, Terrorangst, das Erstarken nationalistischer Kräfte und den Syrien-Konflikt.
Daher kommt dieser schmale Band von gerade einmal 192 Seiten eher familiär daher. Es geht um die gut situierte Familie von Henning und Theresa und deren beiden Kinder, die einen eher ungeplanten Familien-Urlaub auf Lanzarote verbringen. Sie leben ein modernes Familienmodell, wo die Mutter hauptsächlich arbeitet, während Henning sich um Haushalt, Kinder, Erziehung und seine halbe Stelle als Lektor kümmert. Die scheinbare Idylle wird aber insgeheim überlagert von einer Ehekrise und einer permanenten Überforderung des Ehemannes, den seit der Geburt der jüngsten Tochter Angstzustände und Panikattacken plagen. Dieser Dämon, „Es“ genannt, überlagert auch diese Ferien und bricht total über Henning her, als er eine schwierige Radtour mit einem altmodischen Fahrrad und ohne den notwendigen Proviant rauf in die Berge macht. Völlig ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte erreicht er sein Ziel und ihm wird bewusst, dass er diesen Ort kennt.
Plötzlich erinnert er sich an seine eigene Kindheit, als er gemeinsam mit seinen Eltern, der alternativen Mutter und dem dauernd bekifften Vater, sowie seiner kleinen Schwester Luna in genau jenem Haus oben auf dem Berg gewesen ist. Die traumatischen Erlebnisse lassen den Roman kippen in einen spannungsvollen Thriller, der an Dramatik und Überraschungen kaum zu überbieten ist. Packend entwirft Juli Zeh das Bild einer vor Hitze brodelnden Lava-Landschaft voller aufgeheizter Stimmungen. Die Erbarmungslosigkeit der Natur spiegelt sich in der Verkettung von unglücklichen Umständen, die aus dem Ferienparadies die reine Hölle machen. Gleichzeitig ist die Insel der Vulkanausbrüche aber auch der symbolische Ort für den Neubeginn am Neujahrstag. Mit ihrer klaren, eindeutigen Sprache, die immer in der Gegenwart verankert ist, gelingt es der Autorin, eine Geschichte zu erfinden, deren Metaebene gehörig an die Nerven geht und an Spannung kaum zu übertreffen ist. Unbedingt lesenswert.
Juli Zeh: Neujahr, Luchterhand-Verlag, September 2018, 192 Seiten, Amazon.
Buchtipp Nummer drei stammt von Chris Kraus (1963 in Göttingen), einem vielfach ausgezeichneten Filmregisseur, der mit „Poll“ und „Die Blumen von Gestern“ erfolgreich in den Kinos war, aber auch als großartiger Romancier gilt. Der vorliegende Liebes- und Künstlerroman „Sommerfrauen, Winterfrauen“ spielt im Sommer 1996 in New York. Im Auftrag seines Professors von der Film-Hochschule „Lila von Dornbusch“, eine wunderbare Anspielung an Rosa von Praunheim, soll der Protagonist, der Filmstudent Jonas Rosen dort einen Sex-Film drehen. Aber New York zeigt sich zur damaligen Zeit von seiner harten, rauen, radikalen Seite. Und das, obwohl Jonas eher ein „Traumichnicht“ ist. „Auf keinen Fall mache ich einen Film über Nazischeiß. Ich mache einen über Sex.“
Dann wird der verklemmte Filmstudent ausgerechnet bei dem exzentrischen, schwulen Autor untergebracht, der irgendwo in der Vergangenheit zwischen Andy Warhol und Allen Ginsburg hängengeblieben ist und darüber hinaus wie ein Messie in einer völlig versifften Einzimmer-Wohnung haust. Gleichzeitig erwartet ihn in New York noch seine alte „Tante“ Paula Hertzlieb, die ihn in ein altes Familien-Geheimnis einweiht. Vor vielen Jahre hatte diese Paula seinen Vater gehütet. Heute lebt sie als Malerin und Holocaustüberlebende krebskrank in einem schicken Künstlerhaus.
Chris Kraus arbeitet hier teilweise autobiografische Geschehnisse seiner Familie auf, die einem förmlich die Kehle zuschnüren. Wie er im Nachwort schreibt, folgen die Vernehmungsprotokolle von Tante Paula authentischen Zeugenaussagen und -befragungen. Aber damit will ja unser Filmstudent absolut nichts zu tun haben. Stattdessen stürzt er sich in ein Liebeschaos. Während zu Hause seine Freundin Mah, die Winterfrau, auf ihn mit all ihren Eifersüchteleien und Ängsten wartet, verliebt er sich in New York in die extrovertierte und neurotische Nele vom Goethe-Institut, seiner Sommerfrau. Während Mah keine Kinder bekommen kann, wird Nele sofort schwanger. Dazu kommt das Chaos mit den Mitstudenten, dem verworren faszinierenden Umfeld seines durchgeknallten Wohnungsgebers, der auch noch scharf auf ihn ist. Und über allem droht die Nazi-Vergangenheit seines Großvaters, der erst Paula verführte und dann rettete, um sie zum Babysitter seines Vaters zu machen.
Es geht um Schuld und Sühne, aber auch um die Beat-Generation um Ginsburg und Burroughs. Dann wieder reitet Freundin Nele auf einem Polizei-Pferd besoffen durch den Central Park, während sich Jonas Gedanken über einen Sex-Film mit Ohren macht. Immer wieder durchbricht Chris Kraus die Dramatik und Ungeheuerlichkeit der Familiengeschichte mit leichtfüßigem Humor und brillanten Ideen aus dem Moloch New York. Dabei gelingt ihm ein perfekter Spagat zwischen ernsten und humorvollen Themen. Er findet die Komik in der Tragik, das Licht im Dunkel, die Poesie im Alltag, die Perlen im Dreck der Professorenwohnung. Eine schonungslose aber amüsante Abrechnung mit einer Zeit, als Alanis Morisette „Ironic“ im Radio schmetterte und Genderthemen noch mit leichter Hand geschrieben wurden. Ein absolute Leseempfehlung für alle Jahreszeiten.
Chris Kraus: Sommerfrauen, Winterfrauen, Diogenes Verlag, August 2018, 416 Seiten, Amazon.
Auf den nächsten Buch-Tipp haben Fans von Jonas Jonasson lange warten müssen. Sein Welt-Bestseller „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war 2011 eine literarische Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Alleine 4,4 Millionen verkaufte Exemplare in Deutschland, übersetzt und erschienen in 45 Ländern von Brasilien bis Korea und Russland, hervorragend verfilmt und mit diversen Literaturpreisen weltweit ausgezeichnet. Dieses absurd-komische Roadmovie war ein Riesenspaß und Schelmenroman erster Güte.
Normalerweise ist es äußerst schwierig, so einen Erfolg zu wiederholen. Dementsprechend hatte sich Jonasson zwischenzeitlich mit zwei anderen Stoffen („Die Analphabetin, die rechnen konnte“ und „Mörders Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind“) vergnügt, die es aber auch wieder auf die Bestseller-Listen schafften. Also war es an der Zeit, den 100-Jährigen aus seinem Urlaubsparadies Bali zu holen, wo er mit seinem Kumpel Julius die geklaute Kohle verjubelte und langsam anfing, sich in seinem Luxusparadies zu langweilen.
Mit „Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten“ hat der schwedische Autor, der auf Gotland lebt, jetzt einen absolut würdigen Nachfolger ins Rennen geschickt. Und wieder einmal ist die Geschichte rund um Allan Karlsson und seinen Freund Julius prall gefüllt mit Abenteuern, Verkettungen von Pech und Glück, abstrusen Situationen, Sex im Alter, realem Politik-Personal von Kim Jong-un über Donald Trump bis Angela Merkel und einer Situationskomik, die kaum zu übertreffen ist.
Zunächst schenkt Julius seinem Freund zum 101. Geburtstag einen Flug am Strand von Bali im Ballon, der sich allerdings ohne Pilot selbständig macht, um wenig später im Meer abzustürzen. Schiffbrüchig im Ozean treibend werden die Freunde ausgerechnet von einem nordkoreanischen Schiff, das noch eine geheime Fracht von 5 Kilogramm angereichertem Uran an Bord hat, gerettet. In Pjöngjang verhandelt der 101-Jährige als vermeintlicher Kernwaffenspezialist dann mit dem Diktator und berät ihn in Sachen Atombombenbau. Da aber die Weltsituation bei der Thematik gerade aktuell sehr brenzlig ist, schmuggeln sich die beiden Helden inklusive Uran-Aktentasche mit Hilfe der schwedischen Diplomatin und Außenministerin nach New York, um dann mit Donald Trump die Welt zu retten. Aber mit Donald Trump vernünftig zu sprechen und nebenbei auch noch Golf zu spielen, hat schon so manchem großen Politiker dieser Welt Probleme bereitet, ganz zu schweigen davon, dass dieser Polit-Trumpel ja überhaupt kein Interesse am Weltfrieden besitzt.
Also geht die heikle Mission weiter und führt unsere Helden aus den USA bis in den Kongo und schlussendlich zu Angela Merkel. Nebenbei wird der Spargelanbau von Schweden über Indonesien bis nach Kenia diskutiert und ausprobiert, Geistheiler und Schamanen in Afrika besucht und eine rechtsradikale Rocker-Truppe in Schweden auf Eis gelegt. Es kommt also wieder einiges zusammen, und mehr will ich von diesem wilden Lesevergnügen auch nicht verraten. Ich kann aber versprechen, dass man das Buch kaum noch aus der Hand legen kann, wenn man es erst einmal aufgeschlagen hat. Ich habe Tränen gelacht!!!
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten, C. Bertelsmann München, September 2018, 445 Seiten, Amazon.
Mein letzter Literatur-Tipp ist ein wahres Kleinod der Buchkunst, weder Comic noch Graphic Novel, auch kein Bildband oder reines Lesebuch, sondern ein wunderbar visuell und opulent gestaltetes Lesebuch für Erwachsene, in dem es um den aktuell schwer diskutierten Begriff Heimat geht. Gestaltet hat es die seit über zehn Jahren in New York lebende Illustratorin Nora Krug, die darin die Geschichte ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg recherchiert und nachgezeichnet hat. Mit Hilfe dieses klugen und wunderbar illustrierten Tagebuchs über Deutschland hat sie sich der Frage nach Schuld und Unschuld gestellt und versucht herauszufinden, wie das alles ihr Heimatgefühl geprägt hat.
Dieses Deutsche Familienalbum, wie die Autorin selbst ihr Buch nennt, beginnt mit einer Begegnung auf einer Dachterrasse in New York. Als die Erzählerin gefragt wird, woher sie komme, antwortet sie: „Aus Deutschland.“ Die alte Frau, die sie gefragt hatte, antwortet: „Das dachte ich mir“, und berichtet dann, dass sie vor langer Zeit auch schon einmal in Deutschland gewesen sei. Dann erzählt sie, wie sie das Konzentrationslager überlebt hat, weil sich eine Aufseherin wohl heimlich in sie verliebt hätte und diese sie dann sechzehn Mal im letzten Moment aus der Gaskammer geholt hatte. Beim Umblättern auf die nächste Seiten sieht man die Szenerie auf der Dachterrasse in blutrotes Licht getaucht und muss den Blick auf neun Fotografien von insgesamt neun KZ-Aufseherinnen ertragen.
Danach arbeitet sich die Autorin durch ihre Familiengeschichte. Mit Hilfe von Comic-haften Zeichnungen, alten Fotos, Collagen, alten Schulheften, einem Katalog deutscher Dinge von Hansaplast über den Wald bis hin zu Uhu, in Sütterlin geschriebenen Texten und Dokumenten aus deutschen Archiven kämpft sie sich auf der Suche nach dem Heimat-Begriff in die deutsche Geschichte hinab. Mit ihrem räumlichen Abstand zu ihrem Geburtsland Deutschland erlebt sie sich selbst in New York als jemand, dessen Befangenheit als Daheimgebliebene noch größer ist. „Wer im Ausland lebt, ist stärker mit seinem Deutschsein konfrontiert als jemand, der zu Hause bleibt.“ In den USA hat Nora Krug für die New York Times und andere Zeitungen gearbeitet. Sie hat Animationsfilme gemacht, Bücher illustriert und Bildergeschichten geschrieben. Dabei hat sie ihr Lebensthema, den Krieg, gefunden. So entstanden gezeichnete Geschichten, zum Beispiel über einen japanischen Soldaten, der auf den Philippinen kämpfte und sich dann vor den anrückenden amerikanischen Streitkräften 29 Jahre im Dschungel versteckte. Eine weitere Geschichte handelt von einem amerikanischen Soldaten, der in Südkorea stationiert war, versehentlich die nordkoreanische Grenze überquerte und danach gezwungen war, 39 Jahre in Nordkorea zu leben. Somit war der Schritt, sich mit der deutschen Kriegsgeschichte zu beschäftigen, nicht weit.
Also beginnt sie in ihrer eigenen Familie zu recherchieren, die weder eindeutige Kriegsverbrecher noch Opfer noch Widerstandskämpfer hervorgebracht hat, sondern eher Mitläufer. Immer tiefer dringt sie in ihre eigene Geschichte vor, die vielleicht auch unsere eigene sein könnte, selbst wenn wir als glückliche Spätgeborene kaum eigene Erfahrungen haben. Aber was ist mit unseren Vorfahren? Was hat das alles mit unserem Heimatgefühl zu tun? Nora Krug gelingt der wunderbare Kunstgriff, durch eine kluge autobiografische Spurensuche auf Text- und Bildebene einen differenzierten moralischen Kompass zu entwerfen, an dem sich der Leser letztendlich selbst messen kann – ein Familienalbum, das deutscher nicht sein könnte und irgendwo in uns selbst liegt.
Nora Krug: Heimat, Penguin Verlag München 2018, 288 Seiten, Amazon.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.