Ex-Bausenator Hans Stimmann im „Stadtdiskurs“
Von Berlin nach Lübeck

Lübeck ist arm, aber im Gegensatz zu Berlin nicht sexy, wäre die bleibende Botschaft aus dem Abend mit Berlins Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann am 18. November 2015 in der Gemeinnützigen. Man hatte Lehren für Lübeck erwartet, die gab es aber eher nur zwischen den Zeilen. Es gehört sich ja auch nicht, als Ehemaliger den Nachfolgern Ratschläge zu erteilen oder gar deren Fehler zu thematisieren.

Wer sich an Stimmanns Lübecker Jahre von 1987 bis 1991 erinnert, wird zugeben müssen, dass es eine hochspannende Zeit war. Der Bauverwaltung stand eine Persönlichkeit vor, die es nicht gewohnt war, Samthandschuhe zu tragen. Er vereinte Widerspruch und Zustimmung auf sich. Er wollte Lübeck wirklich "voranbringen". Viele Projekte, die noch heute für ein neues Lübeck stehen und den "Schritt nach vorn" erkennen lassen, sind in seiner Zeit entschieden und umgesetzt worden. Er tat das als Politiker und Sozialdemokrat, wobei er nicht verbarg, dass er sich seinen Lübecker Genossen intellektuell in jeder Hinsicht überlegen fühlte – und er war ihnen auch weit voraus, muss aus heutiger Sicht gesagt werden.

Der Referent war vorab gebeten worden, seinem Vortrag ein paar Sätze zum aktuellen Thema "Flüchtlinge – Asylanten – Unterbringung" voranzustellen. Also sprach er erst einmal etwas "ungebunden" über sein (wichtiges und höchst lesenswertes) Buch Heimat auf Trümmern – Städtebau in Lübeck*, in dem an die Folgen des Luftangriffs von 1942 und an Lübecks große Leistung der Flüchtlingsversorgung und -eingliederung in den Jahren zwischen 1945 und 1959 erinnert wird. Stimmanns klare Aussage: Die heutige Situation ist mit der von damals nicht vergleichbar.

Sein eigentlicher Vortrag "Wie plant man in einer historischen Stadt" galt, wie einige Zuhörer enttäuscht feststellten, nicht "unserem" Lübeck, sondern dem fernen Berlin. Das geschah in einem freundlichen Plauderton, in dem auch mitgeteilt wurde, dass in Berlin Geschichte weitgehend getilgt und auch kein Motiv öffentlichen Handelns und Planens ist. Eine "Altstadt" wie in Lübeck gibt es in Berlin in der Tat nicht mehr. "Zentrum – Mitte – Markt" - alles keine Berliner Fixpunkte. Als ob Stimmann Wowereits geflügeltes Motto "Berlin ist arm, aber sexy" auslegen und propagieren wollte, formulierte er den neuen Slogan "In Berlin muss es knallen". Gemeint sind Brüche, da mag man an nackte sechsstöckige Brandmauern hinter der Döner-Bude denken, an unberäumte Industrie-Brachen, an "urban gardening" auf stillgelegten Flugplätzen, an bröckelnden Putz neben Neuberliner Natursteinprotz und Stahl-Glas-Eleganz. Es ist alles da und alles möglich. Die Stadt als Dauerbaustelle und Bau-Erwartungsland. Das Unfertige als Teil des Daseins. Berlin hat Platz für alle und alles und es ist alles noch nicht so teuer wie in anderen Metropolen der Welt. – Bei aller Euphorie für Vielfalt und Lebendigkeit ist Stimmann nicht frei von Widersprüchen: Man sehe sich an, was er in Berlin unter dem Programm "Planwerk Innenstadt Berlin"** angedacht und auch in großem Maß umgesetzt hat: Respektierung der Strukturen der Stadt-Werdung zwischen Friedrichstadt und Luisenstadt, Wiederkehr des Pariser und des Leipziger Platzes, Rückkehr zu den alten Fluchtlinien, Begrenzung der Traufhöhen auf Vorkriegsniveau. Stimmanns Leistung für Berlin ist nämlich entgegen seinen oft provokanten Thesen eminent "historisch". Dafür hat er Welt-Stars wie Eisenman, Libeskind und Gehry mitsamt ihren Entwürfen "nach Hause geschickt", wie er beiläufig anmerkte.

Berlin Kurstraße - Wirrnis in den Köpfen der Architekten? (Stimmann)

Man erfuhr über "Planen für Berlin" aber noch mehr. Berlin ist "immer" eine Arbeiterstadt gewesen, gewohnt wurde auf Miete, und diese Mietwohnungen, diese lange Zeilen, Blöcke, ganze Quartiere, wurden immer von großen Wohnungsbau-Gesellschaften gebaut. Das Haus-Individuum vom privaten Bauherrn in selbst definierter Form hat in Berlin keinerlei Tradition. Doch neuerdings gibt es einen wachsenden und auch in seiner Finanzkraft ernstzunehmenden neuen Mittelstand, den man als Bauherrn noch nicht im Visier hatte: Ein erster Versuchsballon war die Stadthaus-Reihe auf schmalen, neu geschnittenen Parzellen auf einer Brache zwischen Hausvogteiplatz und Kurstraße (westlich des Außenministeriums), Vier- bis Fünfgeschosser, etwa 800.000 Euro das Stück. Die Häuser durften aussehen wie sie wollten. Sie stünden auch für das Hier und Jetzt und, so Stimmann, "für die Wirrnis in den Köpfen der Architekten". Fassaden, als ob man über die Bauaufgabe Witze reißen wollte: Eine 25 Meter breite Front wäre ja okay gewesen, 250 Meter schon besser – aber eine Fassade mit "nur sechs Meter fuffzig"? Die Szene lachte, wohl auch darüber, dass die meisten Entwürfe sich in einer strengen, "nach-klassizistischen" Haltung gefielen. Doch dann waren die Häuser im Nu weg. Man versäumte leider so etwas wie ein befristetes Wiederverkaufsverbot festzulegen (ob aus Naivität oder Absicht, ließ Stimmann offen), so dass viele Häuser bald für 2-3 Millionen an die nächsten Kunden weiterveräußert wurden ("Berlin macht Millionäre"). In Nachfolge dieses Experiments wurde versucht, weitere Stadthäuser von "Privat-Bauherrn" an der Friedrichwerderschen Kirche (einem Hauptwerk von Karl Fr. Schinkel) zu initiieren, die Planung ist aber in altbekannter Berliner Weise, um Tiefgaragen bereichert, in die Hand eines einzigen Projektentwicklers gelangt. Jetzt wackelt die Schinkel-Kirche.

Sehr unterhaltsam auch Stimmanns Eloge auf die vielen jungen "Start-ups", wie die vielen Selbstverwirklicher, Firmengründer und Ideen-Auskocher als Einzelpersonen, Kleinfamilien, Kleingruppen und Kleingesellschaften bereits offiziell genannt und befördert werden und die zeichenhaft für das neue Berlin stehen. Da ist natürlich was dran, aber ist das eine spezifisch Berliner Geschichte? In Lübeck ist es doch genauso, wenn auch in viel kleinerem Maßstab. Die große Industrie als Arbeitgeber gibt es immer weniger. Dass alle "Up-Starter" auch leben (d. h. Geld sehen) wollen und ihre Existenz in vielen Fällen notgedrungen in Selbst-Ausbeutung mit Hilfe oder in Konkurrenz zu anderen "Up-Startern" aufbauen, ist hinreichend bekannt und führt dort, wo das "Start-up"-Phänomen geballt auftaucht, wohl zu einem Lebensgefühl, das Berlin so "sexy" macht. Das zeigt der Blick von der Oderbaumbrücke über die Spreeufer, so Stimmann, mit dem Menschengewusel, dem disparaten Mix aus Neu und Alt zwischen Kneipen, Läden, Bars und Cafés, für jeden was, für Arm und Reich, für Alt und Jung, für "Singles, Paare und Gruppen, für Schwule und Lesben" – eben das pralle Leben. Im Gegensatz dazu ist in Lübeck "absolut nichts los", beispielsweise an der Untertrave, so ab Beckergrube, Drehbrücke. Also keine Berliner Luft in Lübeck (Berlin: 4,5 Millionen Einwohner, Lübeck: 215.000). Wer wollte da widersprechen. Was das fürs Bauen bedeutet, durfte man sich denken. "Stadt ist immer neu, für junge Leute, für die Zukunft". Auch da "bin ich ganz bei Ihnen", wie es so schön auf artig heißt.

Konkreter erschien es, als Stimmanns Selbst-Stilisierung als Kücknitzer Arbeiterkind durchschimmerte, das immer noch vor der "Buddenbrook-Mauer" steht. In Lübeck sei alles traditionsgebunden, alles geschehe aus einem fest stehenden Geschichtsbild heraus. "Da werden wieder Buddenbrook-Giebel gebaut" – so sein gedanklicher Schlenker hinüber ins zukünftige Gründerviertel. Tatsache ist, dass dort genau das verwirklicht werden soll, was bei den Stadthäusern an der Berliner Kurstraße so wunderbar in die Hose ging: Junge Neubürger, der gutsituierte Mittelstand "mit Kindern und Kohle" sollen hier wohnen und arbeiten und mit Kleinbetrieben, Butiken, Werkstätten, Ateliers, Kanzleien, Cafés und Praxen ein eigenes, spezifisches und "lebendiges" Quartier in Innenstadtlage eröffnen. Das Verfahren ist im Gange. Ein bemerkenswerter Ansatz, der es verdient hätte, bemerkt zu werden. Stimmann packte aber wie ein Pathologe das Wort "Gründer-Viertel" auf den Seziertisch und schlussfolgerte (dieses Verb sei mir verziehen): Gründerviertel heißt, hier ist "Stadt neu zu begründen", hier sind Formen zuzulassen, die für heute stehen. Diese "Neue-Gründerzeit-Idee" ist genau elf Jahre alt. Im Rahmen des Kolloquiums über die Zukunft des aufgelassenen Schulgeländes zwischen Alf-, Fisch- und Braunstraße im Rahmen des Architektursommers 2004*** fand die Vorstellung von einem "lebendigen Chaos" als Synonym für Zukunft nur wenig Fürsprecher.

 
Gründerviertel Lübeck (Hermanson Hiller Lundberg, Stockholm)

Ist es nur ideologische Überzeugung, dass man die Prägekraft geschichtlicher Stadtbilder vollständig ignorieren muss, um "neu" sein zu können? Eine uralte Frage, sicher. Dann möchte man aber wissen, ob es an der Berliner Kurstraße nur darum ging, eine bestimmte neue, brav Steuern zahlende "Klientel" einzufangen und sich seitens der Stadtplanung dazu einen etwas despektierlichen Maskeraden-Scherz mit Fassaden erlaubte. War nicht doch insgeheim die angedachte Großform, die lange Reihe von "Individuen" ein Zeichen dafür, dass die Planer sich durch ein formales Gerüst mehr gefühlte Gemeinsamkeit für eine Einbindung in ein städtisches "Gesamt" erhofften? Außerdem ist (mit Sicherheit nicht ungewollt!) ein neues Bild entstanden, das Geschichte gemacht hat und längst Geschichte ist. Inzwischen darf man sogar sagen, dass die meisten Fassaden ganz gut angekommen sind in Berlins Gegenwart.

Im Lübecker Gründerviertel muss die Geschichte nicht neu erfunden werden. Das Bild machtvoller, wenn auch verlorener Hausfassaden ist präsent – es steckt in unserem kollektiven Gedächtnis (das es für ein "altes Berlin" angeblich nicht gibt). Mit "Buddenbrooks"-Sehnsucht hat das nichts zu tun. Der Wunsch auffallend vieler, auch junger Menschen, sich im Gründerviertel "einnisten" zu wollen, erscheint mir in seiner stadtzugewandten Frische durchaus vergleichbar mit den Vorstellungen der "Erstsiedler" an der Berliner Kurstraße. Für den sich abzeichnenden Wettlauf aufs Gründerviertel hat es keine "Buddenbrook"-Angebote seitens der Planer und Vermarkter gegeben. Gleichwohl sind viele der im Fassadenwettbewerb ausgezeichneten Entwürfe viel zu historisierend und gefallen sich in eitler "Interpretation" gewesener Formen (auch ich habe damit erhebliche Probleme).

Quasi "kleingedruckt" dazu dieser offenbar notwendige Hinweis: Ein Rest "Buddenbrook-Syndrom" hat sich vielleicht bei dem einen oder anderen Literaten erhalten. "Buddenbrook"-Patrizierhäuser hingegen sind in Lübeck gänzlich verschwunden. Die letzten Exemplare dienen als Museum und als Restaurant. Das Bild bestimmen andere, meist kleinere, ebenso von mehrhundertjähriger Geschichte erfüllte Häuser der Gerber, Brauer, Fleischhauer, Schiffer, Weber usw., die Skala reicht bis zu bescheidensten Ganghaus-Anlagen, und vor deren "Buddenbrook"-Ferne grauste es schon Großbürgersöhnen wie Thomas Mann.

So war das Interessante an diesem Abend, dass über Bau und Architektur gar nicht "direkt" gesprochen wurde, sondern "indirekt" über die Umstände und Bedingungen, die Bauen ermöglichen oder erschweren und die für das Leben der vielen Menschen in einer umbauten Stadtöffentlichkeit ein eher förderlicher oder eher behindernder Rahmen sein können. Ein Balancieren auf teilweise dünnen Brettern über sozialpolitische Fragen hinweg. Klare Antworten durfte der Zuhörer nicht erwarten. Ebenso wenig eine Definition dessen, was eigentlich die "Zukunftsfähigkeit" einer Stadt ausmacht.

*Hans Stimmann; Jörn Düwel: Heimat auf Trümmern. Städtebau in Lübeck 1942 – 1959. Berlin 2013
**Senatsverwaltung für Stadtentwicklung … (Hrsg.): Planwerk Innenstadt Berlin (= Berlin Stadtentwicklung Heft 4)
***ArchitekturForum Lübeck (Hrsg:): Lübeck Gründungsviertel. Dokumentation des Workshops am 24. und 26. 9.2004




Berlin, Kurstraße: „Wirrnis in den Köpfen der Architekten?“
(Stimmann): Für Ensemble-Wirkung sorgen Vorgaben betreffs Breite und Höhe. Wie auf „innere Veranlassung“ ergehen sich die meisten Entwürfe in einem „gefühlten Berliner Klassizismus“. Dazwischen einige „Neo-Internationale“, nur wenige flippige Ausbrecher.



Gründerviertel Lübeck: Ein Lübecker Gründerviertel, ein neuer Historismus, der fragen lässt: Weshalb nicht gleich ordentliche Kopien von verlorenen Originalen?


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