Die Cadela Força Trilogie - Teil 1, Foto: (c) Christophe Raynaud de Lage

Internationale Kulturfabrik Kampnagel
Abschlussbericht Sommerfestival auf Kampnagel 2023

Die Besucherzahlen und die ausverkauften Hallen sprechen eine deutliche Sprache: Avantgarde-Kunst aller Genres sind nach Zeiten von Corona wieder voll angesagt. Mit insgesamt 30.000 verkauften Tickets und weiteren 13.500 Besucher/innen für kostenlose Konzerte, Lesungen und Ausstellungen über die letzten drei Wochen war das diesjährige Sommerfestival ein voller Erfolg, wie Festivalleiter Andreas Siebold feststellen konnte.

Dabei gab es zum Abschluss neben einigen absoluten Highlights auch die eine oder andere leichte Enttäuschung. Als erstes möchte ich dabei die Albtraum-hafte Performance „Die Cadela Força Trilogie“ von der brasilianischen Radikal-Performerin Carolina Bianchi nennen. Was wie eine Art wissenschaftliche und dokumentarische Vortrags-Veranstaltung begann, entwickelte sich im Laufe des Abends zu einer erschreckenden Aufarbeitung einer zunehmend bedrohlichen Realität, nämlich der Gewalt gegen Frauen von der Vergewaltigung bis zum Femizid.

Die Cadela Força Trilogie - Teil 1, Foto: (c) Christophe Raynaud de LageDie Cadela Força Trilogie - Teil 1, Foto: (c) Christophe Raynaud de Lage

Zunächst erzählt Bianchi die schockierende Geschichte der italienischen Künstlerin Pippa Bacca, die in einer Langzeit-Performance gemeinsam mit ihrer Kollegin Silvia Moro im Zeichen von Frieden und Zusammenhalt per Autostop von Mailand über den Balkan, die Türkei bis nach Jerusalem reisen wollten. Bekleidet mit High Heels und Brautkleidern war die Performance als „Brides on Tour“ bereits über Sarajevo, Tuzla und Sofia gelangt, wie Fotos bei dem Bericht belegten. Die damals 33-Jährige kam bis in die Türkei, wo sie am Stadtrand von Istanbul vergewaltigt und ermordet wurde.

Langsam redet sich die mittlerweile in Amsterdam lebende Bianchi in Rage. Sie erzählt von den verschwundenen Frauen aus dem mexikanischen Grenzgebiet bei Ciudad Suarez, wie sie im Buch von Roberto Bolano (2666) beschrieben wurden. Dann bringt sie ihre eigene Persönlichkeit ins Spiel, indem sie bei laufender Show K.O.Pillen in einem Wodka zu sich nimmt. Diese verharmlosend „Boa Noite Cinderella“ (Gute Nacht Aschenputtel) genannten Vergewaltigung-Pillen sind in Brasilien, wie auch bei uns, häufig der Anfangspunkt von sexuellem Missbrauch bis zum Mord an Frauen. Nach und nach kippt ihr Vortrag weg, sie beginnt zu kichern, zu lallen, der Text wird unterbrochen von Rülpsern bis sie nach etwa einer Stunde einschläft.

Die Cadela Força Trilogie - Teil 1, Foto: (c) Christophe Raynaud de LageDie Cadela Força Trilogie - Teil 1, Foto: (c) Christophe Raynaud de Lage

Dann beginnt der Alptraum erneut. Die achtköpfige Gruppe Cara del Cavala übernimmt das Ruder, schiebt das Stück Richtung Tanz, Schauspiel, Film und dekliniert Momente rund um sexuelle Gewalt. Die leblose Performerin wird in den Kofferraum eines Autos verfrachtet, wo dann später ein tatsächlicher körperlicher Übergriff stattfindet. Das Publikum erstarrt in lautlosem Schock. Die Drastik ist kaum erträglich, das Unbehagen steigert sich in die Frage, ob man eingreifen muss, oder ist das alles nur Theater? Eine Grenzüberschreitung der ganz krassen theatralischen Art, die die meisten Besucher/innen sprachlos zurück ließ, auch wenn Bianchi am Ende etwas wackelig auf den Beinen wieder zum Leben erweckt wurde.

Um Vergewaltigung in jungen Jahren ging es auch in dem Theaterstück „Extra Life“ von Gisele Vienne, die mit ihrem Stück, gespielt von den berühmten französischen Schauspielern Adele Haenel, Katja Petrowick und Theo Livesey, ausloten wollte, welche schöpferische Kraft die moderne Kunstform Theater heute besitzt. Dass es dabei um das traumatische Wiedertreffen von zwei Geschwistern ging, geht im düsteren Bühnenbild in lauter Nebelschwaden und Laserstrahlen etwas unter.

Gisele Vienne: Extra Life, Foto: (c) Estelle HananiaGisele Vienne: Extra Life, Foto: (c) Estelle Hanania

Synthesizer-Getöse und virtuelle Räume aus Laserlicht sollten die Proustsche Monumentalität und die patriarchalische, gesellschaftspolitische Dimension des Stückes unterfüttern, sorgen aber meiner Meinung nach für viel Unklarheit. In Zeitlupentempo bewegen sich die Figuren über die düstere Bühne oder futtern im Auto Kartoffel-Chips. Das alles kommt sehr schwerfällig bis zur Langeweile in Gang, auch wenn es drastische Momente gibt, wie zum Beispiel eine bizarre Puppe, die durch eine Gruselmaske entstellt, auf einen Stuhl gesetzt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass es zwar Übertexte in deutsch gibt, aber das gesamte Stück auf französisch gespielt wird. Ein zwiespältiges Stück mit viel Düsternis, Langatmigkeit und etlichen Unklarheiten.

Dann folgte aber doch noch ein tänzerischer Höhepunkt des diesjährigen Festivals: Die kanadische Choreografin Azure Barton hatte nicht nur ihr 11-köpfiges wunderbares Tanz-Ensemble dabei, sondern brachte auch noch den Ausnahme-Trompeter Ambrose Akinmusire live mit auf die Bühne. So entstand ein hochklassiger Dialog zwischen zwei Kunstformen: dem Tanz und der Musik. Ausgehend von dumpfen, rhythmischen Klängen und klagenden Trompetentönen stürmten die 11 Tänzer und Tänzerinnen in schwarzen Klamotten mit Kapuzen-Hoodies auf den schlichten Tanzboden, der nur von einem Lichtbogen und einer riesigen Glaskugel geschmückt wurde. Etwas spooky wirkten die Figuren, die wie dunkle Mönche über den Boden glitten, rasante Läufe und Sprünge vollführten oder rituelle Formationen bildeten.

Foto: (c) Jojo Alsberry, Aszure Barton & ArtistsFoto: (c) Jojo Alsberry, Aszure Barton & ArtistsDie Mischung aus HipHop, modernem Tanz und Ballett wurde grandios untermalt von den durch viel Echo verstärkten Trompetenstössen des vielfach ausgezeichneten Trompeters und Komponisten Akinmusire, der stilsicher durch Jazz bis Techno führte. Nicht umsonst wird er als „one of the best musicians in jazz - or any other style of music“ bezeichnet. Dazu wirbelten die Tänzer und Tänzerinnen in Hochgeschwindigkeit über die Bühne oder entwickelten in wunderschönen Duetten Bilder voller Grazie und Eleganz. Vielerlei Bodenarbeit wechselte sich ab mit filigranen Hebefiguren und Gruppen-Konstellationen, die den Tänzer/innen alles abverlangte. Schweiss-treibende 75 Minuten moderner Tanz in Hochgeschwindigkeitsästhetik zusammen im Dialog mit treibender Trompeten-Musik zwischen Jazz und Ambient Synthesizer Musik auf absolutem Weltniveau - ganz große Klasse!!

Und natürlich wurde danach noch unter den bunten Lichtern im Avantgarden weiter gefeiert: die einen beim kühlen Drink, die anderen tänzelnd mit Kopfhörer bei der lautlosen Disco von LaLaLa.

Ein wunderbares Festival, das Vorfreude auf das nächste Jahr macht. „Wir sind im Glück über den Zuspruch und das breite Interesse der Menschen, sich auf neue, radikale und zukunftsorientierte Kunst einzulassen“, sagen Festivalleiter András Siebold und Kuratorin Corinna Hamuza: „Mit dieser Energie planen wir jetzt das nächste Festival-Feuerwerk für August 2024“.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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