Foto: (c) Olaf Malzahn

Musikhochschule Lübeck
Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ als sinnliches Erlebnis

Der Zuschauer muss am Eingang warten. Wenn er schließlich eintreten darf, macht ihm Dämmerlicht und Nebel die Orientierung schwer. Die Luft fühlt sich feucht an, riecht fast etwas modrig.

Wenn sich langsam der visuelle Eindruck ordnet, erkennt er schwache Lichtkegel, die von oben neun Figuren ertasten. Stumm stehen sie da, drei mal drei, ein Quadrat bildend, bis sie sich hinknien, dann sich wie zum Gebet nach vorn neigen. Ihr hechelndes Atemholen sind erste akustische Ereignisse.

So begann eine alle Sinne beeindruckende Inszenierung von Udo Zimmermanns „Weißer Rose“. Ganz anders, doch ebenso beeindruckend ist sie wie die, die 1987 die Opernsaison eröffnete, nicht im Theater, sondern auf dem Oberchor der Katharinenkirche. Der Komponist selbst dirigierte seine gerade vor einem Jahr uraufgeführte zweite Fassung, dabei Kirsten Blanck und Henner Leyhe als Sophie und Hans. Beide sind mit der Musikhochschule verbunden, sie als ehemalige Studentin und er als Gesangslehrer.

Die neuerliche Bekanntschaft mit dem Werk ist dem türkischstämmigen, 1969 in Hessen geborenen Selcuk Cara zu verdanken, der sie mit Studenten der Musikhochschule Lübeck erarbeitete (besuchte Aufführungen: am 15. und 23. Juni 2019). Wenn Zimmermanns Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen das Hitlerdeutschland schon für sich ein bewegendes, auch beklemmendes Werk ist, steigert sich der Eindruck durch Caras Bühnenpräsentation.

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Zwei Spielorte nutzt die Hochschule für die Reihe, die sie „Junges Musiktheater“ nennt und in der sich ihre Gesangsstudenten in ungewöhnlichen Aufgaben erproben können. Das geschieht auf zweierlei Art, einmal mit einem engen, intimen Kontakt zum Publikum in einem kleineren Saal, dann distanziert zu ihm auf einer großen Bühne. Gerade bei dieser Einstudierung faszinierte, wie sich das unterschiedlich auswirkte. Hoch, nahezu quaderhaft ist der Raum in Bad Oldesloes Kultur- und Bildungszentrum, in dem dreimal gespielt wurde. Er ähnelt einem Innenhof einer abgeschlossenen Haftanstalt. Licht muss durch Vorhänge gar nicht erst ausgesperrt werden.

Nackte Wände sind es an drei Seiten, dunkel und abweisend. Die vierte Seite begrenzt eine Art Seitenschiff, dessen eckige Pfeiler eine Empore tragen. Dort wurden die Musiker positioniert. Zimmermann hatte für 15 Instrumente komponiert, Arno Waschk später das Ensemble reduziert, auf Flöte, Horn und Schlagzeug, dazu Klavier und zwei Violinen, eine alternierend mit Viola. Quasi unsichtbar für den Besucher im unteren Bereich kommt die Musik von oben, scheinbar aus dem Nirgendwo. Gleichermaßen entfällt auch jede Unterstützung für die Sänger, sie können den Dirigenten nicht sehen, sind auf sich gestellt.

Zimmermanns teils schrille Klänge, die Marschtritte, Kettengerassel oder Eiseskälte nachbilden, wirkten überdeutlich, bedrohlich. Auch anderes klang, wie der Walzer oder die Erinnerungsbilder in kontemplativen Momenten, in der harten Akustik wenig intim. Das betraf auch die Stimmen. In der intensivierenden Nähe zu den Sängern verstärkten sich die Emotionen. Zudem hatte man nur sehr wenige Stühle aufgestellt, am Einlass sogar zum Umherwandeln aufgefordert. Wer dem nachging, musste sich in die Handlung eingebunden fühlen, mit den kraftvollen Stimmen direkt an seinem Ohr.

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Der Große Saal der Musikhochschule Lübeck konnte den Eindruck von Abgeschlossenheit nicht in gleichem Maße wachrufen, auch wenn die Bühnenfläche auf Saalniveau abgesenkt und damit verkleinert wurde. Zwar machte auch hier Nebel die besondere Situation ruchbar, auch die Verdunklung, aber die Weite des Bühnenbodens war schwerer zu füllen. Die Instrumentalisten agierten hier ebenfalls hoch auf einem schwarz verhängten Podest, allerdings hinter den Protagonisten. Das war ein Gewinn, da sich die Klangfarben wie auch die Stimmen unter den akustischen Bedingungen des Konzertsaals besser mischten und entfalten konnten. Nähe suchten jetzt die Sänger, indem sie sich von der Bühne herab zum Publikum bewegten, sich seitwärts im Raum aufstellten.

All das entwickelte eine besondere Faszination, mehr noch, dass Zimmermanns Zwei-Personen-Stück hier von neun Sängern geboten wurde, wobei Sophies Part auf sieben, der ihres Bruders Hans auf zwei Stimmen verteilt wurde. Die Vervielfachung könnte das individuelle Leid der Geschwister verkleinern. Die Inszenierung aber schaffte eindrucksvoll zu erinnern, dass Gleiches noch vielfach in autoritären Staaten geschieht, Verfolgung und Mord an denen, die Untaten anprangern oder ihnen aus Gewissensgründen widersprechen.

Foto: (c) Olaf MalzahnFoto: (c) Olaf MalzahnDenn die Art, wie Udo Zimmermann das Leid von Sophie und Hans Scholl vertonte, nimmt mit, auch nach 33 Jahren seit der Uraufführung dieser Fassung. Sie wirkt durch ihre kantatenhafte Gestaltung sowie durch die allgemein gültigen Prosa- und Lyriktexte. Sie eröffnen eine weite Perspektive über das individuelle Schicksal der Geschwister hinaus, sprechen für alle, die sich gegen jedwede menschenfeindliche Vereinnahmung in autoritären Regimen wenden.

Unter der musikalischen Leitung von Robert Roche hatten die Studenten der Musikhochschule mit dieser Inszenierung eine eindrucksvolle politische Lehrstunde gestaltet, in hoher szenischer Dichte und von bemerkenswerter musikalischer Qualität. Ein Manko war die Textverständlichkeit, ein Grundproblem und schwer lösbar bei einer internationalen Studentenschaft. Nur einzelne Wortphrasen zu erhaschen ist aber bei solch einem anspruchsvollen Inhalt zu wenig. Nicht einmal der Programmzettel gab Hilfe, indem er die Texte oder musikalischen Szenen kurz skizzierte.

Fotos: (c) Olaf Malzahn

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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