Entdekorierte Fassade in der Königstraße

Lübeck ist noch immer entschandelt

Es gibt wohl keinen Baustil, der mehr verachtet wird als die Architektur der Kaiserzeit. Gründerzeitarchitektur ist seit langem ein Synomym für geschmacklos und schwülstig, überladen und eklektizistisch, ganz gleich, ob es sich um öffentliche Gebäude wie Postämter oder Bahnhöfe oder um prächtige Privatvillen oder nur Mietshäuser handelt.

Sie gelten als eklektizistisch, weil die Architekten die Elemente von überall hernahmen, so dass es Neogotik, Neorenaissance und noch andere Stile gab. In unserer Gegend ist das beste Beispiel für einen Eklektizismus das Schweriner Schloss, dessen verschiedene Elemente aus ganz Europa zusammengesucht wurden. Aber auch in Lübeck kann man genug historisierende Bauten finden.

Wenn irgendwo Einigkeit besteht, dann in der Ablehnung des überladenen Bauens des späten 19. Jahrhunderts. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass sich die Moderne negativ definiert, nämlich als Gegenbild dieser Epoche. So wollte man damals nicht sein, und so will man auch heute nicht sein, und die Moderne definierte sich entsprechend als nüchtern, sachlich und anti-individualistisch.

H. Kretschmer: Die Architektur der ModerneH. Kretschmer: Die Architektur der Moderne In ihrem Buch über „Die Architektur der Moderne“, einem informativen Band über die Entwicklung der modernen Architektur, fasst Hildegard Kretschmer diese Bewegung so zusammen: „Bloße Zweckerfüllung und Nützlichkeit wurden nun als alleinige Voraussetzung für Schönheit erachtet. Sie galten auch als ökonomisch sinnvoll und damit als moralisch vertretbar. Das, was vor allem der Historismus unter Kunst verstand, war Dekoration, somit nicht wirklich nützlich, damit also unmoralisch.“ Die Autorin hat schon Recht, hier moralische Kategorien in Anschlag zu bringen – dass man bei der Beseitigung des Baudekors von „Entschandelung“ sprach (ein ganz unglaubliches Wort), bestätigt ihre Einschätzung.

In letzter Zeit aber entdeckt man zunehmend auch die guten Seiten der Gründerzeitarchitektur. Denn viele Gebäude dieser Ära sind handwerklich außerordentlich gediegen, so dass sie sich nicht selten in einem besseren Zustand befinden als viele jüngere Bauten. Damals wurde das Handwerk mehr geschätzt und auch mehr gefordert, und nicht wenige Maurer und Zimmerleute wären dankbar, wenn man ihnen die anspruchsvollen Aufgaben der Kaiserzeit stellen würde: weniger rechte Winkel, der Verbund der Steine abwechselnd, häufiger Materialmix …

Matthias Barth: Kaiserliches BerlinMatthias Barth: Kaiserliches BerlinZunehmend weiß man den gestalterischen Reichtum dieser Bauten zu schätzen, die stilistische und materiale Vielfalt und Abwechslung, die sie dem Auge bieten. So singt Matthias Barth in dem prächtig bebilderten Fotoband „Kaiserliches Berlin“ ein Loblied auf diese verachtete Epoche, und nach der Lektüre schaut man anders auf den Wilhelmismus und hat Lust, sich die Orte, die Barth so ingeniös fotografierte, selbst einmal zu besuchen. Mir haben es besonders die Treppenhäuser angetan – diese Jahrzehnte hatten eine glückliche Hand für Treppenanlagen aller Art, auch außerhalb der Gebäude.

Das Buch ist nicht allein deshalb großartig, weil es schöne Fotos enthält und dem Leser mit seinen Hinweisen die Gelegenheit gibt, Berlin auf seine eigene Weise neu zu entdecken, sondern es imponiert, dass sich hier ein Autor für seine ganz eigene Sicht und seine ganz eigene Bewertung entschieden hat. Dazu gehört nicht allein ein selbstständiger Verstand, sondern auch Mut.

Hiller von Gaertringen: SchnörkellosHiller von Gaertringen: SchnörkellosDie Geschichte der Ablehnung der Kaiserzeitarchitektur wird stets aus der Sicht der Sieger erzählt – die Moderne definiert sich eigentlich ganz als Ablehnung dieser Epoche. Auf einen ausgewählten Aspekt dieser Ablehnung in Wort und Tat macht der Kunsthistoriker Hans Georg Hiller von Gaertringen in seinem Buch „Schnörkellos“ aufmerksam. Der Titel verweist auf den schnöden und ignoranten Umgang mit Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die „entdekoriert“ wurden, also ihren reichen Schmuck aus Stuck, Stein und Türmchen verloren, um so den Vorstellungen einer späteren Zeit mit einem eher puristischen Geschmack angepasst zu werden. Dieser Prozess setzte vor, während und nach dem 1. Weltkrieg ein, um sich bis in das 3. Reich, ja bis in die fünfziger Jahre hinein immer weiter zu steigern und später niemals wieder zurückgenommen zu werden. Wenn man heute versucht, irgendeinen hässlichen Kasten aus der Adenauerzeit abzureißen, kommt sogleich das Amt für Denkmalschutz gelaufen, aber wer fühlt sich für die Bauten der Jahrhundertwende zuständig? In der Geschichte des Bauens ist es wohl die einzige Epoche überhaupt, der man das Recht auf Existenz bestreitet; jedes Parkhochhaus und jede Kläranlage wird besser behandelt und ist höher angesehen.

Was nach Dekor aussah und nicht dem allgemeinen Nützlichkeitspostulat unterlag, wurde abgeschlagen, eingeebnet und vernichtet: Vor allem war das die Verzierung aus Stuck, die sich an vielen Häusern fand, nachdem seine industrielle Herstellung ihn ziemlich wohlfeil gemacht hatte. Dazu kamen noch die vielen Türmchen, die auf den Dächern saßen oder auch an den Häuserecken an den Einmündungen der Straßen („Eckresalite“). Mit der Entfernung der fest eingemauerten Fenster- und Türstürze tat man sich naturgemäß schon schwerer, und so finden sich auch heute noch viele von ihnen. In Lübeck sind die wenigsten Häuser vollständig entdekoriert, sondern die Mehrzahl zeigt sowohl einen Restbestand an Schmuck als auch die leeren Platten, auf denen früher der Dekor gesessen hat.

Entdekorierte Fassade in der UhlandstraßeEntdekorierte Fassade in der Uhlandstraße

Der Autor erzählt die Geschichte des Baudekors ebenso wie die Geschichte seiner Beseitigung, und er erzählt sie in einem stets sachlichen Stil und mit wenig Wertungen. Polemik sucht man in diesem Buch vergeblich, denn Hiller von Gaertringen versteht sich offensichtlich mehr als Historiker. Frühere Autoren – besonders 1964 Wolf Jobst Siedler in seinem Buch „Die gemordete Stadt“ – waren da wesentlich angriffslustiger.

Das Buch konzentriert sich auf Berlin, aber auch Lübeck, so habe ich aus Hiller von Gaertringens Buch gelernt, wurde während des Nationalsozialismus systematisch „entdekoriert“ und „entschandelt“ (sprich: auf eine möglichst billige Art dem neuen ästhetischen Ideal des Kargen und Nüchternen, dem Armseligen und Fabrikmäßigen angepasst), und nach der Lektüre von „Schnörkellos“ schaue ich anders auf die Häuser und sehe, was dort alles fehlt. Sowohl in den Straßen um den Stadtpark, in Marli oder sonst in den Gründerzeitvierteln als auch in der Innenstadt springen mir immer wieder die leeren Platten unter den Fenstern oder über den Fensterstürzen in die Augen, auf denen eigentlich Baudekor sitzen sollte und einmal ja auch gesessen hat.

Entdekorierter Eckrisalit (Königstraße)Entdekorierter Eckrisalit (Königstraße)Es mag sein, dass dieser Stuck nicht in jedem Fall geschmackssicher war, aber wer gab den Vandalen das Recht, ihn einfach abzuschlagen, so dass nur leere Flächen blieben? Und warum kümmert man sich heute nicht um die leeren Flächen?

Jeder darf selbst durch die Innenstadt gehen, den Kopf in den Nacken legen – je höher der Dekor, desto größer waren seine Überlebenschancen – und schauen, ob er die merkwürdigen Köpfe über den Fenstern wirklich so schlimm findet. Sollte man sie abschlagen, wo sie sich heute noch finden?

Ecke Fleischhauerstraße Ecke Fleischhauerstraße Was den Häusern jetzt fehlt, ist eine Struktur der Fassade, ist der Rhythmus, der auf dem Baudekor beruhte; jede Fassade war in sich gegliedert, besonders natürlich, wenn der Stuck farblich abgesetzt war, wenn er etwa hellgrau auf einer weißen Fassade saß. Ähnliches kann man übrigens von den Straßen sagen, denn die Eckrisalite an den einmündenden Seitenstraßen gaben ihr eine Gestalt – ohne diese Türmchen laufen sie einfach weiter und weiter. Das wird auch noch durch die heute überall zu findenden Fensterbänder unterstützt, die jede Tendenz nach oben und damit auch eine Gliederung unmöglich machen. Mit Eckresaliten, versetzten Fenstern und anderen Mitteln könnte das Auge wieder Halt und Orientierung finden.

Die Entschandelung – schon der bloße Begriff ist ein Skandal – ließe sich auch unter dem Aspekt der Entindividualisierung behandeln. Gebäude aller Art sollten nicht länger ein individuelles Gesicht tragen. Sie sind Teil eines industriellen Denkens, das heute die Gesellschaft insgesamt bestimmt. In dem Buch von Kretschmer heißt es, dass zum „neuen Leitbild (…) Fabrikbauten (…) und die Maschine wurden“, und schon Egon Friedell hat gesagt, dass es kein niederes Ideal gibt als die Maschine.

Fenster ohne SchmuckFenster ohne SchmuckEs sind drei Hauptfragen, die das Buch Hiller von
Gaertringens zu beantworten versucht: Es fragt nach den Gründen für die Entdekorierung, nach den Namen und Motiven der Verantwortlichen und endlich nach der ästhetischen Form, die der Entdekorierung folgte. Dreihundert Seiten Text folgen einhundertfünfzig Seiten KatalogFenster mit Schmuck (Nachbarfassade)Fenster mit Schmuck (Nachbarfassade), von denen der größte Teil mehr als zweihundert Beispiele für eine Entdekorierung bietet, dokumentiert mit nüchternen Schwarzweißfotos und gelegentlichen Zeichnungen. Schließlich folgen noch einige wenige Beispiele für geplante, aber nicht ausgeführte Entdekorierungen.

Die meisten seiner Beispiele stammen aus Berlin, dazu kommen noch viele aus Stralsund und Danzig, und auch in Lübeck hat das Entschandeln leider seine Spuren hinterlassen. Eines seiner Beispiele ist die frühere Hauptpost am Markt, die ja mittlerweile als Ganzes „entschandelt“ wurde. Das Kaufhaus, dessen Anblick uns nun heute quält, wird dagegen in unserer Lebenszeit und vielleicht auch später nicht mehr weichen: Da sei der Denkmalschutz davor!

Die Stuckelemente dienten merkwürdigerweise lange Zeit der Wertsteigerung des Hauses, das mit einer reich verzierten Front nach mehr aussah und sich entsprechend besser vermieten ließ. Auch deshalb ging man damit so großzügig um. Die noch vor der Jahrhundertwende einsetzende industrielle Fertigung der Elemente wurde dann Voraussetzung für ihre massenhafte Verwendung, die in manchen, vielleicht sogar sehr vielen Fällen wirklich einen Angriff auf den guten Geschmack darstellte.

Fast alles ist geblieben (Ecke Breitestraße/Pfaffenstraße)Fast alles ist geblieben (Ecke Breitestraße/Pfaffenstraße)

Aber trotzdem würde ich nicht zögern, das Abschlagen der Stuckelemente an den Fassaden als Vandalismus zu bezeichnen, zumal es kaum je geglückt und meistens auch wohl nicht beabsichtigt war, den originalen Dekor durch eine andere Gliederung zu ersetzen. Statt des reichen, gelegentlich allzu reichen barocken Schmucks fanden sich nach vollzogener Reinigung nur noch verputzte Flächen. Später wurden dann Sprossenfenster durch Thermofenster ersetzt oder vielleicht gar Eternitplatten auf die Fassade genagelt, und schon sah sich ein ehemals schönes Haus in einen öden Kasten verwandelt. Und damit können wir gut leben?

Die gelegentlich geradezu atemberaubende Scheußlichkeit mancher Modernisierungen illustriert Hiller von Gaertringen an lediglich einer einzigen Stelle mit dem Hinweis auf die Zeitschrift „Das Grundeigentum“, die ein „Vorbildliches Beispiel einer entdekorierten und mit Baukeramik verkleideten Fassade“ vorstellt, bei deren Anblick man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. Leider kenne ich selbst genügend Beispiele für einen derartigen Vandalismus auch aus Lübeck.

Ecke Fleischhauerstraße/ KönigstraßeEcke Fleischhauerstraße/ KönigstraßeWas soll man heute tun? Man scheint sich, ohne diese Frage jemals auch nur anzureißen, geschweige denn ernsthaft zu diskutieren, darauf geeinigt zu haben, gar nichts zu tun und die leeren Flächen leer zu belassen. Werden Häuser aller
anderen Epochen gepflegt – nach Möglichkeit in ihrer originalen Erscheinung –, wird aus der gesamten Baugeschichte einzig und allein den Gründerzeit- und Jugendstilgebäuden dieses Recht bestritten. Sie allein dürfen nicht so aussehen, wie es sich ihre Erbauer vorstellten. Kann das recht sein?

Noch einmal: Was soll man tun? Soll man den originalen Dekor imitieren und die Gebäude ihrer ursprünglichen Erscheinung anpassen? Oder – und dafür würde ich mich aussprechen – soll man anderen Dekor entwerfen, zeitgemäßen, Schmuck des 21. Jahrhunderts, der sich trotzdem mit einer alten Fassade verträgt, weil er sich nicht vordrängt, sondern die ästhetischen Gesetze der Fassade respektiert? Das ist zunächst und vor allem eine ästhetische Frage, keine, für die man unbedingt wissen müsste, wie der Bau im Original ausgesehen hat oder welcher Beamte zuständig war für die vandalistischen Aktionen.

Literatur:

Matthias Barth: Kaiserliches Berlin. Architektur zwischen 1871 und 1971. Bergstadtverlag W.G. Korn 2012

Hans Georg Hiller von Gaertringen: Schnörkellos. Die Umgestaltung von Bauten des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2012

Hildegard Kretschmer: Die Architektur der Moderne. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 2013


Fotos: Stefan Diebitz

Stefan Diebitz
Stefan Diebitz
Stefan Diebitz, geboren 1957, freier Autor. Feuilletonistische und wissenschaftliche Arbeiten (Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunst- und Kulturgeschichte), dazu vier Bücher: Seelenkleid. Beiträge zur Phänomenologie und Theorie von Angst und Scham (LIT-Verlag 2005); Glanz und Elend der Philosophie (Verlag der blaue Reiter 2007); Spiel und Widerspiel. Der Mensch in seiner Natur (Verlag der blaue Reiter 2009); Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks (Graue Edition 2012)

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.