Frühmorgens ist meine zweitliebste Tageszeit in Lübecks City. Wenn die Stadt gerade dabei ist, sich schläfrig schmatzend nochmal umzudrehen, alles noch den nordischkühlen Grauschleier vor sich herschiebt und die ersten Fabrikarbeiterinnen auf dem Weg zur Arbeit an Bushaltestellen stehen und sich eine Kippe und einen Kaffee reintun.
Vor einiger Zeit sah ich zu dieser Stunde eine pummelige grauhaarige Frau, die ganz in Schwarz, mit Kapuzenpulli und fingerlosen Handschuhen und klobigen Arbeiterschuhen mitten in der Innenstadt in der Gegend rumstand und Häuser fotografierte. Und im nächsten Moment sogar Nahaufnahmen von Häusern. Ich beobachtete aus sicherer Entfernung, wie sie circa eine halbe Stunde fast an der bröckeligen Wand eines schäbigen leerstehenden Hauses klebte und scheinbar in die Risse hineinfotografierte. Als sie sich anschickte, schließlich weiterzugehen, konnte ich den Impuls nicht unterdrücken und ging hin, um sie zu fragen, was zum Geier sie dort macht.
Kurz angebunden und etwas schüchtern brachte sie heraus, dass sie Lübeck-Fotos macht, von der ranzigen, morbiden Sorte. Und sie hätte nicht die Risse fotografiert, sondern ein Haus gegenüber, welches sich im Schaufenster spiegelt. Sie gab mir einen Flyer, der sich scheinbar meterlang wie ein Leporello aufklappte und eine Reihe Fotos zeigte, die ich so aus Lübeck noch nicht gesehen hatte. Tina Schönwald und Webseite Atelier Roststätte stand darauf. Aber irgendwie ist der Flyer dann in den Tiefen meiner Tasche verschwunden.
(c) Tina Schönwald
Und jetzt, Monate später, stehe ich im Buchladen zufällig vor einem Fotokalender eben dieser Frau, von dem mich schon das Deckblatt fasziniert, und denke, die hat Eier, mit sowas im idyllverwöhnten Touri-Lübeck rauszukommen. Ich nehme zwei Kalender und gehe zur Kasse. Einen für die nette Türkenomi, die mit mir im selben Stock wohnt und die von morgens bis abends Roth-Händle raucht, und einen für meinen Sohn, der mitten in der alles in Frage stellenden Pubertät ist. Bei dem kommt das bestimmt gut an.
Zu Hause besuche ich dann nun doch neugierig geworden Tina Schönwalds Webseite. Sie ist voller Fotografien, die atmosphärisch dicht und auf eine Art poetisch und cineastisch sind und gleichzeitig irgendwo tief ans kafkaeske Innere rühren. Manche sind untermalt mit Begleitmusik, die die Fotos und die Stimmung dazu noch erlebbarer macht und manche sind Anschauungsmaterial zu einer Kurzgeschichte, aus denen sich ganze Filme drehen lassen würden, die einen das Leben echter und gleichzeitig bedeutsamer erscheinen ließen. Ich gehe davon aus, in ein paar Jahren sind diese Bilder die Klassiker des neuen ehrlichen ungeschönten und deswegen wunderschönen Realismus.
Auf der Webseite www.atelier-roststaette.de steht, dass Tina Schönwald ab Januar ihr neues Atelier bezieht, in dem auch Besucher herzlich willkommen sind, um sich ausgiebigst umzugucken. Und wie könnte es passender sein, das Atelier befindet sich am Hafen, dreieinhalb Schritte aus der Innenstadt raus, hinter der Hubbrücke, dort wo die Stadt anfängt, roh und industriell zu werden.
In diesem Sinne, oh du fröhliche!