Friedrich-W. Seinsche (re.), um 1939

Friedrich-Wilhelm Seinsche - Der „Architekt des Wiederaufbaus von Lübeck“ - Teil 1

Vor 100 Jahren, am 6. Mai 1914, wurde Friedrich-Wilhelm Seinsche geboren.

Am 29. März 1942, in der Nacht zum Palmsonntag, wurde Lübecks Altstadt von der Royal Air Force (RAF) bombardiert und fast zur Hälfte zerstört. Vor allem die zur Trave hin abfallenden „Gruben“ mit den prachtvollen Treppengiebelhäusern aus dem 15. und 16. Jahrhundert sowie drei der fünf Hauptkirchen der Altstadt: St. Marien, St. Petri und der Lübecker Dom fielen dem Flächenbombardement zum Opfer. Der Wiederaufbau und die moderne Gestaltung der City ist mit vielen Namen verknüpft, das Gesicht des modernen Lübeck aber, wozu auch Bauten der 1970er Jahre wie die zentrale Hochschulbibliothek zu rechnen sind, ist weithin das Planungswerk eines gebürtigen Rheinländers: „Er ist maßgeblich am Wiederaufbau von Lübeck beteiligt“, heißt es in seinem Nachruf vom 4. August 1977.
 
Der Kohlmarkt, 1951 (c) Jan ZimmermannDer Kohlmarkt, 1951 (c) Jan ZimmermannFriedrich-Wilhelm Seinsche kam am 6. Mai 1914 in Barmen(1) als Sohn des Christian Friedrich Seinsche oder Seynsche, Formermeister in einer Glockengießerei in Barmen, und seiner Frau Wilhelmine zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Barmen besuchte er die Höhere technische Staatslehranstalt für Hoch-und Tiefbau und legte 1934 das Staatsexamen ab. Danach ging er zum Arbeitsdienst. 1935 kam er nach Lübeck, wo der Flughafen Lübeck-Blankensee im Zuge der Wiederaufrüstung zum „Fliegerhorst“ der Luftwaffe ausgebaut wurde. In der damals noch reichsunmittelbaren Hansestadt lernte Seinsche seine künftige Frau Anne-Marie Sophie Margarete Ayé, eine gebürtige Frankfurterin, kennen. Am 1. Juli 1936 erfolgte die Eheschließung; zwei Töchter, Rose-Marie und Karin, wurden vor dem Krieg geboren. Fotografien aus jenen Jahren zeigen ein heiteres Familienleben am Travemünder Strand. Von 1935–37 war Seinsche beim Heeresbauamt Lübeck tätig und übernahm die Bauleitung beim Bau der Pionierkaserne (an der Ratzeburger Landstr., heute Bundespolizeiakademie) und anderer Bauten. 1937–40 hatte der junge Bauingenieur die Bauleitung bei der Luftwaffe in Blankensee inne und kam dann zum Luftgaukommando Braunschweig und Berlin. 
 
Yvonne, eine junge Bekannte SeinschesYvonne, eine junge Bekannte SeinschesObwohl äußerlich von kleiner Gestalt - sein "Aufmaß" betrug ca. 1,65 Meter - blieb der Baumeister, der schon in den Vorkriegsjahren in Lübeck auch erste private Auftraggeber hatte, nicht vom Wehrdienst verschont. 1940 wurde er nach
 
 Frankreich versetzt und mit dem Bau von Rollbahnen und ver­schiedenen Gebäuden beauftragt. In Frankreich wurde Seinsche schwer verwundet, überlebte einen Flugzeugabsturz und sonstige Verletzungen. So trug er dauerhaft an den Folgen eines Splitters im Kopf, was ihm äußerlich freilich nicht anzusehen war. 1944 wurde er vermisst; Seinsche war in französische Gefangenschaft geraten. Erst 1946 bekamen die Angehörigen das erste Lebenszeichen. Die Mangelernährung im Lager unterhöhlte die Gesundheit des drahtigen Mannes, der in seiner Jugend aktiver Radrennsportler war, nachhaltig. Der Skorbut hatte zur Folge, dass er fast alle Zähne verlor, außerdem trugen die schweren Jahre in Kriegshaft maßgeblich zur Ausbildung eines Herzleidens bei, welches um 1964 Ursache eines Rückschlages in seiner beruflichen Laufbahn war und dem er schließlich vorzeitig erlag.
 
Yvonne „dans le montagne“, um 1952Yvonne „dans le montagne“, um 1952Die Haft in Clermont-Ferrand überlebte der Lübecker dank seiner französischen Sprachkenntnisse als Dolmetscher. Seine gute Auffassungsgabe, seine praktische Natur als Planer und nicht zuletzt die Fürsprache der Widerstandsbewegung hatte zur Folge, dass Friedrich-Wilhelm Seinsche auch für den Wiederaufbau Frankreichs eingesetzt wurde, in seinem Gefangenenstatus mancherlei Privilegien genoss und freundschaftliche Bande zu den ehemaligen Kriegsgegnern einging. Wie aus einem nach
 
dem Kriege ausgestellten Zeugnis der Resistance hervorgeht, soll er der Bevölkerung in der Zeit der deutschen Besatzung manche humanitäre Geste und Hilfe erwiesen haben (Original im Besitz seiner Tochter Rose-Marie Kneif, geb. Seinsche, Berlin). Vermutlich lief der Kontakt zur Resistance über Seinsches Bekannte „Yvonne“, eine Einheimische, die er auf seinen Urlaubsreisen nach dem Kriege gelegentlich wieder besuchte. Zeit seines Lebens blieb er der Gourmet-Nation verbunden und pflegte mit seiner Vorliebe für ofenfrisches Baguette, französischen Camembert und die Bourgogne sowie die Schweiz als Reiseziel den Ruf eines Bonvivants. Auch die Künste der Cuisine française beherrschte er ganz passabel. Ich erinnere manchen Freitagnachmittag in den 1960er Jahren, wenn mein Pate in seinem riesigen BMW 502 vom Einkauf von Thams & Garfs kam und einer der Tüten ein französisches Meterbrot entnahm, welches er geschwind in dicke Scheibchen zerlegte und mit rohem Rinderhack, feinen Aufstrichen und Käsespezialitäten belegte, auf einer Platte anordnete und dekorierte. 
 
(1) Heute: Wuppertal-Barmen; Barmen schloss sich 1929 mit vier anderen Städten zur Großgemeinde Wuppertal zusammen. - Der folgende Abschnitt basiert im wesentlichen auf der Trauerrede vom 04.08.77 und damit letztlich auf den Angaben von Anne-Marie Seinsche.
 
Der Autor bittet um Hinweise auf die Person und Bauten von Friedrich-W. Seinsche: Wer kannte ihn, wer hat noch Material über den Architekten, Nachbarn, Freund; Pläne, Briefe, Erinnerungen, Fotos? Antworten erbeten an: mhrauert @ aim . com
 
 

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