Daniela Krien, Foto: (c) Maurice Haas/ Diogenes Verlag

Daniela Krien - Mein drittes Leben
Im freien Fall...

„Mein drittes Leben“ - schon der Titel ihres neuen Buches nimmt mich hinein in ein Fragen und Rätseln: Wieviele Leben haben wir? Er dringt in mein Herz und zerrt an meiner Ruhe. Ohne die rückseitige Zusammenfassung gelesen zu haben erahne ich die Schwere, die sich zwischen beiden Buchdeckeln verbirgt. Eine Vorahnung, die meine Neugier weckt und mich hineinschleudert in die Unberechenbarkeit des Lebens. Für mich ein Geschenk, kommt es doch genau zum richtigen Zeitpunkt - Zufall oder Vorhersehung? Wer weiß das schon.

Eine Geschichte, die mit wenigen Worten schnell erzählt wäre, würde da nicht ihre Mächtigkeit, Brutalität und Intensität Räume suchen, die ganze Landkarten sprengen würden. Daniela Krien erschafft diesen ganz großartigen Raum und lässt die Worte in einem schweben, taumeln, schreien, weinen, schweigen, stolpern und hoffen.

Linda und Richard sind ein Ehepaar und leben mit ihrer gemeinsamen Tochter Sonja in Leipzig. Für Richard ist es die zweite Ehe, Arvid und Ylvie sind seine beiden älteren Kinder, die abwechselnd bei ihm oder der leiblichen Mutter leben. Eine klassische Patchworkfamilie. Linda, die Hauptprotagonistin des Romans, schildert die Höhen und Tiefen, sowie die emotionalen Herausforderungen, in und mit beiden Familiensträngen zu leben. Sie schildert die Rollen und Identitätsfallen, die jeder Einzelne im Gesamtgefüge „Patchwork“ hat. Das alles stellt aber nur die Hintergrundkulisse der Erzählung dar. Im Mittelpunkt des Buches steht der plötzliche und unerwartete Unfalltod der 16jährigen Tochter Sonja. Ein LKW übersieht ihr Fahrrad und erfasst sie tödlich. Eine Tragödie.

Wie beide, Linda und Richard, mit diesem unfassbarem Verlust umgehen, schildert Krien in ihrem Roman. Was macht solch ein unsägliches Leid mit uns Menschen. Linda und Richard wählen dabei zwei völlig verschiedene Wege. Im Zentrum steht der unsägliche Schmerz, der alles niederwalzt was vorher war und mit Haut und Haaren verschlingt. Da scheint es auf den ersten Blick nichts mehr zu geben, was vom „alten Leben“ hinübergerettet werden kann.

Linda flieht in die Abgeschiedenheit eines tristen Dorfes in der Nähe der Stadt und verschanzt sich auf einem Hof. Tabletten helfen ihr dabei, Ruhe zu finden um zu vergessen. Richard ringt zunächst immer wieder um Lindas Nähe und scheitert daran. Aber auch sein Ringen ist geprägt von dem betäubenden Schmerz des Verlustes. Irgendwann geht auch er mehr und mehr auf Distanz und beginnt eine neue Beziehung zu Brida. Lose haben Linda und Richard aber dennoch Kontakt miteinander.

Daniela Krien gelingt es auf wunderbare Weise, den Schmerz einzufangen und lässt ihn für mich erlebbar machen. Als Dritter darf ich hineinhorchen in ihn. Zwischen den Zeilen explodieren auf ganz leise und stille Weise die Kräfte des Schmerzes und spülen mich hinein in den stumpfen, lautlosen Schrei des Leids. Unfassbar, ohnmächtig und hilflos ist man ihm ausgesetzt, spürt mit jedem Kapitel seine nagende, zerfressende Macht. Krien webt mit ihren Worten einen Teppich der Trauer, der sich kaum zu heben scheint, wären da nicht die Zeit, sowie scheinbar banale Begegnungen und die Kraft der alltäglichen Routinen, die kleine Löcher in ihn schneiden. Zauberhaft werden das Alltägliche und die fast zufälligen Begegnungen mit anderen Menschen zum Rettungsanker, nicht das Große, sondern das Unscheinbare fast Beiläufige bringt die Seele stückweise wieder zum Atmen.

Gleichzeitig ist es aber nicht nur ein Buch über den Schmerz, es ist auch ein Roman über die Liebe. Über die Verbindung zweier Menschen, die zum einen gefangen sind in ihrer Einsamkeit des Leidens, aber auch unumstößlich verbunden sind durch das kaum noch hörbare Band der Liebe. Diese zarte immer wieder durchscheinende Pflanze wärmt die zu erlesende Einsamkeit und ist am Ende, man mag es als Leser kaum noch erwarten, stärker als all das erfahrene Leid. Immer wieder muss ich beim Lesen an Rilke denken und zwischen den Zeilen Kriens höre ich Rilke leise wispern: „Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deiner rührt...“

Lesen sie Daniela Krien und spüren sie hinein in ihre feinfühlige Wortkunst, Seelenräume erfahrbar zu machen!

Daniela Krien: Mein drittes Leben, Diogenes 2024, 304 Seiten.

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.

Christiana König
Jahrgang 1978, in Leipzig geboren, Studienabschluss in Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.