Foto: (c) Peng!

„Cadavre Exquis“ in der Kulturwerft Gollan

Spielen Sie gern? Ich meine nicht im Spielcasino, ich meine auch nicht Tennis oder Fußball. Ich meine Spiele, wie wir sie als Kinder gespielt haben, Spiele mit Überraschungseffekt, Spiele, bei denen man etwas Neues erschafft.

Sie erinnern sich bestimmt an das Spiel, bei dem ein Blatt Papier umgeknickt wird, nachdem man ein Wort oder einen Satz geschrieben oder einen Kopf gemalt hat, und der nächste weiterschreiben oder -malen muss, ohne zu wissen, was schon auf dem Blatt ist. Man bekommt eine kleine dürre Hilfestellung, ein Wort, das eine Reihe tiefer geschrieben ist und den Endreim vorgibt, oder ein paar vage Linien im Nichts, die zeigen, wo es weitergehen soll. Ich habe diese Spiele immer geliebt, aber wenn ich jetzt versuche, mich zu erinnern, wann ich sie zum letzten Mal gespielt habe, öffnet sich ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung ... Jahre, Jahrzehnte. Und dann, nach so langer Abstinenz, durfte ich am 3. August 2017 in der Kulturwerft Gollan eine neue Variante dieses von den Surrealisten um André Breton entwickelten „Cadavre Exquis“ in genau dem spannendsten Moment, dem „Auspacken“ des Gemeinschaftswerks, in Übergröße sehen.

Andreas Grellmann, Bernadette Maria Roolf, Matthias Bargholz, Jan Witte-Kropius (ARTdeFAK) und Hertha Ottilie van Amsterdam vom Theater Liebreiz, Foto: (c) Peng!Andreas Grellmann, Bernadette Maria Roolf, Matthias Bargholz, Jan Witte-Kropius (ARTdeFAK) und Hertha Ottilie van Amsterdam vom Theater Liebreiz, Foto: (c) Peng!

Die Mecklenburger Künstlergruppe ARTdeFAK mit Bernadette Maria Roolf, Andreas Grellmann, Jan Witte-Kropius und Matthias Bargholz – alle vier Absolventen der Fachschule für angewandte Kunst (FAK) Heiligendamm – hatte in den Tagen zuvor zur Paint-Performance mit ungewissem Ausgang geladen. Die Idee zu diesem Experiment war im Jahr zuvor entstanden, als die vier nach einem Konzept suchten, um die immense Größe der Kulturwerft auszunutzen und zu füllen. Überlegungen zu komplizierten Installationen mit Tüchern wurden wieder verworfen, doch dann kam die Eingebung: eine köstliche Leiche, aber quicklebendig. In Abwandlung des klassischen Cadavre Exquis sollte ein Gesamtkunstwerk riesigen Ausmaßes entstehen, ein gigantisches Puzzle auf 36 qm, aus 28 Einzelbildern zusammengesetzt. Innerhalb von 10 Tagen schuf unter enormem Zeitdruck und in einer Art Einzelhaft, abgeschirmt durch Stellwände wie um ein Krankenbett, jeder 7 Werke in unterschiedlichen Formaten. Keiner durfte die Arbeit der anderen sehen, als Strohhalm in der Schaffensflut dienten lediglich kleine Linien, die der „Bildnachbar“ als Anhaltspunkt auf das angrenzende Bild gemalt hatte. Alles war möglich, die große Kakophonie der Leinwände genauso wie die Erfindung der Harmonie.

So standen wir in der monumentalen Halle, mit Erwartungen, die sich im Ungewissen ergingen. Denn nun ging es darum, diesen angekündigten ungewissen Ausgang zu entdecken. Und nicht nur wir Zuschauer waren Entdecker, auch die Künstler selbst wussten nicht, was sie erwartete, kannte doch jeder von ihnen nur die eigenen Bilder. So standen wir also in der riesigen Halle. Die Tür vor uns, die wie in einer Kirche vom Hauptschiff in verborgene Seitenräume führte, war verschlossen, vergeblich suchte der Blick nach einem kleinen Vorgeschmack. Keine Eröffnung, in die man hineinspaziert, sondern ein Abwarten, das Kribbeln der Überraschung. Ein bisschen wie Weihnachten, aber würden uns die Gaben gefallen?

Hertha Ottilie van Amsterdam und Jan Witte-Kropius, Foto: (c) Peng!Hertha Ottilie van Amsterdam und Jan Witte-Kropius, Foto: (c) Peng!

Bevor das Warten zu drängend wurde, ergriff der „Head of Kulturwerft“ Markus Steeger das Wort und führte uns in das Thema des Abends ein. Danach übernahm die Travestie-Künstlerin und Chansonette Hertha Ottilie van Amsterdam voll Charme das Kommando und geleitete uns wie eine Kinderschar, den Künstlern hinterher – die natürlich den Vortritt hatten – bis vor das plurale Œuvre. Ein riesiger Cadavre Exquisitissimo präsentierte sich da unseren Blicken. Man musste laufen, um alles zu sehen, man stand und rätselte, wer wie wo welchen Faden aufgenommen und in seiner eigenen Sprache weitergesponnen hatte, man staunte über Übergänge, die keine Grenzen zu kennen schienen, an denen die Werke zweier Künstler eins geworden waren, und freute sich über offensichtliche Brüche, die den Fluss unterbrachen, um ihn mit doppelter Spannung wieder aufzunehmen.

Unverkennbare Handschriften verwoben sich ineinander und brachen doch immer wieder aus der Gemeinsamkeit aus. Der Blick saugte sich an den einzelnen Bildern, den Puzzleteilen fest, die doch keine Puzzleteile waren, da sich jede Leinwand klar als eigenständiges Werk zu erkennen gab, dennoch aber als Teil mit dem Ganzen verschmolzen war. Es war kaum genug Zeit, alles in sich aufzunehmen, als auch schon unaufhaltsam die Demontage, die Zerstörung des Gesamtwerks begann. Denn ja, es sollte als Großes und Ganzes nur eine Nacht blühen, eine echte Belle de nuit, eine farbenprächtige Wunderblume, die sich erst gegen Abend öffnet und am nächsten Tag schon vergangen ist. Die schönen Blüten würden abgezupft werden. In das mit Schrauben verbundene Werk sollten Lücken geschlagen werden, denn alle Bilder konnten bei der nun folgenden öffentlichen Auktion, die Hertha Ottilie van Amsterdam vom Theater Liebreiz humorvoll und stilsicher leitete, ersteigert werden. Nicht jeder, der sehnsüchtig blickte, konnte mitbieten, aber alle konnten wir uns noch eine Weile an den Bildern satt sehen, denn erst am nächsten Tag würde sich das Puzzle endgültig auflösen.

Hertha Ottilie van AmsterdamHertha Ottilie van Amsterdam

Die unvergängliche Vergänglichkeit, wir konnten sie sehen, frisch erblüht, ganz und doch geteilt, gemeinsam und alleine stark, und dass nur wir sie so sehen durften, bevor sie sich wieder auflöste, verlieh dem Abend einen besonderen Glanz. Leise flüsterte mir die vergehende Wunderblume im Hinausgehen noch zu: „Carpe diem.“


Fotos: (c) Peng!


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