Documenta-Leiter Adam Szymczyk

Grenzen überschreiten und Humanismus stärken
Documenta 14 Athen/Kassel

Politisch wie selten gibt sich die 14. Ausgabe der weltweit wichtigsten Ausstellung von Gegenwartskunst derzeit in Athen und Kassel. Schon die Eröffnung der riesigen Kunstschau mit über 160 Künstlern aus aller Welt war ein starkes Statement von Documenta-Leiter Adam Szymczyk.

Bereits im April startete das Kunstereignis des Jahres im hoch verschuldeten Griechenland. „Von Athen lernen“, so das provokative Motto, welches das Kuratoren-Team für die „zweiortige, weltnationale“ Veranstaltung reklamierte. Viele Kasselaner sahen schon das Ende der einmaligen Documenta in ihrer Stadt gekommen. Dann stieg sogar Rauch auf über dem Zwehrenturm des Fridericianum, dem traditionellen Standort des alle fünf Jahre stattfindenden Kunstevents. Einige informierten voller Angst die Feuerwehr. Aber es war nur eine Kunstinstallation des deutschen Künstlers Daniel Knorr, der ein Rauchzeichen setzen wollte. In Athen hatte er zuvor mit Helfern säckeweise Alltagsmüll und Trash auf ehemaligen Plätzen und Flüchtlingsunterkünften gesammelt, um daraus Kunstbücher zu gestalten. Überhaupt spielt die Situation von Flüchtlingen, Migration und Grenzen zu überschreiten in Zeiten von wachsenden Abgrenzungen und egozentrischen nationalen Bestrebungen eine wichtige Rolle in vielen Arbeiten der Künstler. Neoliberalismus, Kapitalismus, Ausgrenzung wegen Hierarchisierung durch Gender, Geschlecht, Herkunft, Be- und Enthinderung und gesellschaftlicher Klasse soll mit Hilfe von Kunst begegnet werden.

Neuer Schriftzug am FridericianumNeuer Schriftzug am Fridericianum

Wichtigster Blickfang und starkes Zeichen dafür ist die Arbeit der argentinischen Pop-Art-Diva Marta Minujin. Sie hat mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum (mit neuem Schriftzug), wo die Nazis Bücher verbrennen ließen, ihren Parthenon der verbotenen Bücher errichten lassen. In Anlehnung und Originalgröße an das griechische Pendant von der Akropolis in Athen sollen es 100.000 Bücher werden, die irgendwo auf der Welt verboten sind oder waren und von Besuchern gespendet wurden. Am Ende der Documenta sollen sich Bürger und soziale Organisationen der Stadt die Bücher einfach nehmen und sie somit weiterlesen. Darunter finden sich viele bekannte Autorennamen wie Thomas Mann, Franz Kafka, aber überraschenderweise auch „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ oder „Harry Potter“, die teilweise in den USA verboten waren.

Gleich nebenan auf dem Friedrichsplatz steht eine äußerst ästhetische, aber auch erschreckende Installation des irakischen Künstlers Hiwa K, bewohnbare Abwasserrohre, die von Kunststudenten aus Kassel gemeinsam mit dem Künstler mit Möbeln, Teppichen, sanitären Einrichtungen etc. zum Wohnen ausgestattet wurden. Tatsächlich hat Hiwa K nach seiner Flucht aus den Kurdengebieten vor dem IS in Griechenland mehrere Monate derart leben müssen, bevor ihm die Weiterreise nach Europa möglich wurde.

Abwasserröhren als Flüchtlingscamp vom Iraker Hiwa KAbwasserröhren als Flüchtlingscamp vom Iraker Hiwa K

Ein weiterer Coup gelang den Machern der Documenta in Athen, wo das fertige Museum für Gegenwartskunst, das EMST, das jahrelang wegen Geldmangel nicht eröffnet werden konnte, zum Hauptstandort der dortigen Schau gemacht wurde. Gleichzeitig wurde die umfangreiche und wunderbare Sammlung des EMST mit diversen großartigen Arbeiten griechischer Künstler (Jannis Kounellis, Eirene Efstathiou, Vlassis Caniaris) und internationaler Kunststars (Bill Viola, Kendell Geers oder Hans Haacke) in das Fridericianum verfrachtet. Eins der Highlights der Documenta 14.

Darüber hinaus findet die Kasseler Schau an über 36 Standorten über die ganze Stadt verteilt statt. Wichtiger Standort ist die Nordstadt, ein armes Multikultiviertel, wo Studenten und Menschen mit Migrationshintergrund den Ton angeben, mit der „Neuen Galerie“ in einem alten Postgebäude, die Gottschalkhalle, das Gießhaus, der Raum für Urbane Experimente (eine Straßenunterführung mit Streetart unter dem Holländischen Platz) und die Glaspavillons an der Kurt-Schumacher-Straße, die den runtergekommenen Stadtteil von der schicken City abtrennt.

Rentierschädel-Vorhang von Maret Anne Sara - Samii-Künstlerin aus NorwegenRentierschädel-Vorhang von Maret Anne Sara - Samii-Künstlerin aus Norwegen

Im alten Postgebäude gibt es viel Sehenswertes von sogenannten indigenen Künstlern. Zum Beispiel den Vorhang aus Rentier-Schädeln der norwegischen Künstlerin Maret Anne Sara, selbst Sami (Lappin) aus dem hohen Norden des Landes. Sie macht damit ein kaum bekanntes Massaker an den Rentieren publik, das der norwegische Staat vor Jahren aus angeblichen Umweltschutzgründen vornahm, gleichzeitig vielen Sami damit aber die Lebensgrundlage entzog. Aus Australien stammt Gordon Hookey, der auf seinem monumentalem Gemälde die Geschichte der Eroberung Australiens aus Sicht der Aborigines erzählt, fern von traditioneller Exotik und Kolonialgeschichte. Im brutal anmutenden Betonklotz mit Innenhof aus den siebziger Jahren, der teilweise leer stand, zeigen insgesamt 17 Künstler aus 13 Ländern ihre Werke. Darunter die Palästinenserin Ahlam Shibli mit ihrer „Heimat-Serie“. Sie ist dafür eine Weile nach Kassel gezogen, um das Leben zweier Immigrantengruppen zu studieren, die nach dem zweiten Weltkrieg in die Stadt kamen: Heimatvertriebene aus dem Osten und Gastarbeiter aus Südeuropa und Nordafrika.

In der traditionellen Documenta-Halle beeindrucken die Zwitterwesen-Ritualmasken von Nachfahren der kanadischen Ureinwohner, die der Häuptling und Meisterschnitzer Beau Dick geschaffen hat. Der kürzlich verstorbene Vorkämpfer für die Rechte indigener Völker beschwört damit die Geister der Kwakwaka'wakw. Daneben lässt sich die Schweizer Malerin Miriam Cahn (wieder-)entdecken, die in ihrer Gemälde-Serie „Könnt ich sein“ nackte Flüchtlinge zeigt und auf Augenhöhe mit den Porträts Ängste, Stolz, Gewalt und Widerstand darstellt – großartig. In der Haupthalle kann man Musik aus Schiffswracks ehemaliger Flüchtlingsboote (Guillermo Galindo) lauschen, eine Installation zur Herstellung von Indigofarbe (Aboubakar Fofana aus Mali) erforschen oder wunderbare Malerei von El Hadji Sy aus Dakar entdecken. Dazu gibt es Performances von Prince Gholam, Pope L. oder Maria Cool Fabio Balducci. In einer vielfältigen Installation wird außerdem der afrikanische Musiker Ali Fati Toure gefeiert.

Originalnachbau einer Münzprägemaschine (Mill of blood) aus Bolivien: Antonio Vega Macotela (Mexico)Originalnachbau einer Münzprägemaschine (Mill of blood) aus Bolivien: Antonio Vega Macotela (Mexico)

Weiter geht der Kunstspaziergang in die Karlsaue zur Orangerie, wo der deutsche Filmmacher Romuard Karmakar einen meditativen Film mit Musikaufnahmen gregorianischer Gesänge mit dem Namen „Byzantion und Die Entstehung des Westens“ zeigt. Auf dem Rasen davor steht mit Antonio Vega Macotelas „Mill of Blood“ eine voll funktionstüchtige Rekonstruktion einer Münzprägemaschine, die von spanischen Kolonialisten in Peru und anderen südamerikanischen Ländern eingesetzt wurde und von indigenen und afrikanischen Sklaven betrieben wurde, um das Silber auszubeuten.

Weitere wichtige Standorte sind das nagelneue Museum „Grimmwelt“ (2016), das wunderbare Todes-Museum, das „Museum für Sepulkralkultur“, sowie die nach jahrelanger Renovierung wiedereröffneten Häuser „Hessisches Landesmuseum“ und „Stadtmuseum Kassel“. Jenseits aller Ethno-Folkore hat daneben der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama die Torwache mit Jutesäcken, ehemaligen Kakao-Säcken verhüllt, um auf Ausbeutung und Sklaverei hinzuweisen. In Athen hatte er vorher den Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament von Freiwilligen auslegen lassen, um ausbeuterische Produktionsverhältnisse auch dort anzuprangern.

Nicht verpassen sollte man die Neue Galerie und den historischen Palais Bellevue oberhalb der Karlsauen, wo sich viele Künstler an den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Themen der Documenta abarbeiten. Eigentlich sollte dort die Sammlung mit Raubkunst des Kunstsammlers Gurlitt gezeigt werden, was aus rechtlichen Gründen nicht möglich war. Jetzt arbeitet sich Maria Eichhorn mit einer vielschichtigen Installationsarbeit und Konzeptkunst an geraubter Literatur von Juden und dem „Projekt Rose Valland“ ab.

Transkünstler/in Ashley Hans Scheirl (Österreich, rechts) - von der Frau zum Mann und zurück zur FrauTranskünstler/in Ashley Hans Scheirl (Österreich, rechts) - von der Frau zum Mann und zurück zur FrauGerhard Richter zeigt ein Porträt des Documenta-Gründers Arnold Bode und Annie Sprinkle (USA), die Sexpertin erklärt ihre Sicht auf Sex, Erotik und „Love to Earth“. Überhaupt sieht man viel Gender-Art. Es geht um Transsexualität, wie zum Beispiel in der lustigen Video-Malerei-Installation von Ashley Hans Scheirl aus Österreich, die erst Frau, dann Mann und jetzt wieder Frau sein möchte. Nichts bleibt wie es ist, Veränderung und Transformation allerorten, genau wie Documenta-Leiter Adam Szymczyk und sein vielköpfiges Kuratoren-Team, in dem mit Hendrik Folkerts vom Stedelijk Museum Amsterdam selbst ein Transsexueller sitzt, es geplant haben. Unterdrückung, Identität, Vielfalt und Selbstbestimmung bestimmen viele künstlerische Arbeiten, die sich vor allem gegen die dominante Gleichschaltung des Neoliberalismus wehren.

Der ewige Eurozentrismus der Gegenwartskunst bekommt mit der wunderbaren Auswahl von Künstlern vor allem aus Asien, Afrika und Lateinamerika, die meisten davon sogenannte „No-Names“ der Kunst aus westlicher Sicht, ordentlich einen mit. Mit Internationalität soll die Welt widergespiegelt werden, was auch gelingt. Genauso die hehren Ziele: Alte Denkmuster verlernen! Über Grenzen hinaus denken! Den fast schon in Vergessenheit geratenen Begriff des Humanismus neu beleben! All das will und schafft die 14. Documenta, die sehr unaufgeregt, aber politisch sehr aufgeladen daherkommt. Natürlich wissen die Macher, dass Kunst keine Lösungen anbieten kann, aber sie kann die Probleme analysieren. So erlebt man die sehr sehenswerte Documenta 14 als eine Schau kreativen Schaffens aus allen Ecken dieser Welt, die aufzeigt, dass Unsicherheit die neue Sicherheit ist, um die Welt zu verstehen.


Fotos: (c) Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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