Lübecker Stadtdiskurs
Aufbruchstimmung und ein klares Votum für eine Fortsetzung

Eine öffentliche Gesprächsrunde zog ein vorläufiges Fazit und wagte einen Ausblick.

Zum 225. Geburtstag machte sich die Gemeinnützige selbst, aber auch der Stadt ein Geschenk und brachte den Stadtdiskurs auf den Weg. Die Vorsteherschaft der Gemeinnützigen verfolgte mit dem neuen Format das Ziel, die Zukunft der Stadt aktiv anzudenken und mitzugestalten.

Die stellvertretende Direktorin, Antje Peters-Hirt, übernahm einmal mehr die Verantwortung und entwickelte gemeinsam mit dem Berliner Ethnologen Prof. Dr. Ulf Matthiesen das Konzept. Das neue Format sollte zum Nachdenken anregen, Zusammenhänge erklären, Perspektiven eröffnen, neue Ideen generieren und vor allem zur Diskussion anregen.

Am 17.09.2014 wurde der Stadtdiskurs – nach dem Auftakt am 03.09.2014 – mit einem Vortrag von Prof. Dr. Helmuth Berking (Darmstadt) zum Thema „Wie tickt diese Stadt“ eröffnet und am 20.01.2016 mit einem Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Vinken (Bamberg) mit dem Thema „Lübecks Altstadt zwischen Wiederaufbau, Rekonstruktion und Themenarchitektur“ vorläufig beendet. Namhafte Experten aus dem In- und Ausland setzten sich im Rahmen des Diskurses über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren mit unterschiedlichsten Fragestellungen in Vorträgen und anschließenden Diskussionsrunden auseinander.

Nach eineinhalb Jahren wurde es Zeit den bisherigen Diskurs zu evaluieren. Zu diesem Zweck hatten Antje Peters-Hirt und Manfred Eickhölter zu einer öffentlichen Gesprächsrunde geladen, die überaus regen Zuspruch fand. Eine prominent besetzte Runde – sie repräsentierte ein breites Spektrum der Lübecker Stadtgesellschaft – konnte sich an die Analyse machen. Die Thematik interessierte und bewegte Bürger und Verantwortliche.

Positives Gesamtfazit

Um es vorweg zu nehmen: Das Fazit der Runde fiel überaus positiv aus. Der Diskurs wurde uneingeschränkt als Erfolg gewertet und mit Blick in die Zukunft als große Chance gesehen, an der Entwicklung Lübecks mitzuwirken, der Stadt weitere Impulse zu geben, Herausforderungen zu meistern und neue Perspektiven zu eröffnen. Ein beachtlicher Mehrwert wurde herausgearbeitet.

Nahezu alle Teilnehmer bewerteten den Diskurs auch persönlich als Bereicherung. Viele neue Einblicke auf die Stadt wurden ermöglicht. Besonders hervorgehoben wurden die Interdisziplinarität und das „Über-den-Tellerrand-schauen“. Die Teilnehmer sprachen sich unisono für eine Fortführung des Diskurses aus.

Das Format hatte über die Monate sein Publikum gefunden: Interessierte Bürger, Senatoren, Vertreter aus Politik und Verwaltung, dazu einige Schüler und Studenten verfolgten regelmäßig den Stadtdiskurs. Die Vorträge wurden angenommen, einige auch kontrovers diskutiert. Gerade der Vortrag des Hamburger Professors Friedrich von Borries spaltete das Publikum. So mancher Gast fühlte sich provoziert und irritiert, andere inspiriert und bereichert. Antje Peters-Hirt beschrieb das Gesamtprojekt als „work in progress“. Angedacht war Vieles. Nicht Alles konnte realisiert werden. Manches entwickelte sich erst im Laufe der Zeit.

Differenzierte Einzelbewertung

Die Teilnehmer der Abschlussrunde fanden jedoch nicht nur Worte des Lobes, sondern setzten sich durchaus kritisch und differenziert mit dem Format auseinander.

So hätte sich der Stadtplaner Klaus Brendle mehr aktiven Diskurs und weniger Vorlesungen gewünscht. Bodo Fabian bedauerte, dass Lübeck im Stadtdiskurs häufig nur von außen gesehen wurde. Sollte es eine Fortsetzung geben, sollte der Innensicht eine größere Bedeutung beigemessen werden. Fabian regte Impulsreferate von „Stadtkennern“ an, die von externen Experten begleitet werden. Konkrete Anregungen und Ratschläge wurden gewünscht!

Das Niveau der Veranstaltung wurde als anspruchsvoll empfunden. Jan Lokers schlug vor, die Impulsreferate populärer und weniger exklusiv zu formulieren.

Die Bewertung der inhaltlichen Schwerpunktsetzung war stark von individuellen Interessen abhängig. Während einige Teilnehmer weniger stadtsoziologische Schwerpunkte wünschten, machten diese für andere den besonderen Reiz aus. Manfred Eickhölter beispielsweise regte eine stadtsoziologische Inventarisierung an. Unter der Überschrift „In welcher Stadt leben wir?“ könnte über Stadtethnologie und Stadtidentität nachgedacht werden. Eickhölter sah hierin eine Alternative zur Leitbilddiskussion.

Einige Teilnehmer kritisierten eine „gefühlte Inflation“ ähnlicher Veranstaltungsformate. Es stellt sich heraus, dass unterschiedliche Planungszyklen der Veranstalter ursächlich waren.

Frank Schwartze merkte an, dass es nicht so sehr um das Publikum gehe, das man sich gegenseitig abspenstig mache, sondern um Lübeck. Es sei an der Zeit, dass sich die zivilgesellschaftlichen Kräfte zusammen tun, sagte der FH-Professor. Der Einschätzung schloss sich Olivia Kempke vom Lübeck Management an. Man müsse aufeinander zugehen und Planungen gemeinsam betreiben. So ließe sich Vielfalt generieren, Perspektiven eröffnen, Hemmschwellen abbauen und Ziele erreichen.

Mehr Bürgerbeteiligung

Klaus Brendle mahnte eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung an. „Wissen wir, was die 200.000 Lübecker tatsächlich denken“, fragte er. Die Bevölkerung könne wertvolle Impulse geben.

Es gehe nicht darum, den Letzten zu erreichen, aber hellhörig zu werden für die Visionen dieser Menschen, stellte Cornelius Borck fest. Doch dieses Potential werde viel zu selten genutzt. Lübeck habe Defizite in der Bürgerbeteiligung. Dies sah auch Detlef Holst, Sprecher der Projektgruppe Initiative Hafenschuppen (PIH) so. Holst bedauerte, dass viele Initiativen nicht ernst genommen würden. Holst forderte, „NGOs“ (Nichtregierungsorganisationen) stärker in die Planung einzubeziehen. Die Verwaltung könne von der Arbeit des Architekturforums, der BIRL oder des Lübeck Managements nur profitieren.

Klaus Brendle schlug vor, auch Entscheider und diejenigen, die etwas bewegen können, einzubeziehen. Nur so lassen sich Veränderungen auch realisieren.

Cornelius Borck rieb sich am kleinteiligen Denken. „Wenn uns nichts Besseres einfällt, als neben dem Buddenbrookhaus ein doppelt so großes Parkhaus zu bauen […] und wenn uns zur Neugestaltung des Kobergs nur die Debatte einfällt „Asphalt oder Kopfsteinpflaster“, dann könne das einfach nicht sein“. Es sei sinnvoll, in größeren Zusammenhängen zu denken und mit einem stärkeren Zukunftsfokus.

Dies unterstrich auch Otto Kastorff. Der Stadtplaner Peter Rehder, der vor über 100 Jahren die großen Entwicklungsprojekte der Stadt (Hafen, Elbe-Lübeck-Kanal, Industriegebiete und Vorstädte) vorantrieb, plante mit einem Horizont von 50 Jahren. Der Planungshorizont heute: 2 Jahre. Viel habe sich in den letzten Jahren verändert. Arbeiteten Stadtplaner vor 20 Jahren noch in großen Teams, sind diese nun kleiner geworden. Die Arbeit hat zugenommen. Vieles wurde verdichtet. Viel Zeit wird heute aufgewendet, um Bebauungspläne vor allem auch juristisch abzusichern, berichtete Carsten Schröder. Bei jedem 2. Termin sitzen mittlerweile Juristen mit am Tisch. Zeit für Visionen bleibe da wenig.

Woher sollen die Visionen kommen? Die Abschlussrunde verorte die Lösung in einem Forum wie dem Stadtdiskurs. Dort können über die Auseinandersetzung mit entsprechenden Fragestellungen wertvolle Impulse entwickelt werden.

Weitere thematische Optionen

Manfred Eickhölter hätte sich auch raumsoziologische Fragestellungen vorstellen können: Was passiert in der Fläche? Oder auch die Auseinandersetzung mit (scheinbaren) Tabu-Themen. Wie steht es um die Industriekultur? Welches Potential steckt in diesem Thema? Man habe den Eindruck, die Industriekultur sei kein Thema für Lübeck, sagte er. Ein Narrativ? Überhaupt das Narrative und die Stadt. Wie erzählen sich die Bürger die Geschichte der Stadt und Geschichten über die Stadt? Welche Erzählmythen haben sich über Jahre eingeschlichen? Haben sie noch Bestand? Versteht sich Lübeck tatsächlich nur als Stadt der Kaufleute oder auch als Wissenschafts- und Industriestandort? Wie sehen die Bürger ihre Stadt? Auch Jan Lokers fand, dass Lübeck einmal für sich klären sollte, was es überhaupt sein wolle.

Zum Verhältnis von Stadt und Vorstädten

Lübecks oberster Stadtplaner, Carsten Schröder, regte an, aus der Altstadt mal heraus zu gehen. „Lübeck ist eine große Stadt mit vielen spannenden und wenig bekannten Orten“. Er bedauerte, dass Lübeck vor allem über die Altstadt und weniger über die Vorstädte wahrgenommen werde. Professor Schwartze formulierte provokativ: „Lübeck ist die letzte Stadt, wo ich über die Vorstädte reden würde.“ „In Lübeck hat es für die Vorstädte nicht gereicht“. Das werde schon beim Vergleich der jeweiligen Flächen deutlich und habe historische Gründe.

Carsten Schröders Vorschlag zielte zum einen darauf ab, neue Zielgruppen für den Diskurs, zum anderen aber auch neue Einsichten zu gewinnen. Dabei könnte es darum gehen, die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Innenstadt und Stadtteilen im Hinblick auf Einzelhandel, Tourismus und Verkehr unter Berücksichtigung unterschiedlichster Interessengruppen zu ergründen. Haben Bürger in Vorstädten einen anderen Blick auf die Altstadt?

Frank Schwartze forderte dazu auf, die Stadt als Ganzes zu sehen. Lübeck war einst eine mittelalterliche Großstadt und ist heute eine kleine Großstadt. Das ursprüngliche Format ist noch immer erkennbar. Welche Konsequenzen, welche Beziehungen und welche Perspektiven könnten sich daraus ergeben?

Professor Borck bedauerte, dass die Altstadt viel zu selten als Raum gesehen werde, der gestaltet werden könne. Einen solchen Ort müsse man sich immer wieder aufs Neue aneignen, sagte er.

Zum Verhältnis von Stadt und Hochschulen

Bemerkenswert war, dass das Verhältnis zwischen Stadt und Hochschulen an diesem Abend kein Thema war, obwohl die Hochschulen durchaus prominent vertreten waren. Auf diesem Thema scheint aktuell kein besonderer Druck zu liegen. Zudem wurden in den letzten Jahren viele Kooperationen auf den Weg gebracht, die Synergieeffekte entfalteten. Vielfältige Aktivitäten deuten darauf hin, dass sich Innenstadt und Wissenschaftsstadt gefunden haben, voneinander profitieren, viele Berührungspunkte haben und gemeinsame Chancen nutzen.

Der Ausblick

Am Ende der überaus lebhaften Runde formulierte Antje Peters-Hirt unter dem Eindruck der vielen Redebeiträge: „Wir sollten etwas aus den vielen Ideen machen und sie nicht verkümmern lassen“. Nicht nur sie hatte an diesem Abend eine Aufbruchstimmung wahrgenommen. Wenn es nach den Teilnehmern geht, steht eine Fortsetzung des Stadtdiskurses außer Frage. Über das „Wie“, das „Was“ und das „Wo“ wird dagegen noch zu reden sein. Auch um Nachhaltigkeit zu erzeugen. Dieser Aspekt war Renate Kastorff-Viehmann wichtig. Der Stadtdiskurs müsse Wirkung entfalten!

www.luebeckerstadtdiskurs.de

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Kommentare  

# Einmal und nie(?) wiederMichael Hoffmann (21.05.2016, 21:19)
Mir hat der "merkwürdige" Beitrag von Professor von Borries die Teilnahme an weiteren Diskursen verleidet.

Danke für die Zusammenfassung hier und für den Link mit ausführlichen Infos dazu.

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