Weihnachten ist schon wieder lang vorbei und der Winter will kein Winter sein. Da draußen sieht es heute mal wieder wie April aus, obwohl eigentlich erst Anfang März ist und kalendarisch noch längst nicht Frühling sein soll. Mein Tipp: Bevor man Trübsal bläst und depressiv in das Taschenkino glotzt oder sein Geld wieder für Frustkäufe verschleudert, lieber stattdessen den gutsortierten Buchladen aufsuchen und das Geld für gute Literatur, anspruchsvolle Autobiografien oder Graphic Novels ausgeben.
Einer meiner momentanen Favoriten auf dem Buchmarkt ist der Roman Flammenwerfer von Rachel Kushner. Ein furioses Buch über die Siebziger, die Revolte, Kunst und freie Liebe. Die 1968 in Eugene, Oregon, geborene Schriftstellerin Kushner wird speziell in den USA dafür gefeiert und war damit ebenso wie mit ihrem Debutroman Telex to Cuba für den National Book Award nominiert.
Reno, die Ich-Erzählerin und Protagonistin des Flammenwerfers, taucht 1977 im New Yorker In-Viertel SoHo auf und versucht sich in der quirligen Szene aus Künstlern, Polit-Aktivisten und Selbstdarstellern zu etablieren. Eigentlich stammt sie aus einfachen Verhältnissen aus der Stadt in Nevada, deren Namen sie sich gegeben hat. Sie hat eine Leidenschaft für schnelle Motorräder und Skirennen und will sich als Konzept-Künstlerin durchsetzen. Sie gerät dabei mitten in die wilde, aufregende Szene zwischen Hedonismus und Revolte. Kushner erzählt das mit einem wunderbaren Flow wie in einem guten Film, stilsicher und zügig, gut recherchiert und niemals langweilig.
Es war aufregend im New York der Siebziger Jahre und Reno lässt sich mitreißen. Für sie ist das Leben wie ein Kunstwerk. So wie ihre Freundin Giddle das auch macht, die als Kellnerin in einem Diner arbeit und dies als Kunstprojekt betrachtet. Dazu sind die Mieten bezahlbar, die Architektur runtergekommen und die situationistischen Anarchokunstgruppen, wie die geschichtlich verbürgten Motherfuckers, ganz in ihrem Element: "Die Motherfuckers bekommen an der Freiheitsstatue keine Erektion zustande, kein einziger von ihnen. Zu kalt, es wird nichts mit der Penisparade vor New Yorker Touristen. Also pinkeln sie in den Schnee, genug Bier haben sie intus – Never Work." Oder sie verprügeln mal schnell die Stooges rund um Iggy Pop, weil die nicht tough genug seien! Denn tough sein ist angesagt, überlebenswichtig, für das Selbstbild wie für die Liebe.
Also beweist Reno, dass sie reichlich Toughness im Blut hat und brettert in der großen Salzwüste in Utah mit ihrem Motorrad bei einem Rennen mit, in dem ein neuer Landesgeschwindigkeitsrekord aufgestellt werden soll – auch so ein Kunstprojekt mit Film und Ästhetik. Und natürlich verliebt sie sich, diesmal in den Frauenheld Sandro Valero, den aus der Art geschlagenen Erben einer italienischen Motorraddynastie und natürlich Konzeptkünstler. Gemeinsam mit ihm fliegt sie nach überstandenem Utah-Abenteuer und durchsoffenen Abenden in SoHo nach Italien. Dort muss sich die herrlich dekadente Valera-Sippe gerade mit einem Streik in ihrer Firma und den schwer aktiven Roten Brigaden herumschlagen. Dann wird Sandros Bruder, der skrupellose Firmenboss auch noch entführt. Reno taumelt in die Welt des italienischen Geldadels, begegnet dem ebenso promisk wie radikal lebenden alten Bettgefährten von Liebhaber Sandro, dem undurchsichtigen Ronnie. Die Geschichte schlägt diverse Kapriolen zwischen Revoluzzertum, Machowelten und Kunstdramen. Flammenwerfer ist ein Zeitbild der wilden 70er, selbst wenn Kushner ihre beschriebene Generation zwischen Hedonismus und Aufstand nie so recht ernst zu nehmen scheint.
Die Autorin hat viel recherchiert und lässt diverse reale Begebenheiten und Personen auftreten, wie den Black-Out in New York von 1977 oder den am Rande vorkommenden Verleger-Revolutionär Feltrinelli, der 1972 beim Versuch umkam, einen Hochspannungsmast zu sprengen.
Gerade die Männer-Figuren erscheinen manchmal bemitleidenswert eitel und machomäßig oder misogyn, etwa der Liebhaber der garstigen Mutter der Valera-Sippschaft, während Reno einige Männer einfach nur als lächerliche Gestalten bezeichnet. Dabei ist sie es, die zwar Hauptperson des Romans ist, aber scheinbar nie im Mittelpunkt des Geschehens steht. Sie scheitert sowohl in der Kunst wie in der Liebe, Geschichte schreiben die Männer in dieser allumfassenden Chronik einer ganzen Generation. Ein wunderbarer Roman mit subversiver Attitüde und einem Flow, der förmlich nach einer Verfilmung schreit.
Rachel Kushner: Flammenwerfer, Rowohlt Verlag Hamburg, März 2015, 556 Seiten.
Tipp zwei meiner Bücherliste ist etwas für Literaturliebhaber und Reisefreunde, die auch mal in die Geschichte zurückschauen: Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean – Unterwegs in Indien, Asien und Amerika. "Die Stimme des Jahrhunderts", wie Jack London seinen Schriftstellerkollegen bezeichnete, ist vielen Lesern natürlich hauptsächlich durch sein Dschungelbuch bekannt. Der 1865 in Bombay geborene Autor arbeitete nach seinem Schulabschluss sieben Jahre als Journalist in Indien, wobei er das riesige Land ausgiebig erforschte. Seine Dschungelbücher sowie zahlreichen Romane, Erzählungen und Gedichte machten ihn zu einem der beliebtesten, aber auch umstrittensten Autoren des späten 19. Jahrhunderts. 1907 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann, hat jetzt der wunderbare Mare-Verlag ein edles, in Leinen-Einband und Papp-Schuber steckendes Buch produziert, was sowohl bibliophile Genießer wie Freunde der klassischen Literatur erfreuen dürfte. Trotz großer Bekanntheit und Nobelpreis sind Kiplings zwischen 1887 und 1898 entstandenen Reisebriefe aus Indien, Pakistan, China, Japan und den USA bis heute vielen kaum bekannt. Nun liegen sie erstmalig in deutscher Übersetzung vor und zeigen einen glänzend aufgelegten, selbstironischen Beobachter. Als Rudyard Kipling auf einer Reise sein Idol Mark Twain traf, gab dieser ihm einen Tipp: "Sammeln sie Ihre Fakten, um sie dann nach Lust und Laune zu verdrehen." Wieweit er diese Aufforderung beherzigt hat, lässt sich jetzt in den weitschweifigen Reisebriefen nachlesen.
Kipling kam 1882 mit 16 Jahren zurück aus England und ging nach Lahore im heutigen Pakistan. Dort heuerte er als Mädchen für alles bei der Civil & Military Gazette an. Es folgten erste Artikel und kleine Kurzgeschichten, und ab Mitte der 1880er Jahre durfte er für die Zeitung The Pioneer aus Allahabad den Subkontinent bereisen und lieferte dabei eine Serie von Reisereportagen. Es sind erstaunliche Berichte, die amüsieren und fesseln. Sie changieren zwischen schwelgerisch und bitter, zwischen Ironie und Romantik.
So beschreibt der Autor voller Inbrunst den Taj Mahal in Acra, lässt den Leser gemeinsam mit ihm durch versteckte Bordelle, Spiel- und Opiumhöhlen Kalkuttas schweifen und beschreibt das Elend rund um die Heuerbüros der Hafenstadt, wo die Gestrandeten aus allen Ländern der Erde zusammenkommen. Er zeigt sich fasziniert von diesen Orten, die ihm so weit weg von den verhassten und als oberflächlich empfundenen Kolonialstätten erscheinen. Gleichzeitig stoßen sie ihn aber auch ab, denn er sieht sich als Bewunderer asiatischer Kunst und Verächter der britischen Kolonialgesellschaft, der aber gleichsam Anhänger einer imperialistischen Grundidee ist, die davon ausgeht, dass Großbritanien in Asien die Zivilisation erst ermöglichen wird. Ein großer Romantiker mit imperalistischem Herz.
1888 beschließt Kipling, nach England zurückzukehren. Er verlässt Indien und seine Reiseroute führt ihn über China und Japan, von wo aus er ein Schiff nach San Francisco besteigt. Es folgt eine Durchquerung des amerikanischen Kontinents. Dabei entstehen Reiseberichte, die sich eindeutig von seinen asiatischen unterscheiden. War Kipling in Indien noch der Landeskenner, der sich mit Recht über naive Touristen mokierte, so schlüpft er nun in genau diese Rolle, allerdings mit wunderbar selbstironischen Brechungen. Er fühlt sich bei Essenszeremonien in Japan als Barbar, begeistert sich für die Schönheit des Yellowstone Nationalparks oder besucht als Tourist die Schlachthöfe von Chicago. Bei politischen Themen steht ihm wie schon in Indien seine eher elitäre, kolonialistische politische Haltung im Wege. So zeigt er sich naserümpfend, wenn es um die junge amerikanische Demokratie geht, in der Stimmenkäufe gang und gäbe sind, während in England das allgemeine Wahlrecht noch nicht mal durchgesetzt war. Oft offenbart sich Kipling als scharfzüngiger, ironischer Autor voll Witz und Herz, der mit spitzer Feder stets das Groteske, das Unerwartete beobachtet, genial beschreibt, aber auch hart urteilt, wobei er nicht einmal davor zurückschreckt, seine eigenen Vorurteile an den Pranger zu stellen. Ein insgesamt brillantes Buch, wobei man allerdings auch bemängeln kann, dass durch diverse Fußnoten, Quellenangaben, Querverweise und geschichtliche Hintergründe der Lesefluss mitunter stark unterbrochen wird und man manchmal den roten Faden verliert und halbe Seiten mehrfach lesen muss. Trotzdem, Kipling erinnert in seinen besten Momenten an sein großes Vorbild Mark Twain, was für den Lesegenuss ja nicht unbedingt abträglich sein sollte.
Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean, mare Verlag Hamburg, Oktober 2015, 800 Seiten, Leinenband mit zwei Lesebändchen im Schuber.
Tipp drei wendet sich an Freunde der Graphic Novels. Mit der von Russ Kick herausgegebenen The Graphic Canon liegt jetzt der zweite Teil der Weltliteratur als Graphic Novel vor. Dabei geht es in künstlerisch hervorragender Comic-Form quer durch das Jahrhundert der Träume, Ängste und Fantasien. In neuer, frischer Form wird ein atemberaubender Querschnitt durch die größten Werke der Weltliteratur versucht. Fast schon nebensächlich kann der begeisterte Leser mit diesem Streifzug durch die versammelte Literatur der letzten 100 Jahre sein Wissen über die klassische Bildung aufpeppen. Gleichzeitig geht es aber auch um die Entdeckung der wichtigsten und besten zeitgenössischen Kunst- und Comic-Zeichner. Dem Berliner Galiani Verlag ist es zu verdanken, dass diese Neuinterpretation klassischer Meisterwerke von Laurence Sterne, Edgar Allan Poe, Jane Austen bis zu Oscar Wilde, Johann Wolfgang von Goethe, E.T.A. Hoffmann oder Georg Büchner jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt.
Dabei ist der Canon nicht starr, sondern jede Länderausgabe kann nach Belieben Autoren und Comic-Künstler des jeweiligen Landes hinzufügen. So fehlen in der deutschen Ausgabe auch nicht Zeichner wie Rattelschneck, Flix, Kat Menschik, Martin Rowson, Alexandra Kardinar oder Volker Schlecht. Knapp und knackig werden aber nicht nur in bunten Bildern Klassiker der Weltliteratur aneinandergereiht, sondern der dicke Band beinhaltet die unterschiedlichsten Adaptionen namhafter Literatur in aufregender Art und Weise. Das kann in Form einer einzigen Illustration einer Schlüsselszene geschehen, wie bei Kat Menschiks Beitrag zu John Clares Der Käfer, oder in der völligen Aneignung der eigentlichen Geschichte wie bei Martin Rowsons Sterne-Adaption Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Daneben tummeln sich diverse Beispiele hervorragender Literatur wie Comic-Zeichner: Frankenstein, Oliver Twist oder Moby Dick, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist schwierig, einzelne Beiträge hervorzuheben. Durchweg ist die künstlerische Qualität der Grafiken ausgezeichnet, ja oft auf künstlerisch oberstem Niveau. Lustig, stilvoll, gruselig oder psychedelisch sind Attribute, die mir zu den verschiedenen Geschichten und deren Adaptionen einfallen. Ganz großes Kino sozusagen in vielen Bildern. Ein erlesener Genuss weit weg vom belanglosen Kinder-Comic, sondern ein Füllhorn an Comic-Kunst "at it's best". "Klassische Literatur ist eben aufregender, aktueller und subversiver, als viele glauben", wie Russ Kick selbstbewusst und mit Recht für sein ausgefallenes Buch proklamiert.
Russ Kick: The Graphic Canon Band 2, Galiani Verlag Berlin, 2015, 49,99 Euro.
Nächster Tipp ist einem Wiederholungstäter gewidmet: Joachim Meyerhoff. Nach Alle Toten fliegen hoch aus dem Jahre 2011 und Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2013) ist jetzt der dritte Band seiner autobiografischen Roman-Trilogie auf dem Markt und sofort mit Recht in die Bestsellerlisten gestürmt.
Meyerhoff, in Schleswig geboren und dort als Sohn des Leiters der Psychiatrie auf dem Gelände des Landeskrankenhauses aufgewachsen, ist hauptberuflich eigentlich Schauspieler und seit gut einem Jahrzehnt Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters.
Wieder erzählt er fulminant, voller Witz und Herzenswärme von sich und seiner schrägen Familie. Diesmal geht es um die Zeit seiner Ausbildung. Eigentlich will er Zivildienst machen, um schön im Mädchenwohnheim seinen sexuellen Fantasien freien Lauf lassen zu können, aber es kommt anders. Völlig überraschend wird er trotz ungenügender Vorbereitung beim Vorsprechen an der Schauspielschule Otto Falckenberg in München angenommen. Also zieht er aus dem Norden in den Süden, bequemerweise in ein freies Zimmer in der Villa seiner Großeltern, die unweit des Nymphenburger Schlosses im vornehmen Stadtteil Grünwald residieren. Alles in diesem großen Haus scheint irgendwie aus der Zeit gefallen: die Großmutter als alternde Diva und Ex-Schauspielerin, der Großvater ein Philosoph und Denker und das Mädchenzimmer, vollkommen in Rosatönen eingerichtet, das nur als Übergangslösung gedacht war. Aber der schlaksige, großgewachsene, dünne Meyerhoff wird es komischerweise die ganzen drei Jahre seiner Theaterausbildung in diesem Traum aus Rosé und Plüsch aushalten.
Die Ausbildung gleicht einer Dressur mit strengen oder durchgeknallten Lehrern, aber auch die Mitschüler und -schülerinnen sind oft sehr eigenartig. Meyerhoff sieht sich selbst als völlig unbegabt, meist überfordert, körperlich und seelisch schon nach kurzer Zeit völlig auf links gedreht. Das liest sich bei ihm wie gewohnt locker, leicht und immer mit einer Prise norddeutschem Humor, trocken bis derb, aber nie anmaßend oder beleidigend.
Der wirkliche Knaller sind aber seine Großeltern, die alt sind, aber voller Rituale und schräger Gewohnheiten stecken. Das fängt bei den morgendlichen Turnübungen seines Großvaters auf dem Balkon an und zieht sich durch den Tag, währenddessen ein ungezügelter Alkoholgenuss zelebriert wird. Der beginnt gleich nach dem Aufstehen mit einer hochprozentigen Gurgellösung, die beiden von einer ebenfalls hochbetagten Drogistin zusammengemischt wurde, was zu einer zweistimmigen Gurgel-Symphonie mit begleitender Gurgel-Choreografie führt, die natürlich nicht ausgespuckt, sondern geschluckt wird. Dieses Lebenselexier besteht hauptsächlich aus hochprozentigem Enzian, wie der Enkel bei einem Selbstversuch erkennt: "Das Enzianelexier schmeckte köstlich, jagte mir gleichzeitig heiß und kalt durch die Kehle und steckte mir sekundenlang wie ein gefrorenes Schwert im Rachen ... Zurück blieb ein Dreiklang: ein betäubtes Zahnfleisch- und Zungengefühl, ein von Winterluft durchgepusteter Schädel und sowohl in der Luft- wie in der Speiseröhre erstaunliche Frische."
Es folgt das Glas Champagner zum Frühstück, um die Lebensgeister zu wecken, zu den Speisen dann natürlich Weiß- und Rotwein und abends gemütlich Whiskey, weiterer Wein und als Absacker vor dem Schlafengehen ein Gläschen Cointreau. Trotz dieses täglichen Besäufnisses bleibt immer noch viel Platz für Witz und tiefschürfende Gespräche, mal intellektuell, oft philosophisch und liberal, aber auch in Erinnerungen schwelgend. Gewissenhaft werden unendliche Listen über alles Mögliche geführt, immer wieder alte Reiseerfahrungen und Reisebilder hervorgeholt. Seinen anrührenden Höhepunkt findet das tägliche Ritual der Großeltern, wenn sich die beiden Alten allabendlich auf dem Wohnzimmerfußboden auf eine Decke legen, sich an den Händen halten, um gemeinsam Musik zu hören. Nicht selten ist Meyerhoff Zeuge dieser fast magisch anmutenden Handlung, allerdings selbst meist schon ziemlich benebelt vom Alkoholexzess. Während die Großeltern das tägliche Besäufnis scheinbar unbeschadet überstehen, muss Meyerhoff des Öfteren völlig besoffen den Treppenlift benutzen, um es in sein rosafarbenes Zimmer zu schaffen.
Aber natürlich besteht das Leben nicht nur aus den Freuden des schrägen Alltags. Mit viel Empathie und Liebe lässt Meyerhoff den Leser auch am Sterben und Niedergang der Großeltern teilhaben. Der gesamte Roman ist in Episoden erzählt und offenbart jederzeit die unglaubliche Fabulierkunst und Beobachtungsgabe des Autors, die von Zärtlichkeit gegenüber den Großeltern geprägt ist wie vom Sinn für feine Ironie und Tragik. Alles in allem: ganz großes Theater und ein köstliches Lesevergnügen der schlaueren Art. Fazit: absolut lesenswert.
Joachim Meyerhoff: Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2015, 248 Seiten, 19,99 Euro.
Abschließend folgt noch eine weitere Autobiografie, diesmal vom Literaten unter den Medizinern, dem 2015 verstorbenem Professor für Neurologie und Psychiatrie Oliver Sacks: On the Move – Mein Leben
Geboren 1933 in London, ist Oliver Sacks hauptsächlich durch seine Fallstudien weltberühmt geworden, wie Awakenings – Zeit des Erwachens; Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte; Der Tag, an dem mein Bein fortging; Der einarmige Pianist und zuletzt Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Mehrere seiner Bücher wurden erfolgreich verfilmt, wie Zeit des Erwachens mit Robert de Niro und Robin Williams in den Hauptrollen.
Nach seiner Ausbildung und Studium in England ging Sacks in die USA, nach San Francisco in Kalifornien. Er verließ ein enges Großbritanien in der Nachkriegszeit, um 1960 in das anarchistische, von der Hippiezeit geprägte Kalifornien überzusiedeln, um schließlich im pulsierenden New York zu leben und seine beispiellose Karriere als weltweit angesehener Psychiater und Neurologe zu starten. Während man ihn als Leser seiner Fallgeschichten als mitfühlenden, emphathischen Kliniker kennt, der seine Patienten voller Begeisterung begleitet und erforscht, analysiert sich der feinsinnige und beobachtungsfreudige Autor in seiner Autobiografie selbst. Freimütig schildert er seine niemals richtig offen gelebte Homosexualität, berichtet über erfüllte und unerfüllte Liebe, seine Reisen nach Palästina, Amsterdam und Touren per Motorrad kreuz und quer durch die USA. Die Beziehungen zu seiner jüdischen Medizinerfamilie sind nie gänzlich ungetrübt, sprechen aber trotzdem von großer Nähe und Zuneigung. In den bunten Jahren in San Francisco verfällt er exzessivem Bodybuilding und latenter Drogensucht, genießt aber gleichzeitig die unbändigen Glücksgefühle auf seinen ausufernden Roadtrips durch die Weiten Nordamerikas. Er ist ewig „On the Move“, wie auch seine Autobiografie betitelt ist.
Daneben widmet er sich natürlich hauptsächlich seinen Patienten und der medizinischen Forschung, die ihn später auszeichnen. Er lernt dabei die unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen kennen, befasst sich mit Neuropsychologie und studiert das Gehirn der Menschen. In seiner Praxis begegnen ihm Postenzephalitiker, Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Alzheimer. Ihn interessieren Menschen mit Tourette-Syndrom, die zwangsweise Tics und Koprolalie entwickeln, bei der sie unflätiges und obzönes Gedankengut artikulieren und rausschreien. Auch Gehörlose und die Kultur der Gehörlosen wie die Gebärdensprache gehören mit zu seinen Forschungsgebieten. Sein Lebensmotto war, stets und ständig in Bewegung zu bleiben, sowohl geistig als auch räumlich. So zeigt sich die Lebensgeschichte von Oliver Sacks als ein faszinierendes Selbstzeugnis, geprägt von Neugier und Reflexion, intellektueller Auseinandersetzung mit sich selbst und Freunden und Kollegen aus Medizin und Kultur. Der Autor erweist sich als hervorragender Beobachter, außergewöhnlicher Mediziner und Menschenkenner. Seine außergewöhnliche Lebensbilanz ist gleichzeitig anspruchsvolle Literatur voller Wissen und Information auf den unterschiedlichsten Ebenen von Medizin und Psychologie als auch äußerst unterhaltsame Lektüre eines großartigen Erzählers. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York.
Oliver Sacks: On the Move – Mein Leben, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2015, 447 Seiten, 24,95 Euro.
Die Bücher sind u.a. in den inhabergeführten Lübecker Buchhandlungen Buchfink, Arno Adler, Langenkamp und maKULaTUR erhältlich.