Dem Theater Lübeck ist mit Georg Friedrich Händels „Ariodante“ eine packende Inszenierung gelungen, beachtlich für ein Theater, das finanziell zu kämpfen hat und dennoch sein Publikum außergewöhnlich begeistert. Es ist ein Haus, das sich nicht leisten kann, nur die historische Aufführungspraxis zu bedienen. Es muss seine Zuschauer auf breiterer Basis locken.
Das tut es mit zunehmendem Erfolg mit Werken wie Purcells „The Fairy Queen“, Glucks „Armide“, auch Cimarosas „Operndirektor“ in Zusammenarbeit mit der Musikhochschule. Der Mut der Operndirektorin Katharina Kost trägt Früchte, nach sehr viel Wagner und Verdi anderes zu entdecken, vor allem beim Blick in die Vergangenheit. Jetzt (Premiere: 28. April 2017) hatte man sich der Oper „Ariodante“ angenommen, der wie bei der „Euryanthe“ oder beim „Lohengrin“ eine Episode aus Ludovico Ariosts Versepos „Der rasende Roland“ zugrunde liegt.
Kleiner historischer Exkurs
Selten findet man Barockopern in den Spielplänen von Stadttheatern, auch in Lübeck war seit etlichen Jahren nichts dergleichen zu erleben. 1996 war es „Ipermestra“, ein Pasticcio nach Metastasio und mit Musik von Hasse, Gluck, Galuppi und Lampugnani. Erinnern wollten Theater, Musikhochschule und Junge Oper an die erste weltliche Opernaufführung im Jahre 1746. 1989 hatte das Theater bereits eine Kirchenoper erarbeitet. Es war „Absolon“, ein Werk des Lübecker Kirchenorganisten Adolph Carl Kunzen (1720-1781). Auch aus Händels umfangreichem Schaffen war wenig an der Trave dargeboten worden, 1980 der „Orlando“ und zweimal (1926 und 1939) der „Xerxes“. Das war’s. Dabei wäre nicht auszudenken, wenn etwa Johann Mattheson oder Händel doch in Lübeck Anna Margreta Buxtehude geheiratet hätten. Dies war bekanntlich die Bedingung, Nachfolger von Vater Dietrich an St. Marien zu werden. Stattdessen aber hatten alle irgendwie dazu beigetragen, Hamburg zur Opernstadt zu machen.
Eine brisante Intrige
Doch führt die eheliche Verweigerung Matthesons und Händels, auch die von Bach, die sicher allesamt den Vater enttäuschten, gedanklich zum „Ariodante“ zurück. Dort beginnt das Geschehen konträr damit, dass ein glücklicher Vater, der König von Schottland, der Wahl seiner Tochter Ginevra zustimmt. Auch er möchte Ariodante als Schwiegersohn und Nachfolger sehen. Dass es nicht dazu kommt, ahnt der Opernbesucher, denn Herzog Polinesso, ein abgewiesener Rivale, schickt sich früh an, die ihn leidenschaftlich liebende Dalinda für seine Rache zu benutzen. Sie ist Ginevras Dienerin und wird von Lurcanio, dem Bruder Ariodantes, heiß verehrt. Auch sie ist ihm innerlich zugetan. Dieser Exposition unterschiedlicher Liebeszustände im ersten Akt folgt ein zweiter, sehr dunkler Akt, in dem sich Polinesso austobt, der sein intrigantes Tun als Kunst darstellt. Er treibt Ariodante in die Verzweiflung, das enttäuscht Ginevra und den Vater, der zudem der Tochter misstraut, und bringt Dalinda in rasende Verzagtheit über ihre Verblendung, als sie im dritten Akt erkennt, dass sie nur böses Spielzeug war. Gelöst wird die Wirrnis durch ein Gottesurteil, das wieder Ordnung in die Gefühlswelt bringen soll, aber nur äußerlich die inneren Wunden kittet. Lurcanio führt es aus, tötet im Zweikampf den Bösewicht Polinesso und gewinnt Dalinda. Und auch Ginevra und Ariodante finden sich.
Eine feinsinnige Inszenierung
Doch dieses glückliche Ende hat einen faden Beigeschmack. Kunstvoll gelingt es Händel und seinem Librettisten Antonio Salvi zu verdeutlichen, dass die Charaktere nicht mehr die gleichen unbeschwerten Liebenden wie anfangs sind. Wolf Widders Regie macht das sehr plausibel, indem er die innere Zerrissenheit herausstellt. Er gibt der Ginevra und auch dem Ariodante zwei Tänzer zur Seite, die er Animus und Anima nennt, und erreicht damit zweierlei. Erstens ersetzen sie das Ballett, das Händel in dieser Oper als integralen Bestand vorsah, zum anderen verdeutlichen sie das ambivalente Gefühlsleben der Getäuschten. Geschickt bezieht Kati Heidebrecht in ihrer Choreografie in die Tanzbewegungen immer wieder die Protagonisten ein. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die ins Groteske weisende Idee, sie von zwei Männern gestalten zu lassen. Die Anima dreht ihre Pirouetten in Lederjacke, darunter ein ledernes Mieder, dazu mit weißem Tutu, die kräftigen Männerbeine in Netzstrümpfen und Stiefeln. Der Animus ist elegant in engem schwarzem Anzug gekleidet, unter der Jacke aber mit bloßem Oberkörper.
Auch Polinesso, wie Ariodante als Hosenrolle gestaltet, bekommt eine Schar von dienstbaren Geistern in verfremdender Verkleidung an die Seite gestellt. Sie machen in vielen Szenen deutlich, dass das Böse ständig anwesend ist, werden von ihm an breiten Bändern wie Tiere geführt. Das gibt Polinesso diabolische Züge, hebt die Figur als böses Prinzip heraus, erklärt szenisch, dass alles Gefühlsleben zu manipulieren ist. Ariodante und Dalinda, selbst der Vater lassen sich blenden, versagen in ihrer Liebe, deren Basis Vertrauen sein sollte. Auch dafür findet Rolf Widder stimmige Bilder, wenn die breiten Bänder, Ariodante als Augenbinde umgelegt, sein Ein„sehen“ verhindern.
Grandioser Gesang
Pierre Albert unterstützte durch eine eher karge Ausstattung die Wirkung, allerdings bestimmte das Bühnenbild im ersten Akt ein aufwändiges stegartiges Gebilde, das fremd wirkte und auffällig wenig genutzt wurde. Ein paar Teppiche auf dem Boden, eine Art Thronsessel und ein Stuhl, dazu ein üppiger Kronleuchter, mal hoch, mal tief gehängt, genügten im Übrigen. Nichts lenkte vom Handeln der Personen ab und von der mitreißenden Musik. Sie vor allem macht es dem heutigen Hörer leicht, trotz barocker Kehlkopfakrobatik dem Geschehen zu folgen. Händels ariose Gesangsformen, die selten die alte, statisch wirkende Da-capo-Form anwenden, sein Geschick, dramatische Duette zu entwickeln, auch Naturszenen oder Aktionsformen instrumental zu untermalen, sind bei aller musikalischen Schönheit zugleich voll innerer Spannung. Der Abend dauerte nur wenig mehr als zweieinhalb Stunden. Das wurde zumeist durch verkürzte Rezitative erreicht, bei denen dann ein paar Details verloren gingen. Erstaunlich aber, wie die Ensemblemitglieder das straffe Tempo bewältigten, das Andreas Wolf vorgab, der die Philharmoniker sehr leicht und dynamisch angepasst führte. Wenn auch nicht historisch exakt, war ihr Spiel doch von barocker Durchsichtigkeit.
Wioletta Hebrowska, in Lübeck bereits in mehreren Hosenrollen zu erleben, glänzte in der Titelrolle mit traumhaft sicheren Koloraturen. Wunderbar, wie sich das runde und warme Timbre ihrer Stimme im Duett mit Ginevra verband. Evmorfia Metaxaki sang diese Partie ebenso sicher, war mit ihrer helleren Farbe eine großartige Partnerin, auch im Spiel. Beide zusammen bilden ein Traumpaar, wie sie es schon bei Bellini in „Romeo und Julia“ waren. Andrea Stadel beherrschte ebenfalls alle Register barocker Manieren. Wie sie als Dalinda ihre furiose Verzweiflung gestaltete, nahm den Atem, auch sie eine ausdrucksvolle Schauspielerin. Das kann ähnlich für den einzigen Gast dieser Aufführung gelten, für Romina Boscolo. Sie hatte vor zwei Jahren in Lübeck der Fürstin in Puccinis „Suor Angelica“ ihre Stimme gegeben, fügte sich in das Ensemble nahtlos ein und verblüffte wieder mit enormem Ambitus von profunder Tiefe bis zu hohen und behänden Koloraturen. Der Tenor Daniel Jenz überraschte vor seinem Weggang aus Lübeck noch einmal als Lurcanio mit einer großen Leistung. Seine Stimme zeigte Glanz und Festigkeit und meisterte das barocke Ausdruckswesen grandios. Er wird fehlen. Gesanglich überzeugten auch Hyungseok Lee mit der kleineren Nebenrolle als Odoardo und vor allem Seokhoon Moon als König. Er hat eine beeindruckende Stimmkraft, passte allerdings im Spiel weniger zu seiner Rolle.
Was in Erinnerung bleibt
Lübecks Inszenierung war dank seiner Sänger, eines lebendigen, wenn auch nicht historisierenden Orchesterklangs und einer stimmigen Regie von mitreißender Wirkung. Sie zeigte, dass eine Barockoper durchaus in ihrer Aussage fesseln kann, wenn das, was bis heute gültig ist, so geschickt herausgestellt wird.
Fotos: (c) Olaf Malzahn