Palmarum 1942
Neue Forschungen zu zerstörten Werken mittelalterlicher Holzskulptur und Tafelmalerei aus der Lübecker St. Marienkirche

Der Umgang mit den alten Bildern war in Lübeck ein überwiegend pragmatischer, dem die schlichte Zerstörungstat fremd war. Von dem schon früh greifbaren Lübecker Sinn für das Bewahren von Werten zeugen die evangelische Kirchenordnung von 1531, die eine deutliche Absage an jegliche Bilderstürmerei enthielt, und die städtische Kulturschutzverordnung von 1818, die den Erhalt der „Denkmäler des Altertums und der Kunst“ regelte.

Umso mehr brannte sich der verheerende Bombenangriff auf die Stadt in der Nacht vom 28. zum 29. März 1942 (Palmsonntag) in das Gedächtnis ein. „Palmarum 1942“ – mit diesem Ereignis verbindet die Stadt neben Leid und Zerstörung den Verlust einmaliger Kunstwerke, die bis dahin vor allem die Marienkirche überbordend schmückten. Neben vielteiligen Ensembles wie dem Lettner mit seinem Figurenschmuck von Benedikt Dreyer verbrannten hier allein 36 mittelalterliche Holzskulpturen und Tafelgemälde, wie Bernt Notkes Gregorsmesse, Hermen Rodes Greveradenretabel und Hans Kemmers Olavsretabel.

Fast auf den Tag genau 70 Jahre nach diesem so schmerzvollen Ereignis kamen in Lübeck am 31. März 2012 Kunsthistoriker und Historiker zusammen, um auf Einladung des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität Kiel im Rahmen einer öffentlichen Tagung an den Angriff und die dadurch zerstörten Kunstschätze der Marienkirche zu erinnern. Eine themengleiche Ausstellung in der Marienkirche umfasste fotografische Reproduktionen der vernichteten Gemäldetafeln im Format 1:1 und zahlreiche kleinere Originalteilstücke, die sich von den verbrannten Kunstwerken erhalten haben. Unterstützt und ermöglicht wurden Ausstellung und Tagung von der Kirchengemeinde St. Marien, dem St. Annen-Museum, der Kirchenbauhütte und nicht zuletzt von der Possehl-Stiftung. Der daraus hervorgegangene Aufsatzband liegt seit 2015 vor und bietet nicht nur dem kunsthistorisch Interessierten einen Einblick in die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verluste.

Die neun Vorträge bzw. Textbeiträge fallen dabei in der Zusammenschau durchaus uneinheitlich aus. Stellvertretend für jene Beiträge, die in lesefreundlicher Diktion und Argumentation die verlorenen Kunstwerke im Kirchenraum mit großer Kenntnis und Präzision beleuchten, seien diejenigen von Thorsten Albrecht (Hannover), Heinrich Dormeier (Kiel) und Hildegard Vogeler (Lübeck) hervorgehoben.

Einstieg und Hintergrund aller Beiträge bietet Thorsten Albrecht mit seinem fulminanten Beitrag Palmarum 1942 – Der Bombenangriff auf Lübeck und der Kunst- und Kulturgüterschutz (S. 11-71). Basierend auf umfangreichen Quellenstudien und einer schon seit langem für die Stadt unverzichtbaren Expertise in Fragen der Geschichte Lübecker Kunst- und Kultureinrichtungen zeichnet Albrecht die Ereignisse, die Folgen und Konsequenzen minutiös nach. Die Fülle der Detailinformationen, die dichte, strukturierte Darstellung der Abläufe fesselt den Leser bis zur letzten Zeile. Der Beitrag umfasst fast ein Fünftel des gesamten Bandes, und schon allein dieser Beitrag ist es wert, das Buch in die Hand zu nehmen.

Heinrich Dormeier geht auf Die Sängerkapelle in der Lübecker Marienkirche. Devotion, Laieninitiativen und öffentliche Wirkung (S. 97-118) ein. Mit Blick auf diese zentrale Kapelle (auch Marientidenkapelle genannt) in der Mitte des Umgangschores direkt hinter dem Hochaltar, die bis heute vom prächtigen Antwerpener Flügelretabel von 1518 dominiert wird, gelingt es Dormeier mit seinen quellenbasierten Ausführungen beispielhaft, das „Betriebs- und Wirksystem“ von Kunststiftungen im Sakralraum zu beschreiben. Der Lesegenuss- und Erkenntnisgewinn wird dabei nicht zuletzt durch die lebendige und doch stets präzise Diktion befördert, die Lust auf mehr macht.

Hildegard Vogeler thematisiert in ihrem Beitrag Das Olavs-Retabel der Bergenfahrer von Hans Kemmer und die Auswirkung der Reformation auf die Kirchenausstattung (S. 223-240). Der Kennerin der Lübecker Kunstgeschichte verdankt die Publikation die wohltuend unprätentiös vorgetragene Darlegung dessen, dass innerhalb der lutherischen Reformation die Bilderfrage tatsächlich nicht zu den vordringlichen Themen gehörte. Vogeler verdeutlicht, dass „die Reformation keine echten großen Impulse für die sakrale Kunst und neue Ausstattung der Kirchen ausgelöst [hat]. Die vielen bis dahin in Lübeck arbeitenden Schnitzwerkstätten, die den großen Bedarf an Altären vor der Reformation kaum zu decken vermocht hatten, wanderten nun ab, denn es gab für sie nichts mehr zu tun. Nur wenige vorreformatorische Künstler, wie Hans Kemmer oder Benedikt Dreyer, fanden noch ein Betätigungsfeld in Lübeck. Von den mangelnden Aufträgen einmal abgesehen, hatte die alte Hansestadt inzwischen auch ihre wirtschaftliche und politische Vormachtstellung eingebüßt. So verlor Lübeck – nicht zuletzt auch infolge der Reformation – seine „bis dahin im Norden führende Stellung als Kunstmetropole.“ (S. 237)

Der auf großer Materialkenntnis fußende Beitrag Das Hochaltarretabel der Lübecker Marienkirche – Rekonstruktion und künstlerischer Kontext (S. 72-96) von Jan Friedrich Richter (Berlin) sei hier darüber hinaus genannt, erinnert Richter doch mit dem imposanten, 1425 aufgestellten Retabel an ein wahres Wunderwerk der Altarbaukunst, dessen letzte Überreste der einzigartigen Mikroarchitektur in ihrer betörenden Qualität seit Frühjahr 2014 in der Sammlung des St. Annen-Museums zu bestaunen sind.

Abgerundet wird der Aufsatzband mit einer Dokumentation der Ausstellung in der Marienkirche (S. 287-295).

Dass der Bombenangriff in der Nacht vom 28. zum 29. März 1942 zur Vernichtung einzigartiger Kunstschätze, zur Vernichtung von Kulturerbe führte, war bekannt. Was der vorliegende Aufsatzband erstmalig vor Augen führt, sind die künstlerische Qualität und die historische Bedeutung jener Kunstwerke, die man seit der Palmsonntagsnacht 1942 nur mehr von Abbildungen kennt.

Palmarum 1942. Neue Forschungen zu zerstörten Werken mittelalterlicher Holzskulptur und Tafelmalerei aus der Lübecker St. Marienkirche, Hrsg. von Uwe Albrecht und Ulrike Nürnberger, Verlag Ludwig Kiel 2015, 296 Seiten, 119 Schwarzweiß- und 23 Farbabbildungen

Das Buch ist u. a. in den inhabergeführten Lübecker Buchhandlungen BuchfinkArno AdlerLangenkamp 
und 
maKULaTUR erhältlich.

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