Neubebauung zwischen ZOB und Lindenplatz
Stadtentwicklung im Lübecker Filz

Das aktuelle und von der Lübecker Bürgerschaft bereits durchgewunkene Neubauvorhaben am Zentral-Omnibus-Bahnhof (ZOB) ist alles andere als nur ein Lückenschluss.

Ein Lückenschluss wäre ja das Befüllen einer Fehlstelle in einer sonst geschlossenen Bebauung. Ginge es um einen Lückenschluss, wäre an dem noch unter Senator Boden hier eingefädelten Grundstücksgeschäft zugunsten der Errichtung von Gewerbeneubauten zwischen ZOB und Lindenplatz nicht viel einzuwenden. Beim aktuellen Vorhaben soll allerdings weitaus mehr passieren:

Erstens sollen zwei zwischen Hauptbahnhof und ZOB prominent gelegene, für die örtliche Stadtraumgestaltung und Verkehrswegeführung elementare städtische Grundstücke veräußert werden. Zweitens soll eine parzellenübergreifende Neubebauung auf teils nicht zusammenhängenden Grundstücken erfolgen. Damit wären eigentlich Möglichkeiten verbunden, die aktuelle städtebauliche (Un-)Ordnung wesentlich zu verbessern — ebenso die Gestalt und Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verkehrs- und Freiflächen. Drittens sollen mehrere Abrisse und Rückbauten von Gebäuden und Gebäudeteilen erfolgen, die auch stadtentwicklungsgeschichtlich bedeutende und bis heute ortsbildprägende Architektur betreffen. Viertens sollen mehrere Raumkanten neu geordnet und aktuelle städtische Freiflächen überbaut werden — inklusive der Erweiterung und Verdichtung der bislang lockeren Bebauung am Westrand des Lindenplatzes.

Darstellung der geplanten Neubebauung im Bahnhofsquartier. Das neue Ärztehaus setzt voraus, dass hier die klassizistische Villa von ca. 1870 abgerissen wird. Der Neubau wird mit dem Gebäude der Pinguin-Apotheke aus der Zeit um 1930 über eine eingeschossige Zeilenbebauung verschmolzen. Darstellung der geplanten Neubebauung im Bahnhofsquartier. Das neue Ärztehaus setzt voraus, dass hier die klassizistische Villa von ca. 1870 abgerissen wird. Der Neubau wird mit dem Gebäude der Pinguin-Apotheke aus der Zeit um 1930 über eine eingeschossige Zeilenbebauung verschmolzen.

Kein „großer Wurf“

Das hier bereits seit 1990 vorbereitete und nun wieder aufgegriffene städtebauliche Entwicklungsvorhaben soll heute — entgegen jeder Gepflogenheit — ohne Ausschreibung oder Interessenbekundungsverfahren erfolgen, obwohl es sich überwiegend um städtische Flächen in prominenter Lage handelt. Es soll darüber hinaus ohne den sonst selbstverständlichen und ursprünglich auch verbindlich vorgeschriebenen städtebaulichen Ideenwettbewerb vorangetrieben werden. Und schließlich soll zu allem Übel nicht einmal ein Architekturwettbewerb durchgeführt werden, der bei prominenten Lagen dieser Art von der Stadtplanung zu Recht grundsätzlich gefordert wird.

Dabei werden aber gerade bei diesem Bauvorhaben Aspekte berührt, die zusammengenommen das erwarten lassen, was man einen „großen Wurf“ nennt. Dieser setzt allerdings voraus, dass zunächst die Stadtplanung ihre Arbeit machen kann und in Folge, dass auch die hier berührten Träger öffentlicher Belange ihren Sachverstand beisteuern dürfen. Ein großer Wurf erfordert auch, dass die ehrenamtlich wirkende Politik den Prozess kritisch und mit eigenen Ideen begleiten kann. Dazu gehört, dass die Interessen der Stadt im Allgemeinen und der örtlichen Bevölkerung im Besonderen erkannt und bewertet werden und dass die Stadtplanung ihrer Verantwortung als federführende Kraft und weitsichtige Planungsinstanz sowie ihrer Rolle als Moderatorin im politischen Diskurs alternativer Entwicklungsmöglichkeiten gerecht werden kann.

Im aktuellen Fall war die zumindest vorübergehend erstaunte Lokalpolitik nur insofern eingebunden, dass sie in der Bürgerschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit en passant den Verkauf der städtischen Baugrundstücke durchwinken sollte. Lediglich hinsichtlich des Busverkehrs, der sich auf seinen eigenen Flächen plötzlich mit Zuliefer- und Individualverkehr an- und abreisender Hotelbesucher eines neuen 4-Sterne-Hauses konfrontiert sah, erhob sich bei erster Befassung von Seiten des SPD-Vordenkers in Baufragen, Ulrich Pluschkell, Widerspruch. Doch bereits in der nachgeholten Befassung in Bau- und Hauptausschuss gab es keine weiteren Bedenken, nachdem das beauftragte Architekturbüro auf den Anlagen zur Beschlussvorlage kurzerhand nur wenig mehr als die Betitelung der Eingangsbezeichnungen tauschte.

Im Ergebnis soll nun die einer besseren Wegeführung vom Hauptbahnhof zum ZOB im Wege stehenden Bebauung nicht entfernt werden. Nein, sie soll auch noch parzellenfüllend mit maximaler Höhenausnutzung von fünf Vollgeschossen weiter ausgedehnt werden. Dabei schreit der dort provisorisch abgestellte Betonmontagebau für Sozialräume von Betriebsangehörigen des Stadtverkehrs bereits seit seiner Errichtung nach einem Rückbau (siehe Bild oben, roter Kreis). Auch die übrigen Wegeführungen und deren Gestaltung sollen nun dem billigen Ermessen des Investors unterliegen: Zwischen Apothekenhaus am Lindenplatz und der Einmündung der Konrad-Adenauer-Straße in den Bahnhofsvorplatz wird die Lücke nun mit fünf Vollgeschossen weitgehend geschlossen. Hier ist jedoch anzunehmen, dass gerade diese Flächen von der Stadt einst geräumt und seitdem freigehalten worden sind, um sich im Hinblick auf zukünftig geänderte Verkehrsführungen neue Optionen zu verschaffen. Bauen ist gut, mehr bauen besser und die Aufhebung des Stillstands ein dankbar angenommenes Abschiedsgeschenk der scheidenden Senatsmitglieder, dem man offensichtlich lieber nicht ins Maul schaut.

Blick auf die Pinguin-Apotheke und Neubauten (Lindenplatz/ Konrad-Adenauerstraße)Blick auf die Pinguin-Apotheke und Neubauten (Lindenplatz/ Konrad-Adenauerstraße)

Hintergründe

Im Kiez weiß man allerdings Bescheid: Im Jahr der Wiedervereinigung benötigte Lübeck einige im Eigentum der Familie Hohmann befindliche Flächen in Schlutup, um hier die Anbindung der B104 an die Wesloer (Land-)Straße mittels einer Umgehungsstraße um Schlutup herum zu ermöglichen. Schon damals war Siegfried Hohmann daher eiligst die Möglichkeit eingeräumt worden, die städtischen Flächen nördlich vom ZOB und das angrenzende Grundstück Konrad-Adenauer-Straße 1 im Rahmen eines gekoppelten Geschäfts zu erwerben. Hohmann wurde verpflichtet, nach Vorliegen aller dafür erforderlichen Voraussetzungen innerhalb von 12 Monaten eine Bebauung einzuleiten. Dazu wurde ihm auferlegt, zunächst einen städtebaulichen Wettbewerb durchzuführen, auf dessen Ergebnissen basierend einen Architekturwettbewerb auszuloben und in Folge ein ordentliches Bebauungsplanverfahren zu initiieren. Die Stadt behielt sich für den Fall ein Rückkaufrecht vor, dass diese und weitere Bedingungen wie die fristgerechte Kaufpreiszahlung nicht erfüllt werden oder aber der Weiterverkauf der Flächen erfolgen soll.

Hohmann hatte tatsächlich Großes vor. Hierfür reichten ihm die städtischen Flächen mit zusammen über 3.000 m² noch lange nicht. Zukäufe und Vorkaufsrechte sicherten ihm weitere Liegenschaften im gesamten Block. Die spätklassizistische Villa Hansestraße 2 zwischen ZOB und Lindenplatz wurde erworben und im Erdgeschoss zur Zwischennutzung als Automaten-Casino bestückt. Über eine Zwangsversteigerung erhielt Hohmann Zugriff auf das Die spätklassizistische Villa Hansestraße 2Die spätklassizistische Villa Hansestraße 2ehemalige Hotel Victoria inklusive des Eckhauses zum Kreuzweg (Am Bahnhof 17-19). Seine Bemühungen, der Deutschen Bahn das ehemalige Verwaltungsgebäude der Lübeck-Büchener Eisenbahn (LBE) Am Bahnhof 13-15 / Konrad-Adenauer-Straße 5 abzukaufen, blieben wegen Preisfindungsschwierigkeiten und zunächst mangelnder Verkaufsabsichten der Eigentümerin erfolglos, obwohl diese ihre Verwaltung erst nach Kiel, später nach Hamburg verlegen wollte. Ebenso fruchtlos blieb das Werben um die Liegenschaft der früheren Marzipanfabrikation und Konditorei in der Konrad-Adenauer-Straße 3. Zu guter Letzt kam die Denkmalpflege dem Ansinnen, den gesamten Block zu schleifen und mit einer Geschäftspassage nach dem Vorbild des 1988 in Kiel mit 38.000 m² Gesamtfläche eröffneten „Sophienhofs“ zu überbauen, gänzlich in die Quere. 1997 stellte sie das LBE-Gebäude unter Schutz, kürzlich mit dem ehemaligen Victoria Hotel und der Konrad-Adenauer-Straße 3 auch die Nachbargebäude. Inzwischen war die Denkmalpflege nach den bereits bzw. 1972 unter Schutz gestellten Gebäuden des Hauptbahnhofs und des Handelshofs veranlasst, auch diese gebauten Zeugnisse Lübecker Eisenbahngeschichte im Ensemble zu würdigen.

Der Lübecker „Sophienhof“ blieb daher bis heute eine Vision eines allein gelassenen Investors. Hohmann ließ die Liegenschaften — ausgenommen Zwischennutzungen der Flächen im Souterrain durch Nachtclubs und so genannte „Ranzkneipen“ — leer stehen und zum oft so bezeichneten „Schandfleck“ verkommen. Man kann davon ausgehen, dass auch in Senat und Stadtplanung andere Vorstellungen reiften, wie mit dem gesamten Areal umzugehen wäre. Über zwei Jahrzehnte lang passierte daher — je nach Betrachtungsweise gewollt oder ungewollt — nichts. Die Unterlagen für die Einleitung der einst vorgesehenen Bauleitplanung lagen für den Senatsbeschluss zwar schon 1990 fertig auf dem Tisch, später dann in der Schublade. Die Verwaltungsspitze löste das Verfahren wohl mangels Erfolgsaussichten angesichts festgefahrener Rechtspositionen bis heute nicht aus.

Die Querung zwischen Bahnhofsvorplatz und ZOB - bereichert durch das Gastronomie- und Unterhaltungsangebot von Döner-Läden, Pommesbuden und Spielhöllen.Die Querung zwischen Bahnhofsvorplatz und ZOB - bereichert durch das Gastronomie- und Unterhaltungsangebot von Döner-Läden, Pommesbuden und Spielhöllen.

Erst jetzt im Zusammenhang mit dem gescheiterten Entwicklungsvorhaben der Herren Schlüschen / Dr. Wernekinck auf der Nördlichen Wallhalbinsel wird das 1990 angedachte städtebauliche Neuordnungsvorhaben wieder aufgegriffen — nun aber nur, um es ohne Ausschreibung und an der Öffentlichkeit vorbei der WKM Development GmbH / Dr. Jürgen Wernekinck zuzuschieben. Ein Gefälligkeitsgeschäft dieser Art wurde seit dem Bürgerschaftsbeschluss von 2012 allgemein erwartet, als nach langem Ringen das KaiLine-Projekt zunächst ausgesetzt und später beerdigt wurde. Zu laut und daher für das benachbarte Publikum deutlich vernehmbar wurden das damals gebeutelte Investorenduo mit dem Versprechen, auf andere Weise für ihre Mühen kompensiert zu werden, ruhig gestellt. Bei dem jetzt neu eingefädelten Geschäft sollen daher nun a) die bei dem ehemaligen Vertrag 1990 zugrundegelegten Grundstückswerte beibehalten und b) alle Auflagen gestrichen werden, die sich 1990 wertmindernd im Grundstückskaufpreis niedergeschlagen hatten. Der seinerzeit vorgesehene städtebauliche Ideenwettbewerb, das geordnete Bebauungsplanverfahren und der Architekturwettbewerb für alle Neubauten — geschenkt! Ein hierzu befragter Stadtplaner und Architekt überschlug den Gegenwert der gestrichenen Auflagen mit einer Höhe von mindestens 300.000 bis eher 500.000 Euro. Eine Kompensation zugunsten der Stadt über eine Erhöhung des Kaufpreises? Fehlanzeige!

Die Neuordnung mehrerer Raumkanten und die Überbauung städtischer Freiflächen inklusive der Erweiterung der Pinguin-Apotheke mitsamt eines 4-stöckigen Ärztezentrums sollen nun im Schnellverfahren nach § 34 Baugesetzbuch* auf Basis eines einfachen Bauantrags genehmigt werden. Das haben der Bürgermeister und der bis April amtierende Bausenator Franz-Peter Boden durchgesetzt. Damit stießen die Herren sicherlich auch so manchem Verwaltungsmitarbeiter vor den Kopf. Einziges Zugeständnis an die Fachabteilungen: Der Welterbe- und Gestaltungsbeirat (GBR) der Hansestadt Lübeck soll die Architekturentwürfe absegnen dürfen.

Blick vom ZOB auf die ungeordnete RaumkanteBlick vom ZOB auf die ungeordnete Raumkante

Dieses Vorgehen wirft alle Gepflogenheiten, die im Rahmen von wesentlichen städtebaulichen Veränderungen zu beachten wären, und die damit verbundenen Pflichten zur Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit über Bord. Die „alten“ Herren im Rathaus möchten zudem durch einen Winkelzug erreichen, dass für die zu vergebenden städtischen Liegenschaften nicht nur die Pflicht zur Ausschreibung umgangen werden kann. Nein, es soll darüber hinaus erreicht werden, dass die außerhalb der Altstadt prominentesten und im Zentrum der ÖPNV-Infrastruktur gelegenen und daher höchst frequentierten Flächen entwickelt werden dürfen, ohne dass auch nur ein Träger öffentlicher Belange in das Verfahren eingebunden wird. Dies soll dadurch gelingen, dass der neue Investor ganz nebenbei in den 1990 mit Hohmann geschlossenen, also 27 Jahre alten, Grundstückskaufvertrag einsteigt.

Rechtliche Würdigung

Angesichts wesentlicher Änderungen eines bereits 27 Jahre alten, nie vollzogenen Veräußerungsgeschäfts, in das nun ein neuer Vertragspartner der Stadt mit deren Einwilligung eintreten soll, kann sich die Verwaltungsspitze wohl nicht mehr hinter das Argument zurückziehen, es handle sich hier lediglich um den Eintritt einer neuen Partei in einen bestehenden Vertrag. Wegen maßgeblicher Änderungen des Kaufgegenstands und nach Streichung der für die Käuferseite kostspieligen Bedingungen kann kaum angenommen werden, dass dieses Geschäft mit dem in Deutschland geltenden Vergaberecht und mit dem EU-Beihilferecht vereinbar ist. Überhaupt nicht nachvollziehbar ist, dass das Vorgehen den ehrenamtlichen Kontrolleuren hauptamtlichen Verwaltungshandelns zumindest nicht höchst unmoralisch vorkommt. Im Zweifel ist die Verschleuderung öffentlichen Eigentums zu befürchten, die möglicherweise auch einige Straftatbestände (Untreue, Unterschlagung, Vorteilsgewährung, Vorteilsannahme bzw. Beihilfe zu diesen Delikten) berühren könnte. Möglicherweise soll durch Umgehung der vertragsmäßig vorgesehenen Rückabwicklung und anschließenden Neuvergabe der Liegenschaften auch noch die Grunderwerbsteuer von 6,5 % mindestens einmal verkürzt werden. Unter normalen Umständen würde diese sowohl für die Stadt wie für den anschließenden Käufer zwingend anfallen. Wie die zuständigen Finanzämter darüber denken? Nicht der Rede wert! Alles bleibt ruhig — abgesehen von einer Randdiskussion um drei verschobene Bushaltebuchten.

Die Pinguin-Apotheke und die spätklassizistische Villa Hansestraße 2Die Pinguin-Apotheke und die spätklassizistische Villa Hansestraße 2

Die Folgen

Im Gesamtpaket dieser nach § 34 Baugesetzbuch von der Bauverwaltung auf Anweisung von oben zu genehmigenden Planungen finden die historisch gewachsenen Strukturen und überlieferten Größenverhältnisse keine Beachtung. Die letzten Zeugnisse der frühen Stadtwerdung von Gebieten außerhalb der mittelalterlichen Altstadt nach Wegfall der Torsperre? Kein Thema! In diesem Kontext soll daher auch die den Partikularinteressen im Wege stehende spätklassizistische Villa Hansestraße 2 / Ecke Lindenplatz geopfert werden. Dieses geschichtlich bedeutende, städtebaulich prägende und für die angrenzende Bebauung am Lindenplatz und in der Hansestraße den Maßstab setzende Gebäude soll nun ohne Not der Optimierung von Gewerbeflächen eines einzelnen Investors weichen. Dem durften Denkmalpflege und Stadtplanung nicht mit fachlichen Argumenten im Wege stehen. Während andere Gebäude im Umfeld sukzessive als Einzeldenkmale erkannt werden (z. B. die Häuser Lindenstraße 1b, Am Bahnhof 17, Konrad-Adenauer-Straße 3), war in Vorbereitung des Grundstücksgeschäfts bereits 2015 der Abteilung Denkmalpflege abgerungen worden, dem Vorhaben nicht in die Quere zu kommen. Im Kontext politischer Vorfestlegungen war für eine tiefgreifende Untersuchung des architektonischen und geschichtlichen Werts der Liegenschaft keine Zeit und für eine unabhängige fachliche Überprüfung der Denkmaleigenschaft kein Raum.

Auch der GBR als einzige verbliebene Kontrollinstanz hatte kein Problem damit, sowohl das historische Gebäude selbst aufzugeben als auch über dessen ortsbildprägende Funktion und maßstabdefinierende Eigenschaft hinwegzugehen — trotz erheblicher Bedenken der nur beratend hinzugezogenen Abteilung Denkmalpflege. Der damalige GBR-Vorsitzende, der Hamburger Architekt Jürgen Böge, kann aufgrund seiner Einbindung als Jury-Vorsitzender bei vorangegangenen Architekturwettbewerben des gleichen Investors, der hier die Neuentwicklung vorantreiben will, zudem als befangen gelten. Anders ist es nicht zu erklären, dass insbesondere die vom Investor vorgesehenen und von der Abteilung Denkmalpflege wie der Stadtplanung kritisch betrachteten Bauvolumina kritiklos abgesegnet werden.

Lübeck - Lindenplatz 1950er Jahre - Bismarck-Denkmal, im Hintergrund links die vom Abriss bedrohte StadtvillaLübeck - Lindenplatz 1950er Jahre - Bismarck-Denkmal, im Hintergrund links die vom Abriss bedrohte Stadtvilla

In diesem Fall zeigt sich einmal mehr, dass die Oberhoheit des direkt gewählten Bürgermeisters über Fragen des Denkmalschutzes und die Beförderung individueller Interessen spezieller Bauherren oder, anders herum, die Weisungsgebundenheit von Fachabteilungen durch nicht nach fachlichen Kriterien abwägende Verwaltungsinstanzen ein Problem darstellt, welches durch das geltende Denkmalschutzgesetz und die Gemeindeordnung leider gedeckt wird. Dass sich die Lübecker Bürgerschaft einer Auseinandersetzung mit den Details dieses Geschäfts bislang weitgehend verweigert und damit auch verhindert, dass die zwingend einzuschaltenden Träger öffentlicher Belange ihren Sachverstand in einem geordneten Verfahren einbringen können, fällt allerdings in die Kategorie eines systemischen Staatsversagens.

*) Baurecht gemäß § 34 Baugesetzbuch wird gewährt für bebaute Bereiche ohne B-Pläne. In diesen so genannten 34er-Gebieten (im Zusammenhang bebaute Gebiete) sind Bauvorhaben zulässig, wenn diese sich nach Art und Maß der Bebauung, der Bauweise und der überbauten Grundstücksfläche in die umliegende Bebauung einfügen. Das heißt, Neubauten müssen vom Baustil, der Größe und der Anordnung her in das Umfeld passen. Die Bewertung dessen und damit die Genehmigung liegt daher allein im Ermessen der örtlichen Baubehörde.

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Jörg Sellerbeck, Jr.
Jörg Sellerbeck, Jr.
1967 in Wolfenbüttel geboren, Bankkaufmann, Studium der Wirtschaftswissenschaften, der Kunstgeschichte und der Archäologie. Ehemals tätig in Investment Banking, Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfungswesen. Seit 2007 Autor bei "unser Lübeck". Schwerpunkte: Denkmalpflege, Architektur, Stadtentwicklung.

Kommentare  

# Bebauung ZOB UmfeldThomas Godehus (12.10.2017, 21:33)
Herzlichen Dank fuer die umfangreiche Ausarbeitung. Da faellt der Abschied vom nunmehr pensionierten Bausenator und demnaechst von Buergermeister Saxe doch etwas leichter, denn es kann ja eigentlich nur besser werden.
# Bebauung ZOB UmfeldLudger Brands (15.05.2018, 14:47)
1) Es ist erschreckend in mehrfacher Hinsicht. Unsere Architektenschaft ist nicht mehr in der Lage, die notwendige Sensibilität für einen innerstädtsichen Ort mit Tradition und Geschichte aufzubringen und kennt nur noch das reine Würfelhusten, dann noch mit den nicht mehr zu ertragenden versetzten Fenstern, also immer gegen das historische Umfeld. Die Nachbarschaft zeichnet sich durch Kleinteiligkeit und eine belebte geneigte Dachlandschaft aus. Auch auf diese Thematik wird nicht rekurriert. 2) folgt
# Bebauung ZOB UmfeldLudger Brands (15.05.2018, 14:48)
2) Im Gegenteil, die bestehenden Häuser werden durch belanglose und ortsuntypische Neubauten in Haft genommen und damit desavouiert. Ganz zu schweigen von dem völlig überflüssigen Abriss einer klassizistischen Villa, die, wenn man sich nur ausreichend bemüht hätte, in ein neues Nutzungskonzept hätte integriert werden können. Was der 2. Weltkrieg nicht vernichtet hat, wird immer wieder durch skrupellose Investoren, unfähige Architekten und willfährige Politik perfekt und sauber abgeräumt zugunsten einer Banalisierung unserer öffentlichen Räume. Und die Denkmalpflege schaut weg!

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