Wiglaf Droste, Foto: (c) Ulrike Stöhring

Interview mit Wiglaf Droste
"Wenn dich wer fragt nach Soll und Sinn / dann hörst du besser gar nicht hin."

Im Dezember 2009 war der Autor und Journalist Wiglaf Droste in Lübeck und hat das Publikum mit einer Lesung erfreut. Unser Lübeck war auch dabei und konnte Wiglaf Droste für ein ausführliches Interview gewinnen, eine seiner Satiren über den Berliner Touristen inklusive.

Stephanie Gerlich: Herr Droste, im Frühjahr haben Sie einige Monate als Stadtschreiber zu Rheinsberg in der Mark Brandenburg verbracht. Wie hat es Ihnen in der Provinz gefallen? Hatten Sie Gelegenheit, dem Posaunenchor der Kantorei bei einem seiner Auftritte im Schlosspark zu lauschen? (Vor vielen Jahren standen meine Posaune und ich da im Tenor unsere Frau…)

Wiglaf Droste: Ich kannte Rheinsberg schon ein bisschen aus der Zeit, die ich in Berlin verbrachte – „jener deutschen, jener flachen, ausgedehnten Provinzstadt“, wie Peter Hacks Berlin so treffend beschrieb. Einen Posaunenchor habe ich im Frühjahr und Sommer 2009 in Rheinsberg nicht gehört, aber diverse Aufführungen beim Rheinsberger Musiksommer erlebt. Es begann mit Richard Wagners „Liebesverbot“, einem Frühwerk, das so angenehm unwagnerisch ist, so frei von Effekthascherei, dass es dem späten Wagner überhaupt nicht mehr gefiel. Im Schlosstheater gab es Benjamin Brittens „Raub der Lukrezia“, wobei Raub eine sehr verharmlosende Übersetzung von „rape“ ist, das ja Schändung bedeutet, Vergewaltigung. Das war eine sehr mutige Aufführung. Zum Abschluss wurde im Heckentheater Pjotr Tschaikowskis „Eugen Onegin“ gegeben. Das war schon auch harte Ohrenarbeit, weil sich die Instrumente in der Abendkühle ja verstimmen – aber es war dennoch schön, im Park zu sitzen, unterm freien, besternten und bemondeten Himmel. Das Besondere am Rheinsberger Kulturleben ist, dass es nicht ausschließlich für Touristen importiert und inszeniert wird, sondern auch originär rheinsbergisch ist. Das Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum steht eben nicht in Berlin, einer Stadt, die Tucholsky verabscheute, sondern in Rheinsberg, dem Städtchen, in dem er mit seiner späteren Frau Else Weil ein Liebeswochenende verlebte. Provinziell sind vor allem jene Berliner, die Rheinsberg provinziell finden.

Stephanie Gerlich: Als Satiriker in Rheinsberg – das muss doch Material für mindestens drei Bücher mit sich bringen, oder? Oder finden Sie die Großstädter inspirierender? (Gibt es in Rheinsberg ab Mai ja auch in rauen Mengen, hauptsächlich Berliner.)

Wiglaf Droste: Ich habe in der Rheinsberger Zeit für das rbb-Kulturradio, für die Monatszeitschrift Das Magazin und einmal pro Woche für die Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ) kolumniert; dabei ging es manchmal um Rheinsberg und die Wald- und Seenlandschaft, die Rheinsberg umgibt, aber auch um die ganz allgemeinen Weltsachen. Das „Bombodrom“ genannte Areal für Bombenabwurfübungen und andere geistige Tieffliegerei konnte der Bundeswehr entrungen werden. Dass ich ein kleines bisschen mithelfen durfte, den gehirnfreien deutschen Militärs und Mordstrebern ihr miesfieses Spiel zu verderben, hat mich hoch erfreut. Einmal im Monat habe ich einen Kollegen zu einer gemeinsamen Lesung eingeladen: Ralf Sotscheck, F.W. Bernstein, Harry Rowohlt, Rayk Wieland und Fritz Eckenga, die allesamt zum ersten Mal in Rheinsberg auftraten. Die Rheinsbergerinnen und Rheinsberger wussten das zu schätzen: Obwohl das Wetter an allen fünf Tagen so phantastisch war, dass man eigentlich am oder im See hätte sein wollen, waren alle Veranstaltungen ausverkauft. Lauschig war’s, und sogar die Zuschauer, die eigens aus Berlin anreisten, hatten Stil und Benimm. Was man von den üblichen Touristen aus Berlin nicht immer sagen kann. Zum Abschluss der Stadtschreiberzeit liefert man einen „Rheinsberger Bogen“ ab, ein 16seitiges Büchlein, das vom Kurt Tucholsky-Literaturmuseum herausgegeben wird. Mein Rheinsberger Bogen heißt „Auf sie mit Idyll!“ – der Titel gefällt mir so gut, dass ich das übernächste Buch so nennen werde, da habe ich dann den Platz für eine angemessene Rheinsberg-Würdigung. Und da Sie explizit nach den Berlinern fragen; eine Geschichte aus dem „Rheinsberger Bogen“ ist ihnen gewidmet. Voilà:

Wenn der Berliner kommt…
Am Wochenende und an kirchlichen Feiertagen überfällt den Berliner der Wunsch, ein Mensch zu sein. Zwar hat er vor lauter Wichtigkeit vergessen, was das ist und wie das geht, aber er nimmt es sich tüchtig vor und organisiert es mit der ihm eigenen Bedeutsamkeit. Mister Hyde möchte wieder Doktor Jekyll werden; zwar bleibt er immer Mister Hyde, egal wie humanoid er sich auch verkleidet, schminkt oder gibt, aber das weiß er nicht, ignoriert es also frohgemut, wirft sich in Freizeitschale, klemmt sich Mausi unter den Arm und knattert los.

Sein Ziel ist das, was er ganz selbstverständlich als „Umland“ bezeichnet; die Herablassung, die in diesem Wort steckt, ist ihm zwar nicht bewusst, aber durchaus so gemeint. Schließlich ist Berlin der Mittelpunkt der Welt, um den alles andere eben herumliegt und nur darauf wartet, mit dem Geschenk eines Besuchs beglückt zu werden. Wenn ein Berliner eine Vorstellung davon hätte, dass die von ihm als Rest betrachtete übrige Menschheit ihre eigenen und von ihm ganz unabhängigen Ziele verfolgen könnte, dann wäre das schon sehr viel.

Der Berliner hat von nichts eine Ahnung, das aber laut und vernehmlich. Er muss auch nichts wissen; er ist ja schon da, das genügt ihm vollständig und sollte auch jedem anderen ein hinreichender Grund zur Freude sein. Und so taucht er im Städtchen auf, gern in großer Schaumacherkarre oder auch auf dem heftig pött-pötternden Motorrad, jedenfalls so, dass man ihn optisch und akustisch wahrnehmen muss, ob man das nun möchte oder nicht. Hat er sein Sieht-mich-auch-jeder?-Vehikel abgestellt, walzt er in Zweier- oder in Viererreihe übers Trottoir wie ein gemächliches Breitwandgesäß, lässt niemanden passieren und hat demonstrativ jede Menge Zeit. Etwas Konturloses, Matschiges, Sinnloses umweht ihn; ohne sich eine Form zu geben, würgt und wirscht er durch die Gegend und teilt der Welt in Körpersprache mit: Ist es nicht herrlich, dass ICH jetzt frei habe? Mag sein – aber geht das die Welt irgendetwas an? Und ist es nicht erstaunlich, wie brüllend laut die angeblich stumme Körpersprache sein kann?

Dezente Zurückhaltung überlässt der ausflügelnde Berliner anderen. Er ist inzwischen im Lokal angekommen und verlangt Bedienung. Die steht ihm zu, aber zack-zack. Ungläubig und widerwillig muss der Vertreter der Ausflugssorte Mensch zur Kenntnis nehmen, dass nicht allein er und die Seinen auf die singulär außergewöhnliche Idee einer Ausfahrt kamen; viele, viele andere sind ausgeflogen, manche sogar schon vor ihm. Bekommt er jetzt vielleicht nicht sofort einen Platz und alles, worauf er ein Anrecht hat? Skandal? Verrat? Ja, auch – vor allem aber Frechheit, jawohl: „Eine Frechheit is dett!“

Mürrisch und kurz vor maulen steht der ausflugszielfixierte Berliner im Lokal und hühnert mit den Füßen. Beinahe schon hat er ein abschließend wegwerfendes „Also hier kannste ja ooch jarnisch mehr hinjehn!“ auf den Lippen, als er doch noch einen freien Tisch erspäht. Allerdings steht dieser recht entlegen halb um die Ecke, und die Rückenlehnen der Stühle sind gegen die Tischkanten gekippt. Über diese kleinen Zeichen sieht und geht der Ausflügler großzügig hinweg, eilt samt seinem Tross hinzu, rückt und ruckelt sich das Gestühl ostentativ und abermals gut vernehmlich zurecht, macht es sich bequem und schaut mit erwartungsvoll gerundetem Karpfenmund zu Kellnerin und Kellner.

Die allerdings haben gut zu tun, und ihre Wegschneisen liegen abseits des Tisches, an dem Familie Sitzsack Platz genommen hat. Die Stimmung am Tisch verdüstert sich; wie kann das sein? Wir sind schon zwei Minuten hier, und das Essen steht noch nicht auf dem Tisch? Es wird nach Bedienung gewinkt, gerufen, mit den Fingern geschnipst und sogar gepfiffen; auch diese groben Regelverstöße bleiben folgenlos, in jeder Hinsicht. Nun macht der Ausflugsfamilienvorstand die Angelegenheit zur Chefsache, steht auf, strafft sich, sandalettet in einen weniger dezentral gelegenen Bereich des Gartenlokals hinüber und stellt sich entschlossen und mutig einer Kellnerin in den Weg. Die, ein volles Tablett in den Händen, erklärt ihm dennoch geduldig, dass an jenem Tisch leider nicht bedient werde; zu diesem Zeichen habe sie ja auch die Stühle gegen den Tisch gelehnt.

Das Gesicht des Ausflüglers wird zur Bühne, auf der ein faszinierendes Schauspiel sich ereignet: Zehntelsekunde für Zehntelsekunde kann man dabei zusehen, wie lange es dauert, bis der Groschen fällt. Als er durchgerutscht ist, klappt dem Ausflügler der Mund auf. In wortloser Wut starrt er die Kellnerin an, dreht sich um und macht seinem Klüngel ein Handzeichen, aufzustehen. Geräuschvoll rauscht die Truppe ab. Im Gesicht des Chefausflüglers aber arbeitet es. Seine Sprache kehrt in ihn zurück. Er dreht sich noch einmal um, schwillt zu voller Bedeutung an und entlässt den Inhalt seines Triumphatorenkopfes in den Tag: „So kann ditt ja nüscht wern im Osten!“ – Nein, da muss erst einer wie er kommen, bis alles so schön ist wie überall.

Was ist der Unterschied zwischen Terroristen und Touristen? Terroristen haben Sympathisanten.

Stephanie Gerlich: Bei „Am Nebentisch belauscht“ sind Sie weniger Schreiber, eher Vorleser. Mal abgesehen von den beiden Damen, die über die unvermeidliche Reise zu Mutti am Heiligabend debattieren – belauschen Sie oft Ihre Mitmenschen am Nebentisch? Und fallen Ihnen alle diese absurden Themen wie das Prozedere der Papstwahl hinter den verschlossenen Türen der Sixtinischen Kapelle tatsächlich selbst ein?

Wiglaf Droste: Die CD „Am Nebentisch belauscht“ ist ein Hörbuch, da wächst der Autor, wenn es gelingt, zum Erzähler. Die orale Form der Verständigung ist so angenehm direkt und verhindert Missverständnisse. Es ist ja ganz erstaunlich, was Leser in einen Text hineinlesen können, das nirgendwo geschrieben steht. Aber sie schwören Stein und Bein, dass der Autor es geschrieben habe. Beim Hören sind solche Fehlleistungen weniger möglich; die menschliche Stimme kann nicht lügen; ein geschultes Trommelfell, dieses so zarte, unterschätzte und von Gestank im Ohr gequälte Organ, erkennt jeden falschen Ton sofort. Um etwas zu hören, das nicht da ist, muss man sich schon regelrecht hinrichten. Ein Beispiel: Rüdiger Safranski gilt im deutschen TV- und Literaturbetrieb als Philosoph, obwohl er das Wort Philosophie nicht unfallfrei aussprechen kann. Seine Zuhörer haben sich jedoch fest entschlossen und verabredet, die Safranski’schen Sprech- und Denkdefekte zu überhören. So funktioniert das. Was die beiden Damen am Nebentisch angeht, die fröhlich ausrufen, „Wir müssen mit der Eisenbahn / ungefickt zu Mutter fahr‘n!“ – die habe ich mir ganz realistisch erfunden und ausgemalt, weil die Wirklichkeit solcher Personen unbedingt bedarf. Das rituelle Geknäckere der Vatikangreise mit Humor zu humanisieren, ist dagegen eher eine satirische Pflichtaufgabe.

Stephanie Gerlich: Die Journalisten haben Sie als genialen Sprachkritiker gefeiert. Können Sie uns das Wort „Gastrosophie“ näher erläutern? Es taucht in dem Wikipedia-Eintrag über Sie auf; in der eher drögen Wiki-Definition dazu findet sich u.a. der Satz „Gastrosophie steht in der Tradition philosophischer Diätlehren, die besonders Ernährung, aber auch Gymnastik und Sexualität betreffen.“ Erklären Sie uns das doch bitte, dann wird es vielleicht anschaulicher.

Wiglaf Droste: Ist Wikipedia nicht das Zentralorgan für Halbwahrheiten und Nachplapperei? Gastrosophie ist kein schönes Wort, ich hätte es mir nicht ausgedacht, es klingt nach Gastritis und schlechter Philosophie, man denkt an Peter Sloterdijk, der aussieht, als sei er dem Comic „Asterix bei den Belgiern“ entsprungen, aber leider eben nicht den wunderbaren Comicbelgier gibt, sondern fürs Feuilleton den Nietzsche macht. Brrrr. Wenn man Gastrosophie allerdings mit kulinarischer Lebenskunst übersetzt, könnte es hinhauen. Um diese Lebensform und ihre Voraussetzungen und Spezifikationen kümmern der Koch, Musikus und Autor Vincent Klink und ich uns seit 1999 in unserer Vierteljahreszeitschrift „Häuptling Eigener Herd“, deren Motto lautet „Wir schnallen den Gürtel weiter“. Das ist bitte auch weltanschaulich zu verstehen. Es geht also nicht um Modeschischi für gelangweilte Ausgehschreiber, sondern immer um den ganzen Menschen, der sich auch am Herd entfalten kann, aber niemals in der Herde.

Stephanie Gerlich: Was lässt Sie eigentlich immer wieder zum Stift oder zum Laptop greifen? Oder anders gefragt: Hat es einen Sinn, gegen radelnde Wurstpellen und ambulante Ernährung anzuschreiben?

Wiglaf Droste: Schreiben ist der mir ausgesuchte Beruf, Dichten und Singen sind erfüllende und immer wieder neu magnetisch anziehende Daseinsformen. Ein Dichter schreibt ja auch nur selten „gegen etwas an“; er beschreibt, was er mit seinen eigenen Augen sieht, seinen eigenen Ohren hört, was er eben auf seine eigene Weise wahrnimmt und am eigenen Leibe erfährt, wobei Leib und Seele einunddassselbe sind, und das tut er in seiner eigenen Sprache, die er sich sucht und die er sich erschafft. Ob das außerhalb von sich selbst einen Sinn hat, ist, pardon, eine Frage, die eher zu selbstüberschätzerischen Antworten führt. Wenn dich wer fragt nach Soll und Sinn / dann hörst du besser gar nicht hin.

Stephanie Gerlich: Dieses Interview haben wir mit den Mitteln moderner Kommunikation geführt – per E-Mail – aber dem Vernehmen nach sind Sie kein so großer Fan des digitalen Lebens, oder? Würden Sie sich selbst als altmodisch bezeichnen, was Kommunikationsformen angeht?

Wiglaf Droste: Digitalien ist das dümmste und wertloseste, aber eben das größte Land der Welt. Es ist schon erstaunlich, was alles in den Rang einer Nachricht erhoben wird, seit jeder alles in irgendein „Netz“ hineinstellen kann. Je weniger einer zu sagen hat, desto mittteilsamer wird er. Niemand twittert, um etwas zu sagen – es geht um die Coolness der Form. Aber was cool ist und was nicht, ist nur eine Frage der Verabredung. Es könnte sein, dass armselige Blogger demnächst als die Bloggwarte angesehen werden, die sie ja auch sind. Für eine gute öffentliche Sprache ist das Bloggen tödlich; die Verleger sparen den Preis für die menschlichen Ressourcen Denken, Wissen, Erfahrung, Recherche und Formulierungskunst und nehmen sich Blogger, die sich die Welt als Google vorstellen und buchstabieren – und die es vor allem umsonst machen. Genausoviel ist das Zeug eben auch wert.

Lieber Herr Droste, wir danken Ihnen für dieses Interview.

(Wiglaf Droste ist am 15. Mai 2019 verstorben.)

Wiglaf Droste liest im Filmhaus: Der Papst und andere Muttersöhnchen unter Satire-Beschuss


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