Christian Bolstanski: Reliquaire, les linges

Kunst in der Hansestadt Lübeck
Neue Ausstellungen im Herbst 2021

„Tausch als Prinzip“ heißt die neue Ausstellung der Overbeck-Gesellschaft in der Lübecker St.-Petri-Kirche.

Sie dreht sich um den tschechischen Avantgarde-Künstler und Außenseiter Miroslav Tichy, sowie um eine Reihe hochkarätiger Gegenwartskünstler/innen, die im Rahmen eines Tausch-Projektes eigene Werke gegen Kunst von Tichy getauscht hatten. Dieses von der Tichy Ocean Foundation ins Leben gerufene Projekt hat im Laufe der Jahre bereits 1400 Arbeiten von 150 Künstler/innen gesammelt. In der Petri-Kirche sind davon einige ausgestellt.

So sind neben den Fotoarbeiten von Tichy selbst u.a. Skulpturen, Installationen, Texte, Collagen und Groß-Fotos von Katharina Grosse (ein gespraytes Bodenobjekt), ein gruseliger Metall-Käfig mit Puscheltieren von Christian Boltanski, eine musikalische Komposition von Nick Cave, ein in Öl eingeweckter Teddybär im Glas oder ein wundersamer Wandteppich über den Tod des Marxismus und die Vereinigung der Frauen aller Länder von Goshka Macuga ausgestellt.

Miroslav Tichy ist 1926 in Nětčice in Mähren geboren und am 12. April 2011 in Kyjov in der Tschechei verstorben. Seine künstlerische Ausbildung erhielt er bis in die späten 40er Jahre an der Kunstakademie in Prag. Nach der Machtübernahme der Kommunisten veränderte sich sein Leben total. Mehrfach wurde er in die Psychiatrie eingewiesen oder saß auch schon einmal ein halbes Jahr im Knast (1970/71). Er wurde immer offensichtlicher ein Außenseiter, der mehr und mehr verwahrloste und dann sogar sein eigenes Studio und die Wohnung verlor.

Trotzdem gelang er mit seiner persönlichen Kunst zu einer gewissen Berühmtheit, die ihm später sogar internationale Ausstellungen in Zürich, Berlin, New York, Tokyo, Paris, London, Madrid, Peking und Wien einbrachten, obwohl er seiner eigenen Kunst und seinem Ruhm gegenüber eher ablehnend eingestellt war. Zunächst malte er, später war er hauptsächlich für seine Fotografien mit selbst gebastelten Kameras berühmt. Diese konstruierte er aus alten Brillengläsern oder geschliffenem Plexiglas, sowie Objektiven aus alten Klorollen, Konservendosen und Pappe. Zusammengehalten wurden diese Objekte mit Teer oder Kaugummi, und als Auslöser diente ein altes Gummiband.

Miroslav TichyMiroslav Tichy

Damit produzierte er unscharfe und verwaschene Fotos, die er selbst entwickelte. Er fotografierte hauptsächlich Mädchen und Frauen im Park, beim Sonnenbaden, auf der Straße oder auf dem Markt. Kritiker sahen darin exhibitionistische und voyeuristische Motive, andere werteten sie eher als Hommage an die weibliche Figur. Ihm selbst war das egal. Er hatte einen eher pragmatischen Umgang mit seinen Bildern, die in seinem feuchten Haus herumlagen, vergammelten oder zum Feuer anzünden von ihm verwendet wurden. Er liebte das Unperfekte seiner Kunst. Die selbst entwickelten Fotos hatten meist Bromflecken, Fingerabdrücke oder waren auch schon einmal von einer verklebten Fliege bedeckt. Danach verklebte er sie oft auf gefundenem Karton oder bemalte sie, um Besonderheiten hervorzuheben. So entstanden unzählige Unikate, die heute von Sammlern teuer bezahlt werden. Miroslav Tichy - ein schwieriger, aber einzigartiger Künstler der Avantgarde - sehenswert!

Die Ausstellung läuft noch bis zum 7. November bei freiem Eintritt in der Petrikirche Lübeck: Tausch als Prinzip - “Artist for Tichy – Tichy for Artist“

Ein weiterer Kunstabstecher lohnt den Gang rund ums Holstentor in die Räumlichkeiten der Defacto-Art-Kunsttankstelle. Dort sind als Sammel-Ausstellung unter dem Titel „Einblicke 2021“ aktuelle Arbeiten von Künstlern und Künstlerinnen der Kunsttankstelle Defacto Art e.V. zu sehen. So zeigt Gitesh Klatt seine Videos „Single Bench“ als Kommentar zur aktuellen Corona-Krise, sowie ein neues Licht-Objekt. Große, bunte Porträt-Malerei von Nicole Staden hängt neben den wunderbaren Ton-Objekten, die als gebrannte Figuren auf Büchern hockend als „Gregors Verwandlung“ oder als „Lesepause“ daher kommen.

Monika CalliesMonika Callies

Marie Eufe zeigt schöne Aquarelle, während Monica Callies den Besucher mit ihrem „Mutomat“ zum Mitmachen animiert. Man schüttelt einen Kasten, entnimmt einen Zettel und tritt in Aktion. Auf meiner Anweisung stand, dass ich „Mut zum untätigen Träumen haben sollte“ - wie schön und poetisch. Dazu zeigt sie aber auch noch weitere Bilder. Sehr schön und fast unwirklich sehen dagegen die Fotos nordischer Landschaften von Thomas Schmitt aus, wie zum Beispiel sein unheimlich leuchtender Turm.

Dazu lässt sich noch so einiges an Kreativität und Fantasie entdecken. Das Defacto und seine Kunsttankstelle ist also mal wieder einen Besuch wert: Einblicke 2021

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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