Foto: Anne van Aershot

Wiederaufführung von Anne Teresa De Keersmaekers Meisterwerk „Rain“ auf Kampnagel
Die Geometrie des Tanzes

Die Flämin Anne Teresa De Keersmaeker gilt als eine der international einflussreichsten Choreografinnen des modernen Gegenwartstanzes in unserer Zeit. Seit über 35 Jahren präsentiert die belgische Star-Choreografin mit ihrer Kompanie Rosas eine beeindruckende Reihe von tänzerischen Arbeiten. Laut De Keersmaeker handelt es sich bei ihren Choreografien um ein „Schreiben mit Bewegung in Zeit und Raum“.

In einer Wiedereinstudierung unter der Leitung der ehemaligen Rosas-Tänzerin Fumiyo Ikeda überzeugt das Stück „Rain“ aus dem Jahre 2001 mit wunderbaren jungen Tänzer/innen aus ihrer Tanz- und Trainingsschmiede „P.A.R.T.S.“ und einer scheinbaren Leichtigkeit trotz komplexester Strukturierung. In einem ausgeklügelten System aus Bewegung, Musik und Licht entwirft De Keersmaeker eines ihrer „Signature-Pieces“, das aus dem Wunsch entstand, sich dem reinen, puren Tanz zu widmen.

Foto: Anne van AershotFoto: Anne van Aershot

Ein durchlässiger, halbmondförmiger Vorhang aus von der Decke herabhängenden Seilen begrenzt das Bühnenbild und gibt den insgesamt sieben Tänzerinnen und drei Tänzern den Raum und auch die Richtung ihrer Bewegungen vor, der sie sich mal ergeben und mal widersetzen. Das Bewegungsrepertoire besteht aus Gehen, Laufen und Tanzen. Während sich die Tänzerinnen aus dem Ballett-Vokabular mit runden und weichen Formen bedienen, arbeiten die Männer der Kompanie mit verstärkter Bodenarbeit und athletischen Bewegungen. Die gesamte Choreografie besteht dabei aus komplexen, ineinander geschachtelten geometrischen Figuren, die Rechtecke und Spiralen nachzeichnen und von Geraden und Diagonalen durchzogen werden. Die Spirale als Urform des Lebens, siehe das Gehäuse der Nautilus-Muschel, dient dabei als Symbol allen Lebens und der Lebendigkeit von Bewegung und Dynamik.

Stark orientiert ist dieses tänzerische Meisterwerk an der minimalistischen Musik von Steve Reich. Mit seinem Werk „Music for 18 musicians“ schuf er ein Stück, dessen pulsierende Beats sich dem menschlichen Herzschlag annäherten. Er setzt gleichzeitig lange Töne ein, die zu einem ausgehauchten Ende führen und von der Atemlänge der Musiker/innen abhängen. Einer wiederkehrenden Ebbe und Flut gleichend, atmet Reichs Musik wellenartige Bewegungen ein und aus, die von den Tänzern in wiederkehrenden Bewegungsabläufen gespiegelt werden.

Foto: Anne van AerschotFoto: Anne van Aerschot

Rundläufe, Hebefiguren und Bodendrehungen atmen in sanften oder starken Bewegungen den Rhythmus der sinnlichen Musik. Scheinbar seitlich oder rückwärts gerichtete Stürze, die von den Tänzerinnen jeweils im letzten Moment abgefangen werden, variieren mit tatsächlichem Fallen auf den Boden. Hinzu kommen Variationen von Kontakt- und Impulsbewegungen, die verschiedene Tanzfiguren einleiten. In dynamischen Soli, gemeinsamen Wett- und Wegrennen und kollektiven Raumchoreografien kombiniert Anne Teresa De Keersmaeker komplexe geometrische Strukturen mit sinnlicher Leichtigkeit – und zeigt dabei alle Facetten ihres kreativen Könnens.

Unterstützt wird die Bilderflut der tänzerischen Bewegungen durch eine ausgefeilte Lichttechnik und wunderschöne, scheinbar schlichte Kostüme und Kleider der Tänzerinnen, die sie unmerklich während kleiner Soli-Pausen wechseln. Der wie Regen fließende Schnürenvorhang wird während der gesamten 70-minütigen Show nur zweimal von den Tänzer/innen berührt beziehungsweise durchbrochen, was jeweils einem Wechsel von Tanz und Musik entspricht. Nur ganz am Ende des Stückes bringt eine Tänzerin beim Abgang der Truppe den Vorhang in ein äußerst elegantes Schwingen. Die verebbende Musik von Reich wird gleichzeitig von den mittlerweile ziemlich erschöpften Tänzern durch langsam ausklingende Bewegungen sanft gespiegelt. 

Musik und Tanz lösen sich auf, nachdem der Rückzug der Bewegung wie das Nachklingen des Pulses wirkt. Trotz der äußerst energetischen, dynamischen Tanzvorführung, die die Tänzer und Tänzerinnen sichtbar ins Schwitzen und an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit treibt, überwiegt beim Betrachter die sinnliche Leichtigkeit. Aus strenger Ordnung und organisiertem Chaos wurde ein kreatives und berührendes Tanzstück, das wie ein leicht prickelnder, rosa beleuchteter Frühlingsregen daherkommt. Ein großartiger Tanzabend und zu Recht eines der Meisterwerke der modernen Tanzgeschichte.

Wer dieses wunderbare Stück Tanzgeschichte der Extraklasse verpasst hat, dem empfehle ich das neue Werk vom ebenfalls aus Belgien stammenden Choreografen Alain Platel: „Requiem Pour L“. Gemeinsam mit dem Musiker und Komponisten Fabrizio Cassol hat er Mozarts Requiem als Ausgangspunkt für seine neueste Kreation benutzt. Wie schon bei seinem 2015 auf Kampnagel gezeigten Stück „Coup Fatal“ werden wieder hauptsächlich Tänzer und Musiker aus dem Kongo und der arabischen Welt die klassische Vorlage nutzen, um mit den Mitteln der zeitgenössischen Tanzbewegung sowie Einflüssen aus lokalen Geschichten, Oper und Jazz einen filigranen furiosen Kampf des Abschieds entstehen zu lassen. Pflichttermin für Tanzbegeisterte. (Donnerstag, den 05.04.2018, bis Samstag, den 07.04.2018.)

'Requiem Pour L.', Foto: Chris van der Burght'Requiem Pour L.', Foto: Chris van der Burght

Als weiteres Highlight der hervorragenden kreativen Arbeiten auf Kampnagel möchte ich gleichzeitig auf das neue Stück von Thorsten Lensing aus Berlin verweisen. Der Theaterabend nach dem Roman des amerikanischen Kult-Schriftstellers David Foster Wallace: "Unendlicher Spaß" ist der Versuch, auf 1.500 Seiten die gegenwärtige Welt zu erzählen, ohne sie einer einheitlichen Bedeutung zu unterwerfen. Unter der Regie von Lensing agieren die bekannten Schauspieler/innen Devid Striesow, Ursina Lardi, Sebastian Blomberg, André Jung sowie Jasna Fritzi Bauer und Heiko Pinkowski. Wallace sagt dazu: „Witze sind die Flaschenpost, mit der die Verzweifelten ihre gellendsten Hilfeschreie aussenden“. Seine tragischen wie komischen Figuren werden „gepanikt“ von Sorgen und erzählen von ihrem Leben mit übertriebenem Speichelfluss, bildschönen Krankenschwestern und Vögeln, die mitten im Flug einen Herzinfarkt erleiden. (Mittwoch, den 21.03.2018 bis Sonntag, den 25,03.2018m jeweils 19.30 Uhr.

'Unendlicher Spaß', Foto: David Baltzer Agentur Zenit 'Unendlicher Spaß', Foto: David Baltzer Agentur Zenit

Weitere Infos zum Kampnagel-Programm und Tickets unter Tel.: 040/27094949 oder online: www.kampnagel.de

Amüsantes und anspruchsvolles Vergnügen wünscht Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.