Letzten Samstagabend in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle: Die Neuinszenierung des Phantoms der Oper mit der Musik von Peter Moss und Deborah Sasson in der Rolle der Christine steht auf dem Programm. Über 800 Besucher strömen in den Saal und nehmen ihre Plätze ein. Und dann kommt alles anders als erwartet.
Ein Mitglied des Ensembles tritt auf die Bühne und verkündet, dass Deborah Sasson schwer erkältet ist. Das Publikum hält den Atem an, wird aber im Folgenden getröstet: Deborah wird trotzdem singen, man atmet auf. Diesen Zustand der Irritation wird das Publikum jedoch aus verschiedenen Gründen bis zum Schluss nicht mehr los werden.
Aber alles der Reihe nach. Wie bin ich denn in dieses Musical geraten? Ich bin wahrlich kein Musical- oder Operetten-Fan. Nur die Linie 1 aus den 80er Jahren hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ansonsten mag ich Musicals nicht besonders, so gefühlsüberladen, teuer produziert und im Endeffekt unglaubwürdig. Zudem habe ich natürlich den gigantischen Erfolg des Lloyd-Webberschen Musicals Phantom der Oper registriert. Dieser Erfolg und die Begeisterung meiner Mitmenschen haben mich eher abgestossen. Ich gehe also mit keinen großen Erwartungen in dieses Musical und hoffe, dass ich die Zeit überstehen werde.
Dann beginnt die Ouvertüre, Peter Moss der Komponist dirigiert das Orchester. Die Musik wird elektronisch verstärkt und kommt aus Lautsprechern, die Sänger tragen Headsets mit Mikrofon. Man hört E-Gitarren und ich bin erstaunt, wie dieses scheinbar klassische Orchester abrockt. Da steckt Leben drin! Der Vorhang geht auf und wir hören eine klassische Arie aus Puccinis Gianni Schicchi. Deborah Sasson singt, sie singt hinreißend und hat eine tolle Präsenz. Ist sie nicht krank? Sie lässt sich nichts anmerken. Es geht rasant los und auch im Folgenden bleibt es kurzweilig. Das Personal der Pariser Opéra Garnier bietet dem Publikum eine gehörige Portion Komik, das sich auch nicht vor revueartigen Einlagen und burlesken Späßen scheut. Ab hier ist ein Teil des Publikums scheinbar überfordert. Man erwartet eher faszinierende und pathetische Szenen. Es zeigt sich, dass die Besucher Lloyd-Webbers Version des Phantoms im Kopf haben.
Ich bemerke, dass das Ensemble eine erstaunlich gute schauspielerische Leistung darbietet. Die Operndirektoren sprühen vor Charme und Esprit und verbreiten eine angenehme Leichtigkeit. Dabei nehmen sie sich selbst nicht allzu ernst. Insgesamt sind viele Rollen des Musicals zu sogenannten Typen bzw. Karikaturen ausgestaltet. Carlotta und auch der Inspektor erinnern eher an Slapstick-Figuren. Was für eine vielseitige, kontrastreiche Mischung! Aber sie funktioniert, ich fühle mich gut unterhalten!
Dann tritt das Phantom auf, eine merkwürdige Erscheinung, ganz gehetzt, unruhig, getrieben. Es erinnert teilweise an Batman. Aber im Laufe des Abends entwickelt sich das Phantom von einer comicartigen Schauergestalt zu einem Protagonisten, der differenziert und packend seine innere Zerrisenheit und Sehnsucht nach Liebe vor dem Publikum ausbreitet. Das ist auch das zentrale Thema des Musicals: Da ist ein Mensch ohne Liebe aufgewachsen und sehnt sich so sehr danach, geliebt zu werden. Was für ein Identifikationsangebot an die Zuschauer bietet hier die Rolle des Phantoms! Wer ist hier nicht berührt? In Christine sieht das Phantom seine Hoffnung erfüllt und alle Gedanken kreisen um sie. Für die Rolle der Christine Daee ist Deborah Sasson wirklich die denkbar beste Besetzung, sie ist so eine symphatische und wunderschöne Erscheinung, die dazu diese einmalige Stimme hat! Und heute abend ringt sie mir Respekt ab: Trotz ihrer schweren Erkältung, die in ihrem Gesicht wirklich Spuren hinterlassen hat, zeigt sie keine Schwächen. Das ist wohl nur möglich, weil ihr dieses Musical wirklich viel bedeutet und sie dabei ihr ganzes Herz investiert - auch das ganze Ensemble zeugt von diesem Engagement.
Die Hälfte des Musicals ist vorbei und ich fühle, dass sich die Musik, die Sänger und Schauspieler in mein Herz einschleichen und dieses immer mehr überwinden. Meine kritische Haltung bezüglich der literarischen Vorlage, es handelt sich um einen Schauerroman von Gaston Leroux, schrumpft zusammen. Ich geniesse den Abend, die Musik ist sehr innovativ hinsichtlich des virtuosen Crossovers von E- und U-Musik, fast postmodern und viel frischer als bei Llyod-Webber. (man verzeihe mir dieses Sakrileg!)
Der Abend geht dem Ende entgegen und die Musik von Peter Moss zeigt einige mitreißende dynamische Höhepunkte, die unter die Haut gehen. Am Schluss erklingt nocheinmal die glockenklare Stimme von Christine mit einer klassischen Arie aus Verdis La Traviata und ich fühle Liebe für dieses Musical. Unfassbar, das ist mir jetzt peinlich. Aber wie Deborah Sasson selbst sagte, Musik und Liebe sind die Mächte, die den Menschen am stärksten verändern können. Auch mich. Dieser Abend hat mich für die Welt des Musicals und der Operette gewonnen und hat mir auch die Schönheit der Oper wieder neu ins Bewußtsein gerufen. Ist es nicht ein guter Einfall, dieses Musical mit Höhepunkten der Oper zu garnieren? Die Handlung spielt ja in der Oper und die Arien bieten den Sängern die Möglichkeit, ihre Stimmen zu beweisen.
Das Bühnenbild des Musicals löst Irritationen aus. Ist man zu verwöhnt von der bombastischen Inszenierung bei Lloyd-Webber? In der MuK wird mit eher schlichten Mitteln ein Bühnenraum gestaltet: Mit Projektionen, einigen Requisiten, Rauch und Lichteffekten, aber sie sind sehr effektiv eingesetzt und erfüllen ihre Funktion, beeindrucken sogar teilweise mit atmosphärischer Dichte. Diese Neuinszenierung von Andreas Lachnit, Saliha Raschen und Ulrich Gerhartz ist ein fahrende Musical-Tournee. Dies muss man fairerweise erwähnen, grandiose Effekte sind da schlecht möglich. Immer wieder stelle ich fest, dass in unseren Köpfen die Version von Lloyd-Webber übermächtig ist. Nach der Vorstellung hör ich eine Frau im Klageton: "Wo waren denn die bekannten Ohrwürmer?" Ich denke, dass sehr viele Menschen heute Abend Lloyd-Webber sehen wollten und sich getäuscht gefühlt haben. Das ist aber ihre Schuld, man konnte sich informieren!
Also, dieses Musical funktioniert nur, wenn man jegliche Voreingenommenheit und jegliches Schubladendenken aufgegeben hat und bereit ist, sich das Herz öffnen zu lassen. Und diese Fähigkeit hat das Musical wahrlich! Die Neu-Inszenierung ist ein Geschenk an den Zuschauer, hinsichtlich der innovativen, grossartigen Musik, hinsichtlich der witzigen, spritzigen Inszenierung und der begeisternden schaupielerischen Leistung und ganz besonders hinsichtlich des wunderbaren Gesangs von Deborah Sasson, Axel Olzinger (Phantom) und vieler anderer Rollen.
Meine weibliche Begleitung fühlt sich heute abend auch beschenkt und bestens unterhalten. Wir gehen glücklich nach Hause und summen einige Melodien, die wirklich Ohrwurm-Qualität aufweisen. Sie lassen mich auch zu Hause nicht in Ruhe und ich lade mir bei Musicload.de den Soundtrack auf den Computer herunter. Seitdem läuft Tag und Nacht diese Musik auf meiner Anlage. Ja, ich habe es bereits gesagt, ich liebe dieses Musical! Und ich glaube, wenn diese Produktion wieder nach Lübeck kommt, werde ich mich sofort um Eintrittskarten bemühen...