Mihoko Fujimura, Bejun Mehta, Foto: Arno Declair

Die Musik und der unsichtbare Schmerz
Die Oper "Stilles Meer" an der Staatsoper Hamburg

Eigens für die Staatsoper Hamburg komponiert, wurde am Sonntag die Oper Stilles Meer in Hamburg uraufgeführt. Das Auftragswerk setzt sich künstlerisch mit dem Reaktorunglück in Fukushima im Jahr 2011 auseinander.

Die Dorfbewohner sitzen auf der Bühne, schauen aufs Meer. Von oben ragen leuchtende Reaktorstäbe herunter. Dann ertönen unheimliche Tamtam-Klänge – minutenlang. Die Stimme des Chors hebt an. „Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne. Ist die Nacht ohne Sterne, frag die Wellen.“

Gebetsartig offenbart der Chor die ersten Zeilen des Librettos, das Oriza Hirata, der Regisseur von Stilles Meer, für sein Hamburger Opern-Debüt selbst verfasst hatte. Hierfür verwob er zwei literarische Textvorlagen frei miteinander. Das Ballettmädchen, eine Kurzgeschichte aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, trifft auf Sumidagawa, ein klassisches No-Theaterstück der Muromachi-Epoche.

Die Texte begegnen sich in einem zeitlosen Raum während einer „O-higan“-Zeremonie, nach dessen Sitte Dorfbewohner Laternen aufs Meer schicken und danach auf dem Friedhof ihrer Toten gedenken. Das posttraumatische Szenario erinnert an die Tausenden Toten, die Folge des Reaktorunglücks in Fukushima im Jahr 2011 waren.

Durch das Spiel den Verlust sichtbar machen

Die Inszenierung widmet sich ohne Umwege dem Kern der Geschichte. Claudia (Susanne Elmark), eine deutsche Balletttänzerin, hat mit der Tatsache zu leben gelernt, dass ihr japanischer Mann bei dem Tsunami-Unglück ums Leben gekommen ist. Über den Tod ihres Sohnes Max kommt sie jedoch nicht hinweg. Das Dorf hält sie für verrückt, weil sie sich an eine Realität klammert, die nicht mehr existiert. Stephan (Countertenor Bejun Mehta), ihr Ex-Mann und Vater von Max, sowie Haruko (Mihoko Fujimura), die Schwester von Claudias verstorbenem Mann, versuchen sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Vergeblich, denn Claudia kann nicht den Verlust von etwas akzeptieren, das keine materiellen Spuren hinterlassen hat.

Susanne Elmark, Mihoko Fujimura, Bejun Mehta, Foto: Arno DeclairSusanne Elmark, Mihoko Fujimura, Bejun Mehta, Foto: Arno Declair

Claudias Schwägerin Haruko wendet sich an Stephan und bittet ihn darum, das Sumidagawa, das tief im buddhistischen Gedankengut gründende No-Stück aus dem 15. Jahrhundert, mit Claudia nachzuspielen, um ihr die Möglichkeit zu geben, den Verlustschmerz zu akzeptieren. Durch den Ruf Buddhas soll in dem Theaterstück einer Mutter ihr totes Kind erscheinen, bevor es wieder endgültig verschwindet. Haruko hofft, dass Claudia sich in der Mutter wiedererkennt und durch das Gleichnis ihren Verlust anerkennt. Das Spiel verfehlt seine Wirkung und Claudia schlägt am Ende vor – noch immer darunter leidend, dass sie das Unsichtbare nicht fassen kann , jeder möge doch zu sich nach Hause gehen.

Buddhismus und Schmerzbewältigung

Die philosophische Frage des Stückes bleibt die nach der Sichtbarkeit von Wirklichkeit in einem universalen Schmerz-System. Nach buddhistischem Glauben haftet dem Entstehen die gleiche Qualität der Schönheit an wie dem Vergehen. Beide Bewegungen sind gleichwertige Teile des Lebensprozesses. Doch Claudias Unendlichkeit des Schmerzes resultiert aus einer mangelnden Bereitschaft, diesen Kreislauf anzuerkennen, weil sich das Vergehen unsichtbar vollzieht. Die Trauerarbeit wird ihr verwehrt, da der tote Körper ihres Sohnes nicht existiert. Der Buddhismus mag hier tiefer schauen, weil seine Lehre das Bewusstsein um das Vergehen lange schon als notwendig voraussetzt, bevor dieses auch nur Wirklichkeit geworden ist.

Eine andere Möglichkeit jedoch, diese Lücke der Unsichtbarkeit zu schließen, könnte sich durch die Musik vollziehen, die als unsichtbares Medium so einen Beitrag zur Schmerzbewältigung leistet. So ähnlich sieht es zumindest auch Toshio Hosokawa, der Komponist von Stilles Meer, für den die Rolle der Musik darin besteht „die Traurigkeit transparent zu machen und in andere Dimensionen zu bringen“. In der Komposition Stilles Meer findet sich auch ein Einfluss des japanischen Mönchgesangs wieder, wodurch die Oper teilweise wie ein großes schmerzlinderndes Gebet klingt.

Roboter, Viktor Rud, Bejun Mehta, Susanne ElmarkRoboter, Viktor Rud, Bejun Mehta, Susanne Elmark

Diese Rückbindung an alte asiatische Kulturelemente findet sich auch in dem minimalistisch gehaltenen, von Itaru Sugiyama entwickelten Bühnenbild, das aus einer runden, angewinkelten Rampe und aus einem Auftrittssteg besteht, der nach rechts oben verläuft und ganz wie im alten japanischen No-Theater den Übergang ins Jenseits symbolisiert.

Die heutige Zeit und die Grenzen unseres Schmerzbewusstseins  

Das gesamte musikalisch-visuell-narrative Kunstwerk Stilles Meer ist eine beeindruckende und zutiefst zum Nachdenken anregende Auseinandersetzung mit der jüngeren Katastrophengeschichte Japans. Und zugleich muss es eine Konfrontation mit der Frage sein, inwieweit der Mensch heutzutage ein angemessenes Katastrophenbewusstsein überhaupt haben kann.

Trotz „Fortschritten“ der medialen Verwertung von Katastrophen bleibt der essentielle Teil der Katastrophe, der Schmerz, unsichtbar. „Wir leben in einer Zeit, in der wir von einem Moment zum nächsten Moment nicht kapieren, wie tief die Katastrophen sind“, kommentiert Kent Nagano, Dirigent der Oper Stilles Meer, vor der Premiere.

Fotos: Arno Declair


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