Ernst Wilhelm Nay, ,Der Engel‘ (Ausschnitt), 1944, Geschenk aus dem Nachlass von Carl Georg Heise

Lübeck sammelt, Teil I
„Die geheimen Bilder einer Stadt“

Wer in Lübeck eine kritische Masse an Liebhabern gut abgehangener Kultur vermutet, liegt richtig – und springt mit dieser Ahnung gleichzeitig zu kurz. Dass auch zeitgenössische Kunst einen weiten Freundeskreis hat, ist jetzt noch bis zum 21. Mai 2017 in der Ausstellung „Lübeck sammelt I. Von Max Beckmann bis Miroslavc Tichý“ zu studieren.

Die Schau ist das erste gemeinsame Projekt der Overbeck-Gesellschaft und der Kunsthalle St. Annen. Kurator ist Oliver Zybok, Direktor des Kunstvereins, der damit einen weiten Anlauf genommen hat, zeitgenössische Kunst in die Stadt hineinzutragen. Darüber hinaus ist ein neues Format entstanden, das die Ergebnisse privater Sammelleidenschaften mit musealer Arbeit liiert.

Raumnot macht erfinderisch. Der Pavillon der Overbeck-Gesellschaft ist wegen Sanierung bis ins Jubiläumsjahr 2018 hinein geschlossen, zeitgenössische Kunst findet dennoch statt – sogar offensiver und überraschender, scheint es. „Die geheimen Bilder einer Stadt“ nennen Hans Wißkirchen, Leitender Direktor der Lübecker Museen, und Oliver Zybok, Direktor der Overbeck-Gesellschaft, die Schau, für die in der Kunsthalle 137 Werke von 62 Künstlern zusammengetragen sind; das prozentuale Verhältnis privater Sammler zu Museumsbestand betrage etwa 60 zu 40, sagt Wißkirchen und spricht mit Blick auf die Depotbestände von der „Spitze des Eisbergs“.

Vladimir Houdek, ohne Titel, 2015, PrivatsammlungVladimir Houdek, ohne Titel, 2015, Privatsammlung

Die Entwicklung der Kunst nach 1945 ist Kern der Kunsthallen-Arbeit. Diese fügt sich nun an Zeitgenössisches, auch Experimentelles. Kurator Zybok ist in der Vorarbeit auf etliche „alte Bekannte“ getroffen: Werke, die schon in Ausstellungen der Overbeck-Gesellschaft zu sehen waren und dann von Kunstfreunden erworben wurden. Da ist zum Beispiel eine Arbeit ohne Titel von Vladimir Houdek, die im Sommer 2015 im Pavillon zur Ausstellung „Levitationen“ gehörte und von der Zybok zu berichten weiß, dass die vier und sechs Jahre alten Töchter des Sammlers das Werk nur unter Protest aus dem Haus gelassen haben – für Zybok ein Beweis dafür, dass Kunst mehr kann, als Köpfe von Erwachsenen zu erreichen.

Dass Multimediales fehlt, liegt in der Natur privaten Sammelns. Vornehmlich Flachware ist zu betrachten, an Künstler mit Geschichte − unter anderen Max Beckmann, Willi Baumeister, Hanna Jäger, Per Kirkeby, Markus Lüpertz, Ernst Wilhelm Nay, Emil Schumacher, Ulrich Rückriem, Günther Uecker – fügen sich Gegenwartskünstler wie Candida Höfer, Nschotschi Haslinger, Martin Neumaier, Thomas Ruff, Thomas Schütte, Thomas Struth und eben Houdek. Die Ausstellung zeige damit einen kunstgeschichtlichen Überblick über die vergangenen 70 Jahre, sagt Zybok, dem es gelungen ist, neben der historischen Weite der Vielfalt Geltung zu verschaffen. Neun Themenschwerpunkte hat er gesetzt, die sind im 196 Seiten starken Katalog (40 Euro, im Museumsshop 34 Euro) überschrieben mit „Das Dilemma des Gegenständlichen“, „Das Dilemma des Ungegenständlichen“, „Die Idee der ,reinen’ Form“, „Vergangenes wird neu kontextualisiert“, „Jenseits der Grenze. Künstler im Osten Deutschlands“, „Dokumente einer Zeit. Fotografen in der DDR“, „Die Düsseldorfer Fotoschule. Ein neuer Blick auf die Fotografie“, „Das Leben als Kunst und Kunst wie das Leben“ sowie „Parallele Welten“. In der Ausstellung verschwimmen die Abgrenzungen der Bereiche indessen – so, wie es der Kurator im Sinn hatte.

Der hat sich nun einen weiteren Raum erobert. Seit er vor gut zwei Jahren als erster hauptamtlicher Direktor in der Overbeck-Gesellschaft angetreten ist, sucht er nach Kooperationen – mit der Kulturkirche St. Petri zum Beispiel, mit der Musikhochschule, mit dem Behnhaus, dem Günter Grass-Haus, dem Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck ZKFL und nun auch mit der Kunsthalle St. Annen. Das ist mehrfach schlau, denn das erschließt neben neuen Besuchern (und Räumen) auch neue Formate.

BOliver Zybok, Foto (c) Karin LubowskiOliver Zybok, Foto (c) Karin Lubowskiesucherzahlen werden nicht genannt. So viel aber könne er sagen, sagt Zybock: „Sie sind spürbar gestiegen und wir sehen jetzt Gäste, die vorher nicht kamen.“ Den großen Gewinn bei Kooperationen sieht Zybok vor allem in der Chance, Neues zu generieren. Ein Format wie „Lübeck sammelt“ sei ja primär nicht die Aufgabe des Kunstvereins, sagt er, gleichwohl sei dies aber die Chance, Einblicke in Erwerb und Entwicklung zeitgenössischer Kunst in einer Stadt zu geben.

Die hat es meist nicht viel leichter, als es Neue Musik hat, da macht Zybok sich keine Illusionen. Aber er ist sicher, dass man Menschen neugierig auf das Unbekannte machen kann, und berichtet von spannenden und spannungsgeladenen Begegnungen von moderner Kunst und moderner Musik in seinen Ausstellungen. Dort werden seit geraumer Zeit auch Betrachter zu Schöpfern, bei denen der Laie die Lust auf Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst nicht unbedingt vermutet hätte: Mit dem Projekt „OverBlick“ peilt Zybock Workshop-Interessierte jeden Alters an, da wird es regelmäßig bunt und lebhaft, wenn beispielsweise Kinder und Jugendliche sich zur kostenlosen Teilnahme einfinden. Für Unbekanntes begeistert und sensibilisiert sollen aber auch die Älteren werden. Kunst müsse auch anecken und Kunst braucht ein tolerantes Publikum, sagt Zybok.

Respekt, dazu Vielfalt und Nachhaltigkeit sind Begriffe, mit denen Zybok seinen Kunst-Kosmos gefüllt wissen will, Nachhaltigkeit im Sinne von Geschichts- und Traditionsvermittlung. Wo wurzelt diese oder jene Kunstproduktion, was zitiert sie, was führt sie fort? Da steht im Jubiläumsjahr 1918 zum Beispiel Carl Georg Heise, der 1933 im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung entlassene Leiter der Overbeck-Gesellschaft und spätere Leiter der Hamburger Kunsthalle, im Fokus einer Vortragsreihe – auch diese in Kooperation mit den Lübecker Museen und dem Hamburger Warburg-Haus als Partner. Mit Heise, bzw. dem Gemälde „Der Engel“ von Ernst Wilhelm Nay (siehe Titelbild), einem Geschenk aus Heises Nachlass, schließt sich in der „Lübeck sammelt“-Schau ein städtischer Kultur-Kreis.

Und überhaupt Vermittlungsarbeit: Die beschreibt Zybok als eine zentrale Aufgabe der Overbeck-Gesellschaft. Und die wird, das ist gerade in trockene Tücher gewickelt, komplett von der Gemeinnützigen Sparkassenstiftung finanziert.

„Lübeck sammelt I“ – die römische Ziffer im Titel deutet an, dass dieses erste Projekt der Häuser auch über die Pavillon-Sanierung hinaus Folgen haben könnte. Sammler gebe es ausreichend, sagt Zybok. Bereitschaft in den Häusern auch.

Ausstellungsinfos: Lübeck sammelt I: Von Max Beckmann bis Miroslav Tichý

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