Steffen Kubach (Zweiter Müllsammler), Emma McNairy (Lena), Caroline Nkwe (Dritter Müllsammler), Chor des Theater Lübeck

Zur Uraufführung von Richard van Schoors „L'Européenne“ in Lübeck
Von Müll und Schrott und von der großen Liebe

Der Abend geht an die Nieren: Ein Video auf einer riesigen Projektionsfläche lässt das Elend derer sehen, die an und von einer riesigen Müllhalde leben - irgendwo in Afrika. Unser europäischer Abfall lagert dort, von skrupellosen Leuten verkauft, trotz des Basler Übereinkommens von 1992.

Wir sind den toxischen Unrat los, riechen den Gestank beim Vermodern und den Qualm beim offenen Verbrennen nicht, wissen die Gifte und die Bodenverseuchung weit weg. Lionel Poutiaire Somé, in Burkina Faso geboren und jetzt in Köln lebend, hat das Leid der Bewohner gefilmt, auch ihre „Cleverness“, mit der sie aus den Abfällen sich eine Existenz zu gewinnen trachten, mit bloßen Händen und Füßen. Sie werden Opfer ihrer Unkenntnis darüber, was ihr Tun für ihre Gesundheit bedeutet.

Auch das berührt: Die hoffnungslose Liebe zwischen einer Weißen und einem der Schrottverwerter. Sie ist verbunden mit Fluchtszenen übers Meer, Leben in Auffanglagern und unter Fremdenhass. Eingefangen ist das in Filmsequenzen teils von Somé, teils aus anderen Quellen. Herzstück aber ist sein Kurzfilm „Die falsche Seite“ mit Lena und Bouba im Zentrum. Lena ist die Europäerin, die der Operntitel meint, eine Berlinerin und Aktivistin in einer der vielen NGOs (= Non Governmental Organisation), die das Unrecht dieser Welt mindern wollen. Sie leidet an der Ungewissheit: „Wer ist der Herrscher meiner Seele?“, Ausdruck einer bipolaren Störung, durch die sie überaus suizidanfällig ist.

Owen Metsileng (Bouba), Emma McNairy (Lena)Owen Metsileng (Bouba), Emma McNairy (Lena)

Aber sie lernt durch ihre Tätigkeit auf der Müllhalde, wo sie die kontaminierten Böden untersucht, Bouba kennen und lieben. Er ist anders, hoffnungsvoll und in der Lage, den Elektroschrott zu nutzen. Er entzieht ihm Geheimnisse wie Kontonummern und Passwörter, die er dann verkauft. „Europas Festplatten werden unser Haus bauen“, sagt er Lena, erfüllt von seiner Liebe und seinem falschen Bild von dem anderen Kontinent. Als sie zurückkehren muss, reist er ihr über die Mittelmeerroute nach, findet sie, erreicht sie aber innerlich nicht mehr. Mit Tabletten bringt sie sich um, und Bouba, ausgegrenzt, wird als ihr Mörder verhaftet. Trost für ihn: Die Ahnen sprechen ihn frei, sie sehen keinen Mord.

Die Theater Lübeck und Halle haben sich in einem großen Opernprojekt zusammengetan, das durch den Fonds Doppelpass „I like Africa and Africa likes me – I like Europe and Europe likes me“ der Kulturstiftung des Bundes unterstützt wurde. Es begann 2018 in Halle mit Giacomo Meyerbeers „L‘Africaine“. Der in Kapstadt geborene Komponist Richard van Schoor hatte die Oper aus dem 19. Jahrhundert experimentell verfremdet. Anfang April wird das in Lübeck zu erleben sein. Mit der Uraufführung seiner als „Kino-Oper“ plakatierten „L'Européenne“, zu der ihm der aus Freising stammende Thomas Goerge das Libretto verfasst hatte, lieferte Theater Lübeck jetzt seinen Beitrag zum Doppelpass (6. März 2020).

Steffen Kubach (Bootsflüchtling 2), Youngkug Jin (Bootsflüchtling 3), Caroline Nkwe (Bootsflüchtling 1), Chor des Theater LübeckSteffen Kubach (Bootsflüchtling 2), Youngkug Jin (Bootsflüchtling 3), Caroline Nkwe (Bootsflüchtling 1), Chor des Theater Lübeck

Zwei Themenkreise werden exponiert, das Soziale, das mit dem Umweltproblem verknüpft ist, und das Inividuelle, das zwei Menschen betrifft. Beides verkettet zwei Welten. Afrika ist die eine, die die Oper als von den Ahnen bestimmt zeigt, von dem Credo „Es wird kommen, wie es bestimmt ist“. Ein farbenfrohes Video vermittelt das, bei dem Priester um eine Hasengöttin Boubas Abschied zelebrieren. Bouba wird gewarnt, will dennoch seine Zukunft selbst bestimmen, hofft auf die Europäerin Lena, ohne zu ahnen, dass der Kranken ihre Medizin nicht hilft, sie an ihr stirbt. Sie steht für die andere Welt, für Europa. So werden die beiden zu Symbolfiguren, dort das seinen Ahnen verpflichtete Afrika, hier das psychisch kranke Europa.

Ein internationales Künstlerkollektiv hat an dieser Uraufführung mitgewirkt. Thomas Goerges knapper, zugleich vielschichtiger Text, der beiden Kontinenten Raum und Personal gibt, ist ganz in klassischer, fünfaktiger Manier gestaltet. Er nutzt sogar Leitmotive, auch klassische. Eines davon, gleich am Anfang verwandt, ist der Anfang von einem Beethoven-Lied: „Ich liebe dich so wie du mich, am Abend und am Morgen“. Diesem Libretto ordnet sich van Schoor ganz unter. Das Wort genieße „oberste Priorität“, bekräftigt er im Faltblatt zur Lübecker Aufführung. Er schätze das Libretto, weil es vieles thematisiere, „die Zerstörung der Umwelt, toxische Belastungen, Flüchtlingsströme und Migration, rechtsradikalen Populismus, Rassismus, die Aufarbeitung der Folgen einer menschenverachtenden Kolonialisierung“.

Youngkug Jin (Bootsflüchtling 3), Caroline Nkwe (Bootsflüchtling 1), Steffen Kubach (Bootsflüchtling 2), Charity Collin, Serge Fouha, Owen Metsileng (Bouba), Abdoul Kader Traoré (Bouba), Chor des Theater LübeckYoungkug Jin (Bootsflüchtling 3), Caroline Nkwe (Bootsflüchtling 1), Steffen Kubach (Bootsflüchtling 2), Charity Collin, Serge Fouha, Owen Metsileng (Bouba), Abdoul Kader Traoré (Bouba), Chor des Theater Lübeck

Das ist eine Überfülle aktueller Probleme, die in 75 Minuten allenfalls zu benennen sind, keinesfalls fassbar gemacht werden können. Dennoch kann van Schoors sehr variable Musik der Oper einen inneren Zusammenhalt geben. Sie enthält Elemente aus europäischer Tradition wie Episoden mit lyrischem Melos oder dramatischen Bläserattacken. Sie hat schrille oder choralartige Chöre, unterschiedliche Sologesänge, auch ein Liebesduett mit harmonischem Terzschluss. Das Afrikanische ist eingebunden durch komplexe rhythmische Abschnitte oder durch imitierte Tierstimmen. Atemgeräusche oder die von Alltagsmaterialien erweitern die Klangwelt, die dennoch stets in nachvollziehbarer Art zur Handlung bleibt.

Auch dem Österreicher Daniel Angermayr, für die Ausstattung verantwortlich, gelingt es, vieles der diversen Ansätze aufzufangen. Vor allem den Videos, die mit ihrem fotografischen Realismus schnell dominieren, muss auf der Bühne etwas entgegengestellt werden. Manches verdoppelt er durch eine andere Bedeutungsebene. Dazu gehört der Müllberg, der sich auf dem Bühnenboden fortsetzt. Später ist es zum Beispiel Lenas Tablettentod. Auch die Kostüme erklären viel: Bouba läuft unbekümmert mit weißem T-Shirt und Bluejeans umher, Lena dagegen im gelben Schutzanzug. Die bedeutsame Ahnenbeschwörung hat auf der Bühne andere kultische Gewänder als die im Video. Noch eindrucksvoller geschieht das in Szenen, bei denen der Vordergrund mit dem Dahinter korrespondiert. Dazu gehört Lenas Abschied vor dem aufsteigenden Qualm am Horizont oder das brutal trennende Gitter im Auffanglager der Bootsflüchtlinge.

Owen Metsileng (Bouba), Abdoul Kader Traoré (Bouba)Owen Metsileng (Bouba), Abdoul Kader Traoré (Bouba)

Zwei der Akteure aus dem Kollektiv stammen aus Burkina Faso. Der eine, Abdoul Kader Traoré, ist als Performer der Hauptfigur an die Seite gestellt, der andere ist der Filmemacher Somé, der auch als Regisseur Spannendes zu gestalten versteht. Nur in wenigen Momenten hat man das Gefühl, dass die Realität des auf der Leinwand Gezeigten die Aktion auf der Bühne erdrückt. Häufiger scheint der Film die Solisten, auch den großartig sich einsetzenden Lübecker Chor (Einstudierung: Jan-Michael Krüger) intensiv herauszufordern.

Emma McNairy wird dabei zu einer eindrucksvollen Lena, deren empfindsamer Gesang die ganze Entwicklung dieser Figur noch verfeinert. Ihr Partner als Bouba ist der Tenor Owen Metsileng, auch er berührt durch Stimme und Intensität im Spiel. Gleich in mehreren Rollen bewähren sich der immer zuverlässige Bariton von Steffen Kubach und der Bass Youngkug Jin, Mitglied im Opernelitestudio. Dem gehörte vor wenigen Spielzeiten auch Caroline Nkwe an. Erfreulich zu erleben, wie sie stimmlich noch nuancierter geworden ist und ihre Spielfreude bewahrt hat.

Da auch das Orchester unter Andreas Wolf Leitung sehr differenziert den ungewohnten Anforderungen nachkam, entstand eine qualitativ hochstehende Uraufführung, die als musikalisches und theatralisches Ereignis überzeugte. In ihrer Aussage entließ sie den Zuschauer nachdenklich oder ratlos.

Owen Metsileng (Bouba), Emma McNairy (Lena), Chor des Theater Lübeck, EnsembleOwen Metsileng (Bouba), Emma McNairy (Lena), Chor des Theater Lübeck, Ensemble

Kritisch anzumerken wäre, dass die Überfülle der gleichzeitigen Eindrücke durch mehrfache Ebenen und Probleme in Musik, Schauspiel, auch mit Verdoppelung von Figuren, Videos, durch gehörten und zu lesenden Text auf der Übertitelungsanlage oder auf der Bühne, deutsch, englisch, sogar lateinisch abgefasst, den Zuschauer an seine Grenzen bringen muss. Vieles geht verloren, auch durch oft sehr elitäre Anspielungen, die auf Sallust z.B. oder Dante im Schlussbild.

Die Theaterleute beschäftigen sich über eine lange Zeit mit Abkürzungen auf dem Zelt z.B. oder in der Inhaltsangabe, auch mit Bezügen zu anderen Produktionen dieser Spielzeit, zu anderen Kulturinstitutionen wie dem Völkerkundemuseum. Das zu dieser Uraufführung konzipierte, diesmal etwas weniger magere Faltblatt, das wieder an seiner praktischen Lesbarkeit krankt, auch die Artikel in dem Musiktheater-Magazin „IMaterial“ helfen nur einem groben inhaltlichen Verständnis. Warum kommt man dem Zuschauer so wenig entgegen und gibt ihm konkretere Verstehenshilfen?

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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