Stefan Vogel: Draußen wird es leiser, Petri-Kirche

Kunst-Rundgang
Neue Ausstellungen in der Stadt

Momentan lohnt ein Kunstspaziergang durch die Lübecker Altstadt, um sich die neuesten Ausstellungen in vier verschiedenen Locations anzuschauen.

Mein erster Stop ist die Petri-Kirche, wo der in Leipzig lebende Stefan Vogel (39) den zweiten Teil seiner zunächst in der Oberbeck-Gesellschaft gestarteten Ausstellung aufgebaut hat. Es handelt sich um eine raumgreifende Installation aus insgesamt 130 Wäscheständern, die der Künstler in fünf Reihen übereinander zu einer begehbaren Skulptur gestapelt hat.

Unter dem Titel „Draussen wird es leiser“ hat er unzählige Kleidungsstücke, die er zuvor in Gips getränkt hat, an den Ständern aufgehängt. Kombiniert sind die erstarrten Textilien mit ca. 40 Fotos und Zeichnungen, die Löcher von Fundamenten zeigen. Die benutzten Klamotten hat er aus Kleider-Containern seiner Stadt geholt, um sie umzufunktionieren und in einen neuen Zustand der Erstarrung, des Stillstands einzufrieren.

Stefan Vogel: Draußen wird es leiser, Petri-KircheStefan Vogel: Draußen wird es leiser, Petri-KircheWie auch bei seiner Arbeit in der Overbeck-Gesellschaft, wo er langsam verdorrende Pappeln mit persönlichen Polaroids in Weckgläsern und halb ausgetrunkene Weingläser und Kelche kombiniert, geht es dem Künstler um die Sichtbarmachung von Vergänglichkeit und Beständigkeit, um Abschied und Trennung. Grundsätzlich geht es ihm immer um Widersprüchlichkeiten, wie Vogel im Interview betonte.

Einerseits wirkt die Wäsche auf den Ständern wie reingewaschen, aber andererseits auch als erstarrt in 50 Stufen von Grau, weil der jeweilige Gipsanteil bei der unterschiedlichen Textur des Materials „50 Shades of grey“, wie auch „50 shades of Faltenwurf“ hervorgebracht hat. Diese Zusammenhänge, wie auch der Titel der Arbeit sorgen zumindest für viel Gesprächs- und Gedankenarbeit bei den Betrachtern, wie ich bei meinem Besuch in der Petri-Kirche feststellen konnte.

Die Ausstellung in der Petri-Kirche läuft bei freiem Eintritt noch bis zum 29. August 2021 und ist Montag bis Sonntag von 11-17 Uhr zu sehen.

Weiter geht es in die Kunsttanke des Künstler-Vereins defacto Art am Holstentor. Dort haben sich die Lübecker Künstlerin Michaela Berning-Tournier und der Fotograf Thomas Schmitt-Schech zusammen getan, um dem Phänomen Zeit auf die Spur zu kommen, denn die steht nie still, ist oft flüchtig und ist meist nie genug vorhanden.

Ausstellungsraum Kunsthalle Defacto ArtAusstellungsraum Kunsthalle Defacto Art

Die Methoden, sich dieser relativen Dimension von Zeit und Raum zu nähern, sind einerseits die Installation (Berning-Tournier) und anderseits die Fotografie. So hat der Zeitfresser als Pappmaché-Monster alle Zeit der Welt, um in Ruhe Symbole unseres Lebens und der Zeit wie Tage, Monate und Jahre zu verschlingen.

Sehr stark auch die Wand-Boden-Installation aus Anwesenheitslisten, die belegen, wer da war oder nicht beim Kunstunterricht. Eben auch eine Frage von Zeit. Bei den inszenierten Fotos von Schmitt-Schech, die er bei einem Event vom Theater Combinale und Tanzort Nord geschossen hat, geht es um Bewegung und Veränderung, als Beschleunigung unter Zeitdruck und Entfremdung.

Foto von Thomas Schmitt-SchechFoto von Thomas Schmitt-Schech

Aber es gibt auch dynamische Straßenbilder (Speed), den „Flying Dutchman“ - ein scheinbares Geisterschiff, oder die „Ketten“, die die Skulptur oberhalb des Hansemuseums am Boden fesselt. Aber alles ist vergänglich, denn „rastlos rast die Zeit“, wie schon der Titel der Schau besagt.

Die Ausstellung in der Kunsttankstelle Defacto Art läuft bis zum 15.08., jeweils Do/Fr 15-18 Uhr, Sa/So 11-16 Uhr.

Am Holstentor vorbei geht der Spaziergang zurück in die Altstadt, und zwar in die St. Marien-Kirche, wo anlässlich des Jubiläumsjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ die Ausstellung „Paintings to remember“ des Berliner Malers Alexander Dettmar gezeigt wird. Gut einhundert Werke führen vor Augen, was seit 1938 fehlt, nämlich unzählige Synagogen, die von den Nazis geschleift, zerstört oder verbrannt wurden.

Mit seinen eindrücklichen Ölgemälden in erdigen Farben vor weißem Hintergrund entreißt der Künstler die verschwundenen Synagogen dem Vergessen. Dabei musste der Berliner Künstler, der normalerweise meist draußen arbeitet, ins Atelier zurückkehren, um die Gebäude mit Hilfe von alten Fotos und Bildern neu entstehen zu lassen, denn generell ist von den steinernen Gotteshäusern nichts übrig geblieben als vielleicht eine Gedenktafel. So bezeichnet der Künstler seine stillen, aber sehr eindringlichen Arbeiten auch als „ins Bild gesetzte Verlustanzeigen - ähnlich einer Totenklage - düstere Requien auf den verblassten Spuk unendlichen Leids“.

Alexander Dettmar: Paintings to rememberAlexander Dettmar: Paintings to remember

Zwar wurde die Lübecker Synagoge in der St. Annenstraße in der NS-Zeit nicht zerstört, weil das danebenliegende Kloster und Museum geschützt werden sollte, aber die Brand-Anschläge auf die Synagoge in den letzten Jahrzehnten, die ich selbst als Bewohner erleiden musste, zeugen von der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit wachsendem Antisemitismus und Judenhass in unserem Land. Noch ganz frisch sind die Erinnerung an den Anschlag auf die Synagoge und die dort feiernden Menschen in Hanau. Umso wichtiger und dringlicher ist diese sehr sehenswerte Schau in der Lübecker St. Marien-Kirche.

Die Ausstellung in St. Marien ist bis zum 15. September zu sehen. Eintritt 4 Euro in die Kirche.

Alte Meister - Neue KunstAlte Meister - Neue Kunst

Wer jetzt noch den Bogen um die Kirche unter die Arkaden des Kanzlei-Gebäudes nimmt, kann sich noch an den Groß-Fotos erfreuen, die im Rahmen der Kulturfunken-Aktion von Lübecker Bürgerinnen als „Alte Meister - Neue Kunst“ gezeigt werden. Dort sind Jung und Alt in der Gestalt alter Meisterwerke abgelichtet worden. Ein großer Spass für alle Beteiligten, aber auch für die Betrachter. Egal ob als Kinder-Variation des Heiligen Abendmahls, als moderne Skulptur oder als alter Ölschinken. Schöne Idee und sehenswert.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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