Buchhandlung maKULaTUR, Foto (c): Wasfehlt.Lübeck

Wasfehlt.Lübeck
Geschlossene Gesellschaft und öffentlicher Raum

Was für Zeiten wie diese. Sagen Sie mal. Geschlossene Gesellschaft. Perspektiven fallen aus, Existenzen bröckeln, die Motivation ist welk. Kultur und Soziales, sie warten, wie die ganze Gesellschaft, auf Erlösung. Die Stille ist laut, die Stimmen sind zu leise.

Ein existenziell ungewisser Zustand, den das Team vom Projekt Wasfehlt.Lübeck (WfL) mit einer bemerkenswert differenzierten, dreilagigen Video-Produktion dokumentiert und dabei unversehens Zeitgeschichte sicherstellt. Anders als die permanente mediale Überflutung mit Zahlen, Fakten und statistischen Klumpen, verleiht das Projekt dem Substanziellen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfassung ein Gesicht. Mehrere, um genau zu sein.

Projekt und Projektionen

„Uns ging es vor allem um die Frage: Was fehlt dem/der Einzelnen, wodurch fehlt der/die Einzelne anderen?“, resümiert Koordinatorin Andrea Bohacz (Szenografin, Produzentin für Ausstellungen, Events, Bühne) das Wesentliche der „visuellen Intervention im öffentlichen Raum“. Im letzten Quartal '20 konnte sie das Projekt im Team mit Regisseur Stefan Prehn, Christoffer Greiß (Kamera) und Grafikdesignerin Barbara Duraj beginnen: „In zwei Stunden haben wir das komplette Konzept für Wasfehlt.Lübeck ausgebrütet. Wir waren so ausgehungert nach kreativer Arbeit, dass es regelrecht aus uns heraussprudelte.“ Genauer: Die Produktion und Aufführung von dokumentarischen, künstlerisch ambitionierten Videoporträts von Menschen, die den Stillstand von Kultur und sozialer Arbeit als direkt Betroffene widerspiegeln.

Z. B. Stefan Kuchel, Saxofonist mit Renommée und Professur an der hiesigen Musikhochschule. Er spielt Charlie Parkers „Now's The Time“ vor dem geschlossenen Jazzclub Live CV, im Haus des CVJM. Während Parkers unsterbliche Komposition und Kuchels Ton deutlich präsent sind in der Großen Petersgrube, ist der Interpret es nicht. Er ist gar nicht anwesend. Was wir sehen, ist eine Projektion Kuchels, lebensgroß, punktgenau und deckungsgleich per Beamer an die gleiche Stelle der gleichen Wand geworfen, an der er wenige Wochen zuvor bei Tageslicht gefilmt wurde. Eine 2-dimensionale Figur, instabil in ihrer Präsenz, die, transparent und vom Mauerwerk durchwirkt, abbildet, was kultureller Stillstand für eine urbane demokratische Gesellschaft bedeutet: Den Verlust einer kompletten Dimension. Dasein und Nichtsein. Ein surrealistisches Szenario, das den Blick auf die Verhältnisse schärft.

Bei einer sozialen Anlaufstelle wie dem Kinderschutz-Zentrum an der Untertrave wäre diese Art der Darstellung kontraindiziert. Hier ist das Dilemma unmittelbar, die filmische Umsetzung bewusst schlicht gehalten: Zugewanderte Frauen, die im Hausprojekt „Mama lernt Deutsch“ ebendies zurzeit nicht können, sprechen in ihren Muttersprachen (deutsch untertitelt) von Einsamkeit, Entwurzelung und Verunsicherung. Die Aussagen sind kurz und genau, ihre Schwere, Verunsicherung und Hoffnungen erreichen den Zuschauenden schnell und vollständig. In der durchscheinenden Physis der Frauen sieht man die Tür des Zentrums, verschlossen, wo sich früher die Klinke in die Hand gegeben wurde. Ein kurzer Film über das Nirgendwo.

Kino KoKi, Foto (c): Wasfehlt.LübeckKino KoKi, Foto (c): Wasfehlt.Lübeck

Bei Schnitt und Überblendungen etwas aufwendiger ist das Video mit dem WfL-Kooperationspartner KoKi in der Mengstraße gelungen. Zwei männliche Leitungskräfte des Lichtspielhauses auf einer Bank davor, während lichtdurchlässige Menschen aus einer anderen Zeit das Kino verlassen wie Erinnerungen daran. Lakonischer Austausch der beiden Männer über die Nordischen Filmtage und andere Zukünfte zwischen Schlucken Bier und impressionistischen Sprechpausen. Aki Kaurismäki lässt grüßen.

Die Leute vom Herzenswärme-Bus geben Einblick ins obdachlose Dasein. Pastor Bernd Schwarze spricht über St. Petri im Fast-Ausstand, die Skater im Skaterpark an der Kanalstraße über einen vorläufigen Verlust ihres sozialen Mittelpunkts. Die Karibik-Bar La Havana in der Fischergrube mit Salsa-Tänzer*innen, Kuba-Flagge und Opel Rekord aus den '70ern. Am Haus der Kulturen am Dom geht es um Lübecks Internationalität. Gabriele Pott spielt Beethoven im Kunst-am-Kai-Schuppen auf der Nördlichen Wallhalbinsel. Vor der Buchhandlung maKULaTUR in der Hüxstraße wird vorgelesen und Stellung genommen. Eine unwillkommene innere Ruhe bei Zen Dojo im Pergamentmachergang. Perkussions-Performance an der Musikhochschule. Die Stadt in anderem Licht.

Herzenswärme, Foto (c): Wasfehlt.LübeckHerzenswärme, Foto (c): Wasfehlt.Lübeck

Das Team arbeitet flüssig, Hand in Hand, erfreut sich daran, die gemeinsame Sache zu erzeugen, löst Applaus, Interesse und Gespräche aus. Am Marienkirchhof missversteht ein junger Querdenker die Szenerie als Lockdown-Propaganda. Bürgermeister Lindenau schaut auch vorbei. Barbara Duraj, zuständig für grafische Gestaltung, Vor- und Abspanne der Clips und Betreuung der Protagonist*innen bei WfL, hält den Ablauf der Produktion fotografisch fest.

Dreh

Im Oktober '20 hatte sich das Aufnahmeteam zu insgesamt 28 (von ursprünglich 50) Orten und den Menschen bewegt, von denen sie im Normalfall belebt und betrieben werden. Zu Fuß, nach Zeitplan, mit Kabelrollen, Licht, Beamer, Kamera, Stromgenerator, Rucksäcken, einem Bollerwagen und ein paar helfenden Händen. Prehn und Greiß richten Ton-, Licht- und Bildtechnik an jedem der Drehorte neu aus, machen Millimeterarbeit, um eine deckungsgleiche Projektion zu sichern. Die Qualität der Videos zeugt von Respekt, Einfühlungsvermögen und großer inhaltlicher Sorgfalt in einem weiten Spektrum von Locations und Protagonist*innen. Die Reaktionen der angefragten Protagonist*innen waren, bis auf wenige Ausnahmen, auf der Stelle positiv.

„Der Aufwand für die Drehs und Projektionen war deutlich höher als vorher eingeschätzt“, räumt Andrea Bohacz ein. „Termine, Dispos, interne Kommunikation. Locations finden, Inszenierungsideen mit den Mitwirkenden besprechen. Website, Trailer usw.. Da die Projektionstouren während der Nordischen Filmtage Anfang November stattfinden sollten, hatten wir für die gesamte Umsetzung nur 2 Monate.“

Foto (c): Wasfehlt.LübeckFoto (c): Wasfehlt.Lübeck

Auf den Cliffhanger, der die Projektionen weitere vier Wochen zurückhalten sollte, war niemand gefasst. Als schließlich die Finanzierung (Possehl, Sparkasse) und die technische Beratung und Ausstattung (Fa. Visiontools) standen und die Presseinfos raus waren, wurde am 28.10. der neuerliche Lockdown light verkündet. „Wir haben dann sehr schnell entschieden“, erzählt Bohacz, „die Projektionstouren nicht als Veranstaltung laufen zu lassen, sondern als nicht angekündigte Dreharbeiten.“ Gesagt, getan vom 03.-05. 12., jeweils in den früheren Abendstunden, unter Beachtung und Einhaltung der AHA-Regeln untereinander wie auch beim Laufpublikum.

Vorschau

Nachdem die Wfl schon früh Bereitschaft signalisiert hat, ggf. auch thematisch verwandte Videos anderer Gruppierungen auf ihrer Website hochzuladen, ist die dritte Phase des Projekts in Vorbereitung: Wasfehlt.Lübeck als Film, eine mittellange Doku aus einer Auswahl der 28 Kurzporträts und einem Making-Of mit Aufnahmen von den Projektions- und Dreharbeiten, wie Christoffer Greiß sie mitgeschnitten hat. Ein relevantes Zeitdokument, vorstellbar bei den Nordischen Filmtagen, als Installation in Ausstellungsräumen, auf der offiziellen Website der Hansestadt Lübeck u. a..

Foto (c): Wasfehlt.LübeckFoto (c): Wasfehlt.Lübeck

Folgen wird dann Wasmacht.Lübeck, die konsequente Erweiterung des WfL-Konzepts mit Blick vor allem auf konkrete Ideen und Lösungen, die Lübecker*innen zur Bewältigung ihrer Situation entwickelt haben. Ein größerer Aktionsradius soll überdies äußere Stadtteile miteinbeziehen. Als übergreifende Dachorganisation ist UrbanProjection.Lübeck angedacht, für z. B. Kooperationen mit ähnlich konzipierten Gruppen und Initiativen, die den öffentlichen Raum kreativ nutzen. Kommunikation ist erwünscht.

Landes- und bundesweite Entsprechungen dessen, was Lübecks Bürger seit 2020 bewegt und erschüttert (hat), gibt es zweifellos. Ein Projektname in Frageform mit austauschbarem Subjekt dürfte in jeder Stadt, jedem stadtähnlichen Ballungsraum individuell nutzbar und nützlich sein. Auch über das akute thematische Feld hinaus.

Kontaktdaten und Information über Team und Thema:
www.wasfehltluebeck.de

Videos:
www.youtube.com/channel/UCnEElXbtOZt2MlZzF22_dOg/videos

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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