So kann es kommen:
24 Stunden in Lübeck

Ein kleiner Rückblick, insbesondere für E., die zurzeit nicht laufen kann, aber gerne mitgekommen wäre.

Eigentlich hatte ich an diesem Wochenende nichts Besonderes vor, also erst mal ein paar Besorgungen am frühen Samstagnachmittag, eine kleine Teepause in unserm Kulturraum und auf dem Nachhauseweg um 17 Uhr mal eben in die Jakobi-Kirche: Chorvesper, Eintritt frei. Es singt die MarienKantorei Lemgo unter der Leitung von Volker Jänig, der vorher an der Möllner Nicolai-Kirche tätig war, Stücke von Becker, Praetorius, Herzogenberg, Poulenc und Distler, quasi als Vorgeschmack auf das eigentliche Passionskonzert am Dienstag in der Propsteikirche.

Foto: MarienKantorei LemgoFoto: MarienKantorei Lemgo

Lauter musikalische Perlen, mit Glanz dargeboten vom 26-köpfigen Chor, der ganz unaufgeregt und souverän nichts als homogenen Wohlklang in St. Jakobi verbreitet, ergänzt durch zwei Orgelwerke von Bach, gespielt von Lars Schwarze. Chorauf- und -abgänge sind ein unerschöpfliches Thema für sich. Hier geraten sogar Gänge zu den Sitzpausen in den Kirchenbänken zu einer hübsch geordneten kleinen Choreografie, Frauen links, Männer rechts.

Ich bedanke mich beim Chorleiter für diese beglückende Stunde am Nachmittag und bestelle ihm Grüße von D. aus Mölln, die dort jahrelang begeistert unter seiner Leitung im Chor gesungen hat und nun leider nicht mehr so mobil ist. Herr Jänig hofft, sie am nächsten Tag in Mölln zu treffen (hat geklappt, wie ich soeben erfuhr). Wie nett!

(c) Ingeborg Pieper(c) Ingeborg PieperWeniger nett ist ein seltsames Geräusch am Hinterreifen meines Rades beim Aufbruch. Nach ein paar Umdrehungen mache ich halt und entdecke ein kleines Wappen, das sich mit einem langen Dorn in meinen Reifen gebohrt hat. Das muss ja einen Platten geben, aber ich komme erst mal gut nach Hause.

Daheim erwartet mich ein Anruf auf dem AB von eben jener D. aus Mölln mit dem Hinweis auf eine Sendung in 3sat: Heute Abend wird vom Opernhaus Zürich Verdis Requiem in einer Gemeinschaftsproduktion von Ballett und Oper übertragen. D. weiß, dass ich im diesjährigen Projektchor das Requiem im Rahmen von „Kunst am Kai“ mitsinge und mich diese Interpretation sicherlich interessieren könnte. Wie gut, dass es die Mediathek gibt, denn ich liebäugle noch mit einem Film im Koki, sofern die Luft (nur im Reifen?) noch nicht raus ist. Jetzt denke ich ganz profan ans Essen und koche Kartoffeln, nutze die Wartezeit aber noch für einen schon länger anstehenden Rückruf bei einer alten Chorfreundin aus Münster. Es folgt eine gute Stunde intensives und auf beiden Seiten verständnis- wie tränenreiches Gespräch über Leben und Tod, Liebe und Leid und banale, aber bittere Enterbungsgeschichten. Die Kartoffeln werden mittendrin gerade noch vorm Anbrennen gerettet, aber Zeit ist am Ende bloß für einen Rest Salat auf die Schnelle.

Das Kino Koki ruft um 20:30 Uhr, vor allem aber frische Luft zur Besinnung auf das Hier und Jetzt (das Rad ist immer noch nicht platt), bevor die Luft im vollbesetzten Kino wie immer sehr zu wünschen übrig lässt. Der Film hingegen, „Lucky“, ist sehr sehenswert und passt zum Thema: Ein alter Kauz mit festen und leicht schrägen Gewohnheiten wird sich nach einem eher harmlosen Sturz seiner Endlichkeit bewusst und ändert im hohen Alter noch ein paar feste Tagesabläufe, aber vor allem seine Sicht auf die Dinge und Menschen. Harry Dean Stanton in einer seiner letzten großen Rollen. Er starb im Herbst 2017. Auch der Kurzfilm vorab muss erwähnt werden: „Hessi James“ – ein kleines Meisterwerk, in dem animierte Zeichentrick-Insekten sich in einem echten High-Noon-Western-Szenario an einer Tankstelle begegnen und der Böse (ein Hirschkäfer?) vom sehr viel kleineren Krabbeltierrivalen auf Hessisch buchstäblich zu Tode gebabbelt wird. Köstlich!



Nein, Fingerfood im Finder’s Café schaffe ich trotz Einladung von H. jetzt nicht mehr. Ab nach Hause, Abendessen zweiter Teil bzw. nun Nachtmahl gegen 23 Uhr und doch noch einige Minuten ins getanzte Verdi-Requiem geschaut. Die Aufführung zieht mich augenblicklich in Bann, aber leider reicht meine Konzentration jetzt nicht mehr für das ganze Werk. Dank Mediathek werde ich das vertagen und empfehle es hiermit allen Interessierten ebenfalls aufs Wärmste.

Zeitumstellung. Wann hört dieser Unsinn endlich wieder auf?

Sonntagmorgen: Verabredung mit H. zum Sinfoniekonzert um 11 Uhr in der MuK, Berlioz, Saint-Saëns und Strauss. Darüber wird an anderer Stelle sicherlich ausführlicher zu lesen sein. Die grandiose Pianistin Dorel Golan aus Israel soll aber hier schon hervorgehoben werden, deren enorme Spielfreude sich in Mimik wie Körperbewegungen ablesen lässt, und insbesondere ihre höchst virtuosen Zugaben, eigene, faszinierende Improvisationen über klassische Ohrwürmer. Sie mag gar nicht aufhören zu spielen, bis Dirigent Numajiri nach der dritten Zugabe leider den Klavierdeckel zuklappt. Was wird sie heute Abend zum Besten geben? Allein ihretwegen würde ich das Konzert zum zweiten Mal anhören, aber das scheint mir nun doch fast zu viel des Guten zu sein.

Draußen lässt sich der Frühling erahnen, „O Lord, what a morning“, möchte ich am liebsten singen, aber das will ich der lieben H. denn doch nicht zumuten. Ich radel kurz mit zu ihr, und siehe da, ihre nächste Verabredung fällt ins Wasser, und so gehen wir kurzentschlossen und auf den allerletzten Drücker ins St.-Annen-Museum zur Jahresschau der Lübecker Künstler. Wer hat denn bloß gesagt, das würde sich nicht lohnen? Diese Behauptung ist ja ungeheuerlich, vor allem aber überheblich. Wir sind jedenfalls sehr angetan und beeindruckt vom allermeisten, was da vom Keller bis ins Dachgeschoss an Gemälden, Skulpturen und Installationen präsentiert wird, und sehr zufrieden, dass wir diese Ausstellung nicht noch verpasst haben (danke, U., für Deinen Hinweis!).

Jetzt ein schönes Kaffeetrinken ...

Canta!, der Mädchenchor der GemeinnützigenCanta!, der Mädchenchor der Gemeinnützigen

Und noch fahre ich nicht nach Hause. Um 17 Uhr singt ja noch Canta!, der Mädchenchor der Gemeinnützigen, längst kein Geheimtipp mehr, sondern innerhalb kürzester Zeit für seine hohe Qualität bekannt geworden, in der Propsteikirche unter der Leitung von Heidi M. Becker das „Stabat mater“ von Pergolesi und die „Messe basse“ von Fauré, mit den Solistinnen Dorothee Bienert und Antje Kammeyer sowie Julian Mallek an der Orgel – ein gelungener Abschluss für dieses unerwartet vollgepackte Kulturwochenende. Die Mädchen dürfen stolz sein, in diesem Chor mitzusingen, und sind es wohl auch. Es ist eine große Freude, sie zu hören und zu sehen, wie sie tonsicher und schon mit gewisser Selbstsicherheit ihre Stücke darbieten. Besonders anrührend: ein sehbehindertes Mädchen, das alles auswendig mitsingt und mit größter Selbstverständlichkeit von den andern unauffällig unterstützt und integriert wird.

Ein wahres Bad in Kultur liegt hinter mir (für insgesamt 45 Euro, das sei nur am Rande erwähnt) – bewegende Stunden, die noch lange nachklingen werden. Aber um ganz ehrlich zu sein: Es waren 25 ...

Gerda Vorkamp
Gerda Vorkamp
Geboren 1958 in Herford, Lehramtsstudium, Angestellte im Fremdsprachendienst, freiberuflich tätig als Lektorin. Bei Unser Lübeck seit Beginn als Autorin und seit 2016 als Redakteurin dabei.

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