Foto: Detlef Radenbach

Das Projekt Kunsttankstelle an der Obertrave
Neue Heimat für Defacto Art

Im Sektor der Kreativwirtschaft bilden die freien Künstler das schwächste Glied.

Umso erfreulicher ist es, wenn diese sich – schon von der Profession her zur Individualität und Unabhängigkeit gezwungen – in selbst organisierten Ateliergemeinschaften zusammenfinden, einen eigenen Ausstellungs- und Galeriebetrieb erschaffen und über die Schau der eigenen Arbeiten weit hinausgehend ein reiches kulturelles Programm anbieten. Was sonst nur Metropolen auszeichnet, ein sich ständig veränderndes, immer neue Freiräume suchendes und ohne öffentliche Förderung funktionierendes kreatives Milieu, kann mit Defacto Art auch Lübeck vorweisen – zumindest bis heute.

Naturgemäß fällt es einer Gemeinschaft von Individualisten schwer, sich langfristig aneinander und an eine Sache zu binden. Der freien Kunstszene ist es auch sonst zu eigen, sich provisorisch in Leerständen einzurichten und überwiegend mit Eigenleistungen brachliegende Räume an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Die Künstlerszene hat in mancher Metropole so schon ganze heruntergekommene Stadtteile wiederbelebt: Auf die Künstler folgen die Galeristen, dann die Cafés und Restaurants und schließlich die Immobilienentwickler – und die Karawane zieht weiter. Doch in nur mittelgroßen oder „nur“ großen Städten wie Lübeck fehlt es an der kritischen Masse.

Die Künstlergemeinschaft Defacto Art mit ihrem Atelier- und Galeriehaus innerhalb eines mehrgeschossigen Lager- und Werkstattgebäudes aus dem ausgehenden 19. Jhd. war stets dem Risiko ausgesetzt, kurzfristig aus ihrem selbst entwickelten Domizil vertrieben zu werden. Mit der Altstadtsanierung und der Ausweisung von Misch- und auch reinen Wohngebieten änderten sich auch die Rahmenbedingungen für den Betrieb von Maschinen oder das Abhalten eines regelmäßigen Veranstaltungsprogramms. Und schließlich drohen bei über kurz oder lang kündbaren Miet- oder Pachtverhältnissen auch alternative Verwertungsofferten für die Eigentümerseite.

Wohl eine Mischung aus beidem führte im März 2014 dazu, dass Defacto Art – seit 2006 als gemeinnütziger Verein Defacto Art e. V. geführt – eine neue Heim- und Wirkungsstätte suchte, die es ermöglicht, den Künstlerverbund zusammenzuhalten und ihm idealerweise auch noch Entwicklungsspielräume gewährt. Aus einem fruchtbaren Zusammenwirken lokalpolitischer Akteure entstand der Plan, zukünftig Lübecks älteste Tankstelle nebst Garagenhof an den Salzspeichern für Defacto Art zu nutzen. Damit wird an dieser Stelle ein anderer Weg gegangen, als brachgefallene Flächen und Gebäude an Lübecks Altstadtrand nur einer Wohnbebauung im gehobenen Segment zuzuführen.

Die Tankstelle

Auto-Haus Salzspeicher, 1930Auto-Haus Salzspeicher, 1930Mit einer behutsamen Entwicklung von Gebäude und Freiflächen aus der Zeit der beginnenden Motorisierung bleibt auch ein Stück jüngere Stadtgeschichte mit bescheidenen, aber durchaus ansehnlichen Bauwerken erlebbar: 1926 wurde zunächst in den Salzspeichern der Betrieb Schulze & Oltmanns gegründet. Es gab dort eine Autowerkstatt, eine Tankstelle und eine Garagenvermietung. Die Tankstelle befand sich an der Straße, die Stellplätze in den Speichern, eine Hebebühne draußen davor im Freien. Im Obergeschoss lag das Büro. Schulze & Oltmanns besaß in dieser Zeit die Generalvertretung für die Heinrich Büssing Automobilwerke AG, einem der damals größten Anbieter von Omnibussen und Lastkraftwagen in Mitteleuropa mit beachtlichen Exporten auch nach Übersee (seit 1971 zum MAN-Konzern zugehörig). 1936 sollten die Salzspeicher saniert und anschließend als Kaufhaus genutzt werden. Als Ersatz erhielt der Firmengründer von der Stadt das benachbarte Grundstück Wallstraße 3/5, auf dem er eine neue Tankstelle errichtete. 1951 wurden ein Garagenhof und die Werkstatt- bzw. Waschhalle angebaut. 

Neubau nach 1936 auf dem Grundstück in der Wallstraße 3/5, Foto: Fam. OltmannsNeubau nach 1936 auf dem Grundstück in der Wallstraße 3/5, Foto: Fam. Oltmanns

Die Boie- bzw. später Avia-Tankstelle wurde vom Sohn des Firmengründers weiter betrieben. Ende der 1980er Jahre kam der bleifreie Kraftstoff auf. Dafür hätten zusätzliche Tanks und Tanksäulen installiert werden müssen. Bei einer Provision von 3 Pf/l Kraftstoff war diese Investition für eine Tankstelle in dieser Lage unwirtschaftlich und so wurde der Tankstellenbetrieb 1989 eingestellt, nur der Garagenbetrieb und Parkplätze wurden fortgeführt, bis im Jahr 2011 der Pachtvertrag mit der Stadt endete. Seitdem lag das Gelände brach, die Gebäude waren dem Verfall preisgegeben. 

Das Projekt der Kunsttankstelle

Im Februar 2015 beschloss die Bürgerschaft mit den Stimmen von SPD, Bündnisgrünen und einem Freien Wähler: „Der Bürgermeister wird beauftragt, mit dem Verein Defacto Art e. V. Gespräche zur konzeptionellen Entwicklung des ehemaligen Garagenhofs/Tankstelle ... als Galerie-/Atelierhof aufzunehmen. Die Hansestadt Lübeck unterstützt das Vorhaben in der Planung und Konzeptionsphase mit dem Ziel, den Standort zu erhalten und ihn mittelfristig als Ort für Kulturschaffende und Kreative im Bestand zu entwickeln.“ Für die Nutzung des Geländes durch den Verein soll wieder ein Erbbaurecht aufleben, der Gebäudebestand zu dem vom Gutachterausschuss ermittelten Verkehrswert erworben werden. Voraussetzung ist jedoch der Nachweis, dass Sanierung und Ausbau durch den Verein geleistet werden.

Das Konzept sieht vor, dass im Garagenhof zwölf bis 14 Ateliers entstehen, die öffentlich einsehbar und zeitweise auch für Besucher zugänglich sind. Die ehemalige Werkstatthalle soll als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum dienen. Auch der Innenhof des Garagenrings und die Freifläche in Richtung Trave sollen für Ausstellungen, Installationen und kleine Aufführungen genutzt werden. Ein kleines Café soll während der Veranstaltungen die gastronomische Versorgung der Besucher sicherstellen. 

Das inhaltliche Konzept der Kulturtankstelle entspricht folglich der bisherigen Praxis des Vereins. In Lübeck gibt es sonst keinen Kunstverein, der — selbst organisiert und an demselben Ort — überwiegend jüngeren Künstlern zu einem niedrigen Kostenbeitrag die Möglichkeit zum Ausüben ihrer künstlerischen Tätigkeit, zum Ausstellen und zur Kommunikation mit Interessierten bietet. Dass dieser Bedarf vorhanden ist, zeigt die durchgehende Existenz von Defacto zunächst als Ateliergemeinschaft und dann als eingetragener Verein seit mindestens 17 Jahren. Viele inzwischen regional bekannte Künstler haben im Balauerfohr ausgestellt oder sogar ein Atelier betrieben. 

Museumsnacht 2016: Figur von Ria Bredemeyer, Foto: (c) Oliver KönigMuseumsnacht 2016: Figur von Ria Bredemeyer, Foto: (c) Oliver König

Stand der Umsetzung

Im Jahr 2015 wurde das Grundstück von der Stadt anhand gegeben. Der Verein besitzt also das alleinige Zugriffsrecht für dessen Entwicklung und damit eine gesicherte Basis, um die Umsetzungsplanung zu entwickeln und die Finanzierung für den Gebäudeerwerb sowie deren Ausbau und Sanierung zu beschaffen. In Eigenleistung wurden zunächst Müllablagerungen beseitigt, die Gebäude gereinigt und wilder Bewuchs entfernt. Nach kleineren Reparaturarbeiten ist eine gefahrlose provisorische Nutzung ermöglicht worden. Baupläne wurden erstellt und Sanierungs- und Umbaukosten errechnet.

Um den Standort ins Bewusstsein zu bringen, hat der Verein hier an zwei Lübecker Museumsnächten und den Tagen des Offenen Ateliers teil genommen. Architekturstudenten der Lübecker Fachhochschule fertigten Entwürfe für einen Ausbau der Anlage an. Es fand eine Führung im Rahmen des Architektursommers 2015 statt. Es haben sich gute Kontakte entwickelt mit dem Vorstand des an die Tankstelle angrenzenden Boule–Clubs. Der Präsident der Musikhochschule — welche das kleine, weiter südlich gelegene Gebäude gemietet hat - möchte gemeinsam mit dem Verein ein Nutzungskonzept für die Grünfläche des Areals erarbeiten. Mit der Gemeinschaft Lübecker Künstler wurden Möglichkeiten einer Zusammenarbeit erörtert; Mitglieder dieses Vereins stellten Arbeiten für eine Kunstauktion zugunsten der Kunsttankstelle zur Verfügung und nutzten schon Garagen. 

Im Ergebnis ist der öffentliche Zuspruch für den Verein und das Projekt groß. Die Unterstützung von Baumaßnahmen seitens einer Tiefbaufirma und zur Bereitstellung von Material durch ein Holzhandelsunternehmen wurden informell zugesagt. Eine Bauvoranfrage hinsichtlich einer Erweiterung der Halle und der Befensterung von Garagen wurde von der Stadtplanung positiv beschieden. Doch fehlt es aktuell noch an einer Anschubförderung bzw. -finanzierung für diejenigen Sicherungs- und Ausbauarbeiten, welche nicht in Eigenleistungen und aus nur beschränkt verfügbaren Eigenmitteln des Vereins geleistet werden können. Aktuell bleibt daher zu hoffen, dass der Verein durch weitere Partner, durch Stiftungen und mit Hilfe von Spendern die Finanzierbarkeit der Initial-Investitionen erreichen und damit auch die Machbarkeit nachweisen kann, dass der fortlaufende Betrieb und die weitere Entwicklung eines dann einzigartigen Kunst- und Kulturzentrums direkt an einem Schwerpunkt des Lübeck-Tourismus gesichert ist.

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