Sind die Lübecker und Lübeckerinnen emotional ausgepowert, erschöpft nach dem aufreibenden Kampf für oder gegen den Erhalt von Laubbäumen? Es soll ja Personen geben, bei denen sich schon bei der Erwähnung des Wortes „Linden“ allergische Reaktionen zeigen.
Dabei ist es doch dringend geboten, sich jetzt nicht auf Lindenlorbeeren auszuruhen und die Augen vor offensichtlichen Missständen zu verschließen. Es gibt zwei gravierende Probleme, die dringend gelöst werden müssen. Seit Anfang November 2016 steht der Stimmannsche „Glaskasten“ (die Lübecker haben leider nicht wie die Berliner ein ausgeprägtes Talent zum Erfinden von Spitznamen) Ecke Breite Straße – Beckergrube leer. Die Telekom ist umgezogen und hat nur die magentafarbene Reklame hinterlassen. Zweites Problem neben diesem Leerstand an prominenter Stelle: Die Wildpinkler (ich bitte um Nachsicht, es gibt kein dezenteres Wort), vor allem im Bereich der Marienkirche. Es hilft doch nicht, darauf zu verweisen, dass es auch rund um das Ulmer Münster dasselbe Problem gibt. Navigare necesse est – aber doch bitte nicht an Kirchenschiffen! Auch der Verweis auf Verwarn- und Bußgelder zwischen 35 und 5000 Euro und drohende Haftstrafe − bis zu einem Jahr − in besonders schweren Fällen (wann sind die gegeben?) fruchtet nichts. Offenbar ist es keinem Outdoor-Pinkler bewusst, dass es nur das Brüsseler Manneken Pis zum Wahrzeichen einer Stadt bringt.
Vielleicht können wir uns Anregungen in Indien holen, wo laut ntv vom November 2016 550 Millionen keinen Zugang zu Toiletten haben. Mehrere indische Bundesstaaten zeigen kreative Wege auf: „Im Bundesstaat Haryana sorgt die Kampagne "Keine Toilette, keine Braut" seit 2005 dafür, dass mehr Frauen Zugang zu einer Toilette bekommen. Die Kampagne ermutigt Frauen, Ehemänner abzulehnen, die ihnen keine Toilette zur Verfügung stellen. (…) Im IT-Zentrum Hyderabad hat die Polizei 2016 damit begonnen, Wildpinkler an den virtuellen Pranger zu stellen. Wer in der Öffentlichkeit urinierte, musste sich eine Girlande umhängen und sich fotografieren lassen.“ Angesichts bevorstehender Wahlen in Lübeck und darüber hinaus ist vielleicht auch zu überprüfen, mit welcher Modifikation folgende Praxis zu übernehmen wäre: „In immer mehr Bundesstaaten in Indien darf sich nur auf ein politisches Amt bewerben, wer eine eigene Toilette besitzt und benutzt.“
Wie dem auch sei, unser Bürgermeister sollte es sich noch zur Chefsache machen, das Lübecker Doppelproblem zu lösen, und zwar mit einem genialen Handstreich. Ich plädiere für den Einbau von Toiletten in den Glaskasten. Um etwaige Befürchtungen gleich aus dem Weg zu räumen: Wir leben zwar in einer Transparenzgesellschaft, aber man muss die Transparenz nicht auf die Spitze treiben. Also müssen neue Glasfenster eingebaut werden, die dem Nutzer den Blick auf das Weltkulturerbe ermöglichen, aber dem Außenstehenden den Blick nach innen verwehren. Eingebaut werden Regionalkabinen – für jedes Bundesland eine. Schließlich kommen die meisten Touristen, die Lübeck besuchen, wie die LN am 4. Januar berichteten, aus Deutschland. Für unsere Gäste aus dem Ausland müsste an anderer Stelle gesorgt werden; zu nutzender Leerstand ist in der Lübecker Altstadt zur Genüge vorhanden. Doch zurück zu unserem Projekt: Vorgeschlagen wird ein Wettbewerb zur Ausstattung der Ländertoiletten. Denkbar sind Signale an den Kabinentüren wie Länderwappen oder offizielle Länderslogans wie z. B. „Wir machen´s einfach“ (Rheinland-Pfalz), „Großes entsteht immer im Kleinen“ (Saarland) und natürlich „Der echte Norden“ (Schleswig-Holstein) – so fühlt sich jeder Tourist und jeder Einheimische in seiner jeweiligen Besonderheit wahrgenommen und gewürdigt. Im Inneren der Kabine empfangen den Besucher Bilder aus dem Herkunftsland: Bayrische Weißwürste vor Alpenpanorama, Currywurst vor Bundeskanzleramt, Kölsch vor dem Kölner Dom oder Dresdner Eierschecke vor der Frauenkirche. Jeder fühlt sich in seinen Geschäften sofort heimisch. Für musikalische Begleitmusik sollte selbstverständlich gesorgt sein: Vom meerumschlungenen Schleswig-Holstein bis zur Schuhplattlermusi. So kann es gelingen: Aus der Not(durft) eine Tugend machen!
Nicht nur aus Platzgründen muss auf Geschlechtertrennung verzichtet werden. Führen Sie sich bitte vor Augen, dass Ihnen Facebook bei der Erstellung eines Profils die Wahl zwischen sage und schreibe 60 Geschlechtsidentitäten lässt: Transgender, genderqueer, nicht-binär, Transmensch… Auch dem geschlechtslosen Individuum muss seine Kabine zustehen. Männlich – weiblich: diese binäre Kodierung gehört der Vergangenheit an. Und so ist es nur konsequent, bei der Planung Folgendes zu berücksichtigen: In einer Zeit, in der das Individuum sich je nach Kontext frei entscheidet, als was er, sie, es sich entwirft, verzichten wir auf den Zwang der geschlechtlichen Kabinenzuweisung und bieten etwas viel Wichtigeres: Heimat!
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