Oscar Muñoz: Aliento, (c) Thierry Bal, Courtesy: INIVA

Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle ist eröffnet
Atmen

Ich war selber etwas außer Atem, als ich nach langer Parkplatzsuche leicht verspätet die Treppen hinauf zur neuen Kunsthalle rannte, um zur Pressekonferenz der gleichnamigen Ausstellung zu gelangen.

Dabei handelt es sich nach Angaben der beiden Kuratorinnen Brigitte Kölle und Sandra Pisot um die weltweit erste große Kunstschau, die sich dem Thema Atmen in der Kunst der Alten Meister und der Kunst der Gegenwart in den unterschiedlichsten Facetten und Ausdrucksformen widmet. Atmen ist ja eigentlich etwas ganz Natürliches und Unsichtbares, dabei atmen wir Menschen durchschnittlich 23.000 mal am Tag, erklärten die beiden Kunstvermittlerinnen. „Wir haben versucht, das Unsichtbare einzufangen“. Herausgekommen ist ein Epochen-übergreifender Dialog von mehr als 100 Werken von etwa 45 Künstler/innen in den verschiedensten Räumlichkeiten der Kunsthalle.

„Mehr als nur Luft“ steht an den Wänden der Kunsthalle und im Foyer tanzen zerbrechliche, vergängliche Seifenblasen von der Decke herab. Eine Installation der Mexikanerin Teresa Margolles. Die Ausstellung will die Vielfalt der Thematik, vom Atmen als biblischer Metapher über Luftverschmutzung, Atemwegserkrankungen und Corona, Rauchen und Marihuana bis hin zu Black Lives Matter (I can´t breathe) darstellen, sowohl in der aktuellen Gegenwartskunst, als auch schon bei den Alten Meistern. Genutzt wird dafür die Bandbreite der darstellenden Kunst von Malerei, Skulptur und Installation, Fotografie und Zeichnung bis hin zu Performance, Video-, Film- und Audioaufnahmen.

Hendrick van Someren: Der Raucher, Rijksmuseum AmsterdamHendrick van Someren: Der Raucher, Rijksmuseum AmsterdamRauchende Denker, flötende Knaben oder Muschelbläser waren schon bei den Alten Meistern wie Hendrick ter Brugghen oder Hendrick van Someren beliebt. Sie treffen in der Schau auf Fotografien von Natalie Czech, die Zigarettenkippen mit lustigen Markennamen abgelichtet hat. Daneben hat der deutsche Künstler Thomas Baldischwyler quasi eine Raucherecke eingerichtet. Er zeigt einen modifizierten Standaschenbecher der Deutschen Bundesbahn. Joachim Köster hat seine Drucke zum Thema Cannabis mit kleinen Skulpturen kombiniert. Gequalmt und gekifft wird in der Kunst bereits zu allen Zeiten.

Mitmach-Charakter hat die Arbeit von Oscar Munoz aus Kolumbien. Er bittet die Besucher, kleine, runde Spiegel anzuhauchen, damit kleine Bilder von Opfern politischer Gewalt in seinem Land sichtbar werden (Titelbild). Die Idee zur Ausstellung kam Brigitte Kölle in den ersten Monaten von Corona, als ihr die Bilder von Menschen an Beatmungsmaschinen nicht wieder aus dem Kopf gehen wollten. Gleichzeitig wurde ihr klar, was passiert, wenn einem die Luft zum Atmen genommen wird, wie bei der Tötung von George Floyd dramatisch erlebbar wurde. Jenny Holzer wird übrigens darauf eingehen, indem sie seinen letzten Satz, den er 27-mal wiederholte, bevor er starb: „I can´t breathe“ - Ich kann nicht atmen“ als Lichtprojektion draußen auf die Gebäude der Kunsthalle projizieren wird (am 19. November).

Jenny Holzer: In Memoriam, Foto: Foto: Filip Wolak, (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2022Jenny Holzer: In Memoriam, Foto: Foto: Filip Wolak, (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Im alten Gebäude, in einem kleinen Kabinett kann sich der Besucher eine besondere Klang-Installation anhören. Der Leipziger Künstler Sebastian Stumpf hat eine 18 Stunden und 32 Minuten lange Fahrradtour von seinem Atelier bis zum Hamburger Ausstellungsraum aufgenommen, sehr intim und sehr ernsthaft durchgezogen: Atmen, Räuspern, Schmatzen - mal nah, mal laut, mal ganz innig.

Es gibt viel zu entdecken in dieser Ausstellung über eine scheinbar so nebensächlichen Sache: von der großen wissenschaftlichen Video-Installation bis zu den Aufnahmen von Luftverschmutzung in indischen Großstädten, vom Klimawandel bis zu den die Menschheit bedrohenden Krankheiten. Mitunter heißt es einfach: Luftanhalten und durch damit.

Kasia Fudakowski: Filmszene aus Word Count 04 (The Martyrdom of Professor Sanchez) , Courtesy of the artist and ChertLüddeKasia Fudakowski: Filmszene aus Word Count 04 (The Martyrdom of Professor Sanchez) , Courtesy of the artist and ChertLüdde

Es ist ein reich bebilderter Katalog zur Schau für 32 Euro im Hatje Cantz Verlag erschienen, und im November gibt es im Rahmen von zwei Aktionswochenenden spezielle Führungen, Lesungen und Veranstaltungen mit Atemübungen und Therapie. Spannend.

Die Ausstellung in den Räumen der Hamburger Kunsthalle läuft bis zum 15. Januar 2023.
Weitere Infos unter www.hamburger-kunsthalle.de

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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