Emma McNairy (Mary), Evmorfia Metaxaki (Mizi), Caroline Nkwe (Milli), Wioletta Hebrowska (Eine Spanierin), Foto: Steffen Gottschling

Franz Schrekers Oper als Lübecker Erstaufführung
„Der ferne Klang“ ganz nah

Das Opernwerk von Franz Schreker (1878 bis 1934) ist wenig bekannt, nicht nur in Lübeck. 105 Jahre nach der Uraufführung in Frankfurt/Main ist nun „Der ferne Klang“ in einer sehr ungewöhnlichen Inszenierung in Lübeck erstmals zu erleben.

Die größte Überraschung ist, dass sogar die erste Pause in ein Gesamtkonzept einbezogen ist, indem die Glitzershow eines Halbweltsalons sich in Foyer und Wandelgänge ausbreitet, wo das „Personal“ bedient oder zusammen mit dem Publikum lustwandelt. Während des zweiten Aktes im Tanzcasino, der „Casa di Maschere“, sind die Türen geöffnet, als seien die Zuschauer Gäste des Etablissements, als seien sie Teilnehmer an der amourösen Selbstversteigerung der Attraktion des Hauses. Die Regie übertrumpft das noch durch den Auftritt eines Kinderballetts aus vier Mädchen und zwei Jungen. Sie fallen per Losverfahren den bietenden „Herren“ zu. Das mag grenzwertig sein, ist aber durch das Libretto als starkes Handlungsmotiv vorbereitet. Denn das Abgleiten der Protagonistin wird damit motiviert, dass ein Vater seine Tochter wegen seiner Spielschulden „verkauft“.

Gerard Quinn (Dr. Vigelius), Cornelia Ptassek (Grete), Chor des Theater Lübeck, Foto: Steffen GottschlingGerard Quinn (Dr. Vigelius), Cornelia Ptassek (Grete), Chor des Theater Lübeck, Foto: Steffen Gottschling

Franz Schreker komponierte nicht nur die Musik, er verfasste auch die Bücher zu seinen Opern, wobei das zum „Fernen Klang“ unverkennbar mit biografischen Zügen gewürzt ist. In drei Akten mischt es Sozial- mit Künstlerproblematik, dargestellt an der Liebesgeschichte von Fritz und Grete. Fritz ist ein junger Komponist, Grete die Tochter eines kleinen Beamten, dessen Spiel- und Trunksucht die Familie ins Verderben treibt. Große Duett-Szenen rahmen die Handlung. Gleich zu Beginn ist es der Fortgang von Fritz, den Grete zu halten versucht. Er hofft in der Ferne, seine künstlerische Offenbarung, den besonderen Klang, zu finden. In der Schlussszene treffen sie nach vielen Irrungen und Wirrungen wieder aufeinander. Fritz erkennt seine Fehlentscheidung. Dazwischen liegen 15 Jahre, die in Ausschnitten Gretes „Werden“ zeigen.

Nach der Flucht aus dem Elternhaus, einem Selbstmordversuch und der „Rettung“ durch eine Kupplerin im ersten, zeigt der zweite Akt sie als gefeierte Attraktion in jenem Tanzcasino. Dort kommt es zu einer neuerlichen Begegnung mit Fritz. Er gewinnt in einem Wettstreit, bei dem sie sich dem hingeben will, der sie mit einem Lied am stärksten rühren kann. Fritz, der immer noch seinen Klang nicht gefunden hat, ist jedoch von dem Leben Gretes angewidert und beschimpft sie als „Hure“. Im dritten Akt schließlich hat Fritz seine Oper vollendet. Die Aufführung hat zunächst Erfolg, aber das Finale findet keine Gnade. Grete, inzwischen zur Dirne herabgesunken, hat das Stück mit angehört und ist tief betroffen. Ein letztes Treffen ist ihnen vergönnt, das aber kein glückliches Ende hat. Fritz, nun alt und müde, erkennt, dass er sein, auch das Leben seiner Geliebten zerstört hat. Er will zwar das Finale seiner Oper neu gestalten, findet dazu aber nicht mehr die Kraft.

Cornelia Ptassek (Grete), Ensemble, Chor, Foto: Steffen GottschlingCornelia Ptassek (Grete), Ensemble, Chor, Foto: Steffen Gottschling

Viele Rollen, vor allem Männer, benötigt diese Oper, um die einzelnen Stationen lebendig werden zu lassen. Jochen Biganzoli hat dabei eine glückliche Hand, die Grete Umschwirrenden sehr bewegt durch die Szenen zu führen. Zusätzlich hilft Wolf Gutjahrs Bühnenbild. Es zeigt bereits im ersten Akt den Grundsatz, dass in einer offenen Welt sich keiner entwickeln kann. Eine Lattenkonstruktion mit Wänden, die nichts verbergen, steht für das Elternhaus. Zusätzlich wird das schäbige Innere in Tun und Ausstattung auf das Dach projiziert, alles nach außen gekehrt. Es ist eine Welt, in der die vielen Kumpane des Vaters durch das elterliche Haus wabern. Nirgendwo ist Abgeschlossenheit, die Grete ein Leben in Geborgenheit bieten könnte. Im zweiten Akt genügt dann ein Flittervorhang, die Schein- und Glitzerwelt, in der sie sich jetzt befindet, optisch zu präsentieren. Sinnfällig setzt darin ein durchsichtiger, aus dem Bühnenhimmel herabschwebender Kasten um, dass ihr Leben sich in einem gläsernen Käfig abspielt. Auch die Halbwelt mit willigen Mädchen und den Männern, die sie als Objekt sehen, bekommt grotesk Anzügliches.

Der dritte Akt schließlich hatte seine eigene Qualität, sprengte allerdings das bisherige Regiekonzept. Die Musik wird darin zum Thema, folgerichtig das Orchester aus dem Graben auf die Bühne geholt. Zunächst erklingt es aus dem Hintergrund, während vor ihm die den Schluss vorbereitenden Szenen ablaufen. Dann schiebt sich das Podest mit den Musikern immer weiter nach vorn. Fritz taucht aus dem Orchester auf, beschwört den fernen Klang herbei und dann Grete zu sich auf die Bühne, so dass es zur letzten Begegnung kommt. Sie geschieht in der Art einer konzertanten Aufführung. Die Liebenden formulieren nur mehr ihr Inneres, ohne es darzustellen. Der Tod von Fritz in den Armen Gretes, wie es das Libretto wollte, bleibt so real aus, verwirklicht sich nur in der Musik.

Zoltán Nyári (Fritz), Philharmonisches Orchester, Foto: Steffen GottschlingZoltán Nyári (Fritz), Philharmonisches Orchester, Foto: Steffen Gottschling

Das alles verlangt große gesangliche und schauspielerische Überzeugungskunst. Die Münchnerin Cornelia Ptassek, jung und schlank, konnte beides. Sie ist eine optisch ansehnliche Sängerin, die mit ihrer Stimme zudem keine Schwierigkeiten hatte, den Ansprüchen dieser Partitur nachzukommen. Denn Schrekers Schreibweise fordert viel, ein flexibles Parlando mit gelegentlich deutlichen Puccinismen, dazu auch lyrische und dramatisch heftige Partien – in ihrer Vielfalt eine große Aufgabe, von der Sängerin groß bewältigt. Ihr Partner als Fritz war der ungarische Tenor Zoltán Nyári, der mit einem farbenreichen, in allen Bereichen sehr sicheren und überzeugenden Tenor auch dieser Rolle ein ungewöhnlich präsentes sängerisches Gewicht gab – bis hin zur bewegenden Schlussszene.

Diesen beiden Gästen stand nahezu das gesamte Ensemble zu Seite. Dass es in Lübeck nur klein ist, nutzt Biganzoli für einen überzeugenden Kunstgriff. Nahezu alle mussten in mehrere Rollen schlüpfen, wodurch das Immer-Gleiche des männlichen Verhaltens, das nicht an Stände gebunden war, zum Tragen kam. Taras Konoshchenko etwa war mit seinem fülligen Bass und seinem intensiven Spiel zunächst der schmierige Wirt, dann der eitle Baron. Auch der junge Koreaner Johan Hyunbong Choi, vor kurzem noch im Opern-Elite-Studio, jetzt im Ensemble, verkörperte mit seinem kraftvollen Bariton einen Schmierenschauspieler, dann den Grafen. Gerard Quinn leiht dem Winkeladvokaten Dr. Vigelius und einem der Casinobesucher seinen agilen Bariton, und Steffen Kubach ist zunächst als Vater Gretes und als Zweiter Chorist wie immer präsent. Unter den Frauen bewies Wioletta Hebrowska wieder einmal ihre Wandlungsfähigkeit und stimmliche Qualität als das kupplerische Weib, als Spanierin, Kellnerin und eines der Mädchen im Etablissement. Stimmlich groß spielten Evmorfia Metaxaki, Caroline Nkwe und Emma McNairy Gretes Glitzerschwestern.

Zoltán Nyári (Fritz), Cornelia Ptassek (Grete), Chor, Foto: Steffen GottschlingZoltán Nyári (Fritz), Cornelia Ptassek (Grete), Chor, Foto: Steffen Gottschling

Interims-GMD Andreas Wolf leitete beherzt. Ein wenig mehr Finesse bei den reinen Orchesterpartien hätte die spätromantischen oder impressionistischen Klangwirkungen noch verstärken können. Zumindest klang das Orchester von der Bühne besser als aus dem Graben, so dass das große Vor- oder Zwischenspiel sich fein entfaltete. Zudem zeigt Schreker sich auch trotz seiner stilistischen Vielfalt als ein guter Komponist darin, dass er sorgfältig das Verhältnis von Orchestergraben und Bühne austariert. Das Lübecker Orchester fühlte sich offensichtlich wohl mit dieser Aufgabe, zumal es auch mit Extras an Bühnenmusik als Zigeunerkapelle oder venezianische Banda gefordert war.

Der Abend wurde lange bejubelt. Schreker und seine Interpreten haben das Lübecker Publikum gewonnen.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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