Ralph Schlunk, Foto: (c) Peng!

Ralph Schlunk Quartett mit Latin- und Scandijazz im CVJM
Ostseebeschwörungen, Meerforellen und Wellenschlangen

Oh Adventszeit, richtig. Ja, der Weihnachtsmarkt. Glühwein und Würstchen, der Duft bahnt sich seinen Weg, umhüllt die Altstadt, vermengt sich mit dem süßlichen Zuckerdunst von Mutzen und Weihnachtskeksen und treibt uns zusammen mit der ersten echten Kälte an kleine, enge und überfüllte Stände, dann in die Häuser und später auf die kuschelwarmen Sofas.

Christkinddüfte, die aber doch trotz aller Bemühungen den Grundgeruch von Lübeck nicht überdecken können. Denn Lübeck atmet, nein, ist die Ostsee. So nah ist sie uns jeden Tag, und doch vergisst man in der Stadt leicht das Meer, auch wenn es noch in der Luft zu riechen, zu spüren, ja fast meint man, zu hören ist. Ostsee, das ist die See ein Stückchen von der Haustür entfernt, die blaue sanfte Ostseepfütze im Sommer. Aber auch wenn man nicht hinschaut, auch wenn die Ostsee gerade brav nur am Travemünder Strand spielt, sie ist immer da. Wehe, man ignoriert sie, dann kommt sie wie der Steuereintreiber bis zur Haustür, schiebt sich die Trave entlang, legt sich quer und hoch und lässt den Fluss zum weiten Meer werden. Das kennen wir, das haben wir alle gesehen, das ist fast ein Stück Routine geworden, mal sanfter, mal dramatischer, mal ferner, mal näher, aber immer wiederkehrend.

Aber haben wir schon gesehen, wie die Ostsee über Haustürschwellen schwappend zu schlagenden Noten wird, wie die Wellen sich die Große Petersgrube hoch drängen, schieben, über die Fliesen laufen und den gemütlichen Jazzkeller des CVJM mit wogender Musik füllen, ohne dass man nasse Füße bekommt? Nein, dazu musste erst Ralph Schlunk mit seinem Quartett kommen. Am 8. Dezember 2017 versammelte er seine Mitmusiker im CVJM (bekannt für die hervorragenden Jazzkonzerte) um sich. Sein Quartett – das sind Volker Hahm am Piano, Axel Burkhardt am Kontrabass, Björn Lücker am Schlagzeug und natürlich Ralph Schlunk am Saxophon – ließ für uns Wasser und See, Wind und Fische direkt in unsere Bier- und Weingläser schwimmen. Denn dieses Konzert war die Ostsee, mit kleinen Verschnaufpausen auf dem Festland, die uns Zeit gaben, die wassergefüllten Gummistiefel auf dem Steinboden auszuleeren, den Südwester auszuschütteln und schnell ein neues Glas Bier ohne Salzwasser auszutrinken.

Die Stücke, fast alle (bis auf zwei) von Ralph Schlunk komponiert, ließen uns teilhaben an ihrer Entstehungsgeschichte, mit beiden Beinen bis zur Hüfte im Wasser, die Angel oder auch nur den Blick auf die Wellen gerichtet. Zuerst aber wurden wir vorsichtig zur Strandlinie geführt. Jochen Lipfert, Haus- und Jazzherr des CVJM, erinnerte uns alle daran, dass wir Ralph Schlunk zwar unzählige Male mit einem vielfältigen Programm aus Standards auf stets begeisternden Jamsessions erleben durften, aber nur selten in den Genuss gekommen waren, seine Eigenkompositionen zu hören. Das sollte sich heute ändern.

Volker Hahm, Foto: Jacques C. DulonVolker Hahm, Foto: Jacques C. DulonDen Anfang machte jedoch das wunderbare Stück „Im Aufzug 2. Stock“ von Volker Hahm, der uns gleich mit zartem Druck am Arm fasste und mit dem Piano in seine eigene Welt entführte. In beschwingtem Tempo führte uns der musikalische Aufzug bis zur Dachterrasse und gab den Blick frei auf den grandiosen Ausblick über Dächer und Flüsse. Der „abgespeckte Bass“, wie Jochen Lipfert nonchalant das äußerlich reduzierte, innerlich aber tongewaltige Instrument von Axel Burkhardt genannt hatte, hieß uns die letzten Meter bis zum höchsten Ausguck zu Fuß laufen, zeigte uns mit den Noten die Stufen und ließ uns wieder in die Mitte der Instrumente einsinken, während der Aufzug in entgegengesetzter Richtung Geschwindigkeit aufnahm und mit uns allen an Bord schwingend und tanzend wieder auf dem festen Erdboden aufsetzte.

Kaum war der letzte Ton verhallt, wurden wir mit dem ernsten Teil des Abendprogramms konfrontiert. Oberangler Schlunk führte uns kurz, aber prägnant in die Geheimnisse der Meerforelle, Salmo trutta trutta, ein. Denn auf der Jagd nach dieser zu den Lachsfischen zählenden Forelle war er eines Tages mit dem Kajak weit aufs offene Meer gefahren, Kilometer um Kilometer trieb die Angelleidenschaft die Paddel an, ließ den Blick sorglos über die vom aufkommenden Wind immer stärker zerzausten Wellen gleiten und erstarb erst im Schrecken der Erkenntnis, dass die Wogen inzwischen wirklich hoch und das Land wirklich weit weg waren. In einer Mischung aus „Peinlichkeit und Panik“ konnte sich Schlunk zusammen mit einer ersten Vorahnung für seinen Song „Double Minor“ an den Strand retten. Uns aber nahm er noch einmal mit auf die heroische Wassertour, die er auf seinem Sopransaxophon fast zum Ostsee-Krimi stilisierte. Volker Hahm folgte mit dem Klavier. Gemeinsam sprangen sie über die Wellen, versuchten sich gegenseitig zu beruhigen, nur um im nächsten Moment wieder der Panik zu erliegen. Axel Burkhardt am Bass und Björn Lücker am Schlagzeug trieben weiter zur Eile. Während Ralph Schlunk mit Tönen und rhythmisch wiegendem Oberkörper die Ostseeschlangen und -wellen zu besänftigen suchte, mit schierer Willenskraft den Wind zum Abflauen zwingen wollte, peitschte das Schlagzeug die Wasser wieder hoch, schürte und schüttelte die Wogen, jagte und schäumte mit den Wellen und ließ kleine silbrige Meerforellen zu großen Seeungeheuern anwachsen. Aber irgendwann ist auch das wildeste Wetter erschöpft, und so kamen seine Beinah-Opfer abgekämpft, aber überglücklich an den Strand zurück.

Nach dem furiosen Kajakkampf führte uns das nächste Stück in Fluten, die, wie Ralph Schlunk nun erklärte, von Volker Hahms Heimat am Main über den Rhein zwar auch wieder zum Meer führten, diesmal aber in ruhigeren Gewässern endeten. Dabei könnte es sogar passieren – wir lernten Erstaunliches –, dass eine südliche Bachforelle (Salmo trutta fario) im nördlichem Meer ankomme und sich in eine Meerforelle verwandle. In diesen Calm Seas der Assimilation und Integration kräuselte das Saxophon die sonnendurchflutete ruhige Wasserfläche und spielte mit den kleinen Lichtreflexen, die sich funkelnd drehten und im Schatten der großen Jachten das dunkle Meer streichelten. Mit dem Klavier gingen wir wie auf einer Sommerwiese über heiteres Wasser spazieren, so als hätten wir alle auf einmal das Wunder der Musik verstanden. Und während noch eine kleine Brise unsere Haare zum Flattern brachte, ließ der Bass schon die ersten dunkleren Wellen gegen den Schiffsrumpf schlagen, krauste das Meer sich in der Ferne zu dunklen Rippen, und als das Schlagzeug das Tempo beschleunigte, nahm auch unser Schiff Fahrt auf. Wir alle an Bord sahen noch kurz beunruhigt nach vorn, doch dann glätteten sich die Wellen, das strahlende Licht ließ unsere Herzen wieder langsamer schlagen und unser Schiff trieb mit der gesamten Crew sanft schaukelnd auf den Horizont zu.

Ralph Schlunk, Foto: (c) Peng!Ralph Schlunk, Foto: (c) Peng!Haben Sie noch Zeit, mir weiter zuzuhören? Darf ich noch schnell erzählen, dass wir mit der Ballade „Rosebud“ – man denke an Citizen Kane – das Meer verließen und eine romantische Schlittenfahrt unternahmen, bei der allem Winter zum Trotz die Rosenknospen aufstiegen, sich öffneten und das Licht der zarten Sonnenstrahlen einfingen? Dass der Bass in seinem Solo ganz allein dem Schlitten durch die fallenden Blütenblätter folgte, bis das Saxophon die Blüten wieder aufsammelte. Dass am Boden sanft die Stimmen der Schmetterlinge nachklangen, bis sie sich im Schwarm erhoben, und zusammen mit den ausklingenden Tönen nur noch das Flattern ihrer Flügel zu vernehmen war. Möchten Sie hören, wie in „Mendez Counts Steps“ Schlitten und Schmetterlinge gegen galoppierende Pferde ausgetauscht wurden, die ihre Hufe über die Klaviersaiten donnern ließen, bis Volker Hahm das Lasso schwingend den wilden Lauf bremste, das Quartett uns durch Sonnenschleier führte und Lichterketten an Lichterketten reihte? Wie das wunderbare Stück „Sonntag in Berlin“ von Susanne Wegener uns noch schlafschwer an den Küchentisch begleitete, wie unsere Blicke über die ungewohnt ruhigen Straßen, die verschlafenen Hinterhöfe glitten, bis das Piano die Fenster öffnete und uns an der Hand nahm, um – schau dort, sieh nur da – die Welt an uns vorbeigleiten zu lassen, wie die Straßen sich belebten, die Stimmen und die frische Luft zu uns aufstiegen, Björn Lücker uns nach einem wilden Wirbel wieder an den Tisch zurückbrachte, während Axel Burkhardt mit seinem abgespeckten Bass zeigte, wie man nicht nur Meerforellen, sondern auch Sonntagsstimmung in Berlin fängt?

Aber nicht nur diese Stücke, „Just another Blues“ haben Sie ebenfalls verpasst, in dem zwischen Blues und Trommeln das wiegende Saxophon tanzende Schlangen beschwor. Auch wie uns der Song „Ikea“ mit weichem Klang über gelbe Schären und blaue Wasser trug, konnten Sie nicht hören. Entgangen ist Ihnen „Mulgrew“, dieses herrlich schwingende Stück, das die Meereswellen wieder zwischen unseren Füßen spielen ließ, während das Beckenspiel weich wurde und schon zart ausklang, als plötzlich alle Töne erneut anschwollen, alle Instrumente sich in die Höhe schraubten, uns zeigen wollten, dass sie das Chaos kennen und beherrschen, bevor sie abbremsten und uns wieder sicher mit den Füßen auf dem inzwischen abgetrockneten Boden absetzten. Entwischt ist Ihnen auch „Lübop“, der tönende Beweis dafür, dass Lübeck nicht an der Trave, sondern an der Ostsee liegt, dass in Lübeck das wilde Meer aus Noten und Klängen besteht, das Wasser strömen lässt, Strudel bildet, sprüht, sich aufbäumt und wieder in den Kanal zurückfließt.

Das begeisterte Publikum ließ keine Note, keine Woge, keine Meerforelle entkommen. Man spürte die Freude der Anwesenden, die sich am Ende in lautstarkem Applaus entlud, bis wir mit „Baltic Daughters“ noch einmal in die sanften Ostseewellen tauchen durften und Sonne, Wind und Sommer auf der Haut spürten, bis der letzte Ton des immer weiter davontreibenden Saxophons verhallt war.

Diese Ausflüge, die uns die Musik hier in Lübeck schenkt ... ja, die Ostsee ist nicht weit, sie wartet dort hinten, aber wem an diesem vorweihnachtlich kalten Abend ein Platz an Deck eines Ostseedampfers zu ungemütlich war, der konnte an Bord des Überseedampfers „Ralph Schlunk Quartett“ mit gut gewärmten Ohren Fluten und Wellen schauen. Wann, bitte wann fährt der nächste Dampfer?


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