„Die Stumme von Portici“, Daniel-François-Esprit Aubers Grand Opéra aus dem Jahre 1828, wird selten aufgeführt. Dennoch gilt sie als Muster ihres Genres, bietet viel: eine ungewöhnliche Besetzung, großen Pomp, bedeutsame Konflikte, vor allem aber eingängige Musik. Auch der historische Nebeneffekt, dass sie zwei Jahre später in Brüssel Belgiens Staatsgründung auslöste, konnte ihr nicht helfen.
Nach effektvollen Inszenierungen von Meyerbeers „Hugenotten“ (2016) und Rossinis „Tell“ (2017) wollte die Oper Kiel ihre Erfolge mit dem Genre wiederholen und überließ es der Argentinierin Valentina Carrasco, sich an dem Werk abzuarbeiten (Premiere: 27. April 2019). Und die dachte sich wohl, Brüssel, irgendwie Hauptstadt Europas geworden, mit Plastik-Lava zu überschütten, könne knistern, müsse Aufstand genug sein!
Denn „Die Stumme von Portici“ gilt als Revolutionsoper und ist unter diesem Aspekt in der laufenden Spielzeit die zweite Kieler Inszenierung mit Weltpolitik im Hintergrund. Im Herbst hatte Marco Tutinos „Falscher Verrat“ den Matrosenaufstand von 1918 zum Thema, der bekanntlich die Weimarer Republik gebar. Vielschichtiger ist es bei Aubers Bühnenwerk. Es ist, wohl eher zufällig und heute kaum vorstellbar, zum Initialfunken für das Entstehen Belgiens geworden. Das veränderte damals die politische Landkarte, begünstigt wohl einzig durch die brisante Gemengelage einer revolutionsüberhitzten Periode. Aubers Oper aber hatte noch andere Sprengkraft. Sie erzählt von einem Geschehen, bei dem sich eine Gesellschaft von fremder, knechtender Herrschaft befreit.
Vorbild dafür war der historische Masaniello (1620 – 1647), ein neapolitanischer Fischer. 1647 hatte er in Neapel einen Aufstand gegen die Spanier und deren Fiskalpolitik angezettelt, war für 10 Tage Tribun, bevor er ermordet wurde. Erfolgreich war der Aufstand dennoch: Wenige Monate später wurden die Spanier aus Neapel vertrieben. Fenella allerdings, die stumme Titelfigur bei Auber, hatten die Textdichter Eugène Scribe und Germain Delavigne frei erfunden. Sie wurde zur Schwester von Masaniello und diente der vielfädig geknüpften Liebesgeschichte, ohne die „Oper“ nicht sein kann. Eifersucht und Missverstehen, Verkennen und Intrige gehören dazu, motivieren eine bunte Handlung, die adliges Personal aus Spanien und Menschen aus dem Fischerdorf Portici zusammenführte. Und davon erzählt die Oper vorrangig.
Wohl eher zufällig ist, dass beide Opern, der „Falsche Verrat“ wie die „Die Stumme von Portici“, ein maritimes Milieu nutzen, reizvoll in einer Hafenstadt wie Kiel. Das Bühnenbild von Justin Arienti gewinnt daraus das bildkräftige Symbol des Netzes, fein gesponnen als Handwerkszeug der Fischer wie grobmaschig überhöht für die Seelenverstrickungen der Protagonisten. Zudem steht im Bühnenhintergrund mahnend der rostende Steven eines Wracks, der immer mal wieder beklettert wird, wenn die Handlung in den Niederungen des Bühnenbodens strandet. Das will auch Elena Cicorella mit ihren Kostümen vermeiden, indem sie die zwei rivalisierenden Gruppen farblich gegeneinander abhebt. Beige oder weiß sind die Spanier à la mode vor einhundert Jahren in feinen Stoff gehüllt und wohlbehütet, während derbes Kattun in Blau und Rot die Fischer in einer zeitlosen Manier schnieke, aber sauber und gesund charakterisieren.
Die Stumme sticht gleich mehrfach heraus. Sie steckt in einer Art grau-schwarzen Overall und hebt sich zudem durch ihre Hautfarbe heraus. Dayan Kodua verkörpert sie, in Ghana geboren, mit 10 Jahren nach Deutschland gekommen, in Kiel aufgewachsen. Ein Buch hat sie 2014 herausgegeben. Es trägt den Titel „My Black Skin – Schwarz. Erfolgreich. Deutsch.“ und enthält 25 Porträts von Afrodeutschen. Ein Glücksfall ist sie im Ensemble wegen ihrer spielerischen Intensität. Zugleich aber fordert diese Besetzung heraus, verhindert eine einfache Rollenidentifikation, zwingt, ihr Spiel mythisch zu überhöhen. Dabei helfen geisterhafte Wesen, die ein einfach nur reales Wahrnehmen verhindern. Das allerdings ist dem Libretto weitgehend fremd. Es setzt beim Sozialen an.
Die Regie musste also zaubern. Vor einem Jahr erst hatte die Argentinierin zwei Einakter Rachmaninows präsentiert und sie überzeugend weder lokal noch zeitlich verankert. Das gelang hier nicht. Mit einer überbordenden Fülle von Aktionen strudelt Valentina Carrasco stattdessen zu immer neuen Ansätzen. Da torkeln nett Betrunkene über die Bühne, wie in Watte verpackt wird Sexuelles oder anders Übergriffiges angedeutet. Hintergrundprojektionen (Frank Scheewe) beschwören schon zur Ouvertüre Natur durch Wellen an einem felsigen Strand, lassen die Stumme auf der Bühne über leblos auf dem Boden liegende Körper steigen. Sie ist auf der Suche nach einem Irgendwas, bei dem sie unmotiviert abbricht.
Im weiteren Verlauf sind es Bilder unterschiedlichster Zeiten, von leblos blickenden Kindern etwa aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, von Strandgut oder Marktwaren von heute, vom Tsunami in Japan oder von afrikanischen Aufständen, von martialischen Polizisten mit Schnellfeuergewehren, während die auf der Bühne keine Waffen tragen, die Aufständischen allenfalls Stöcke. Will all das zeitlose Gültigkeit suggerieren? Doch die verschwommene Realität der Bilder im Hintergrund oder die Ästhetik der Bühnenhandlung erlauben das nicht, weil das Revolutionäre in allzu weite Naturmetaphern gepackt wird. So verblasst selbst ein Zeitproblem wie das des Plastikmülls, wenn der aus dem Bühnenhimmel herabregnet und den Vesuvausbruch im Libretto ersetzt.
Geschickt werden die Tanzeinlagen eingepasst, ohne die es keine Grand Opéra wäre (Choreografie: Massimiliano Volpini). Locker und leicht bewältigt das Ballett seine Balz- oder Kampftänze. Schwerer fällt, die Massenszenen in ihrer Starre zu rechtfertigen, geschweige denn den banalen Auftritt des spanischen Adels- und Liebespaars Elvire und Alphonse vor schwarzem Vorhang und unter pendelnder Bürolampe. Die Grand Opéra gibt sich bieder, ertränkt den revolutionären Gestus in der Weinflasche.
Wie so oft rettet die musikalische Qualität den Abend. Hye Jung Lee als Elvire besitzt einen wunderbar warmen Sopran und meistert ihre Koloraturen mit großer Leichtigkeit und Intensität. Den Alphonse verkörpert César Cortés mit einem hellen, sehr wendigen Tenor. Dass seine Stimme nicht über schneidende Härte verfügt, unterstützt in diesem Fall den reuigen Charakter, der an seinen Verfehlungen verzweifelt. Einen ganz anderen Eindruck macht der Tenor von Maniello. Äußerst schlank und genau vermag Anton Rositskij ihn zu intonieren, bewundernswert selbst im Pianissimo in seinem Schlaflied für Fenella. Das war einer der ganz großen Momente an diesem Abend, wäre da nicht im Anschluss der Bravo-Brüller im Publikum, der die Stimmung jäh zerriss. Zwei der Revolutionäre seien noch genannt, bei denen tatsächlich mal etwas von aufmüpfiger Kraft und Wut aufleuchtete, bei Tomahiro Takada als Pietro und Matteo Maria Ferretti als Borella. Chor (einstudiert von Lam Tran Dinh) und Orchester leisteten ebenfalls Großes und wurden bis auf wenige Momente im revolutionären Gebrause sicher von Daniel Carlberg geführt.
Ein paar Bilder, etwa die Toten im hängenden Netz, bleiben in Erinnerung. Allzu viel versinkt in der sterilen Sinnlichkeit der Bühne. Und auch die Frage ist müßig, ob sich wiederholen könnte, was 1830 geschah, dass die Inszenierung Zuschauer hinreißt, dass sie im Anschluss das nur wenig entfernte Kieler Rathaus erstürmen, um dort gegen Plastikmüll, auch an ihrer Kieler Förde zu protestieren?