Sol Gabetta, Foto: (c) Julia Wesely

SHMF 2021
Sol Gabetta und das Basler Kammerorchester

Muss man das Kürzel SHMF erläutern? Wohl nicht, es sei trotzdem getan. Die beiden ersten Buchstaben stehen für Schleswig-Holstein, Deutschlands Appendix im Norden.

Er misst ca. 200 km von Süden bis zur Spitze, an breitester Stelle etwa 150 km, weist aber drei Landschaftsbereiche aus, im Osten ein Hügelland, die Geest in der Mitte und im Westen die Marsch, das Ganze noch meerumschlungen, was sogar die Landeshymne verkündet. Diese Lage ist aber wohl der Grund, weshalb Meteorologen sich schwer tun und SH in ihren Wetterberichten lieber gar nicht erwähnen. Ihre Prophezeiungen dort liegen kaum mal richtig. Dass es aber dort immer regnet, ist ein böses Vorurteil. Manche Open Air Aktionen gelingen!

Schlimmer noch ist das Vorurteil, dass man dort Großes in der Musik kaum erwarten könne. Irgendwer hatte das, was Tacitus über die Germanen wusste, ganz schön verballhornt (apropos: Der Lübecker Johann Balhorn, ein hanseatischer Buchdrucker, aber nur mit einem „l“, war Namenspate für das Parodistische, aber nicht Erfinder des Fehlurteils.) Tacitus dachte nämlich an Holländer, als er urteilte: „Frisia non cantat“ und meinte überhaupt etwas ganz anderes. Das mit dem Unmusikalischen stimmt also nicht. Schon Bach und Händel und Telemann wussten das. Dass sie hier dennoch nicht siedelten, hatte ganz andere Gründe.

Noch kurz eine Anmerkung zum MF im Kürzel, das für Musik Festival steht. Mit Erfolg wirkt es seit Jahren der irrigen Meinung über die Musikalität des Nordens entgegen, seit 1986 und jeden Sommer wieder. Als Ideengeber fungierten Justus Frantz, Helmut Schmidt und Uwe Barschel, prominent unterstützt von Leonard Bernstein, zumeist honorige Leute also, die es wissen müssen. Das 36ste Event, wie man heute sagt, ist es nun schon geworden. Die heutigen Macher haben es selbstbewusst zum „größten Flächenfestival der Welt“ gekürt.

Ein weiteres Zitat aus den zahlreichen Veröffentlichungen mag belegen, warum ein einzelner Zuhörer nur vereinzelt dieses Jahresereignis besuchen und in sich aufnehmen kann: „156 Konzerte, fünf ‚Musikfeste auf dem Lande‘, zwei Kindermusikfeste und ein Werftsommer werden in 79 Spielstätten an 51 Orten in Schleswig-Holstein, Hamburg, im Süden Dänemarks und im Norden von Niedersachsen veranstaltet“ – in diesem Jahr, vom 3. Juli bis zum 29. August und zeitlich noch etwas darüber hinaus.

Es ist also noch nicht einmal der Zenit überschritten. Man kann daher noch ein paar Highlights, so heißt es heute, besuchen und darüber berichten. Eines davon ist ein Abend in Lübeck. Die alte Hansestadt ist irgendwie der Nabel der Musikwelt im nördlichsten Bundesland und Besitzerin der einzigen Halle, in der Musik zum Klingen gebracht werden kann. Sie ist als Muk bekannt, was lang geschrieben und gesprochen für Musik-und Kongresshalle steht. Dahin war Sol Gabetta am 24. Juli gekommen mitsamt Violoncello und Heinz Holliger mitsamt dem Kammerorchester Basel.

Wunderbar war das im Arrangement und angetan, zwei der wichtigsten Anliegen des Festivals würdig zu vertreten. Das eine ist, einen Komponisten sich für eine Retrospektive zu wählen, in diesem Jahr Franz Schubert, das andere einen Künstler einzuladen, der ein musikalisches Porträt abliefern kann. Hélène Grimaud sollte es sein, nur mussten wegen Corona alle Vorhaben der französischen Pianistin im Juli abgesagt werden. Sie konnte nicht einreisen, wie auch einige andere nicht. Was im August noch von ihr zu hören sein wird, soll gegebenenfalls später hier zu lesen sein.

Dieser Programmschwerpunkt fehlte also zunächst. Da scheint es eine gute Sache zu sein, mit Sol Gabetta wenigstens an eine Porträtkünstlerin zu erinnern, die dem SHMF 2014 Glanz gegeben hatte. Sie kam jetzt mit zwei Werken wieder, mit Camille Saint-Saָëns zweitem Cellokonzert und mit Gabriel Faurés Élégie in der Orchesterfassung, gespielt in eben dieser Reihenfolge.

Doch zunächst zu den ihre Vorträge rahmenden Sinfonien von Schubert, die alle im Verlauf des Festivals erklingen sollen. Hier waren es zum Auftakt die zehnte, die bekanntermaßen nur als sehr dünnes Fragment aus seiner letzten Lebenszeit existiert, zum Finale das Geniestück eines 19-Jährigen, seine Vierte. Was Schubert mit der 10., kurz vor seinem Tode in Ansätzen erdacht, nun wirklich „unvollendet“ hinterließ, ist auf sieben querformatigen Blättern überliefert und wahrlich zum Grübeln angetan.

Peter Gülke tat es, als Schubert-Kenner erwiesen durch sein Buch „Schubert und seine Zeit“. Der Brite Brian Newbould folgte, denn in England müssen Musikwissenschaftler auch komponieren können. Er lieferte eine komplettierte Orchesterversion, die der belgische Dirigent Pierre Bartholomée noch ergänzte. Auch Luciano Berio reizte das Fragment. Er hatte seine Beschäftigung mit dem Fragment „Rendering“ bezeichnet, also ehrlicherweise das Ergebnis als eine Beschäftigung mit ihm bezeichnet.

Was der Schweizer Holliger und das Orchester aus Basel jetzt aufführten, war eine weitere Bearbeitung, eine von Roland Moser, in Bern geboren. Seine Bearbeitung verliert sich in wenigen Ansätzen, das Material orchestral erlebbar zu machen, bemüht sich im Gegensatz zu den anderen Versuchen gar nicht erst, die musikalische Logik eines Satzes, geschweige einer sinfonischen Entwicklung herzustellen. Auch die Instrumentation wirkte spitz oder spröde, ist allenfalls im Lento-Teil des zweiten Satzes Schuberts Klangwelt ähnlich. Dass er das Fragment auch gar nicht als Sinfonie herstellen wollte, zeigt der Schluss des zweiten Satzes, der als Quartett verklingt, und der gesamte dritte Satz, der fünfstimmig für Streichquartett mit zusätzlichem Cello arrangiert ist. Er wendet sich dadurch ganz vom Sinfonischen ab, gewinnt im Schlusssatz aber immerhin einen musikalisch sinnvollen Duktus.

Wem dient solch eine Herangehensweise? Schubert wohl nicht, seine Skizzen bekommen kein eigenes Gesicht, vertiefen allenfalls das Unfertige. Das Ergebnis als Sicht eines jetzigen Zeitgenossen auf Schubert anzubieten, überzeugte ebenfalls nicht. Es fehlt der Eindruck einer Geschlossenheit, die selbst eine Komposition in einem zeitgenössischen Gestaltungsgestus haben sollte.

Noch deutlicher wird das, wenn Holliger und die Basler Kammermusiker nach der Pause der vierten Sinfonie, der „Tragischen“, sich annehmen. Hier bewundert man, wie grandios geschlossen Schuberts Klangwelt ist, wie großartig alle Sätze verbunden sind. Die Musiker fühlten sich durch Hollinger angeregt, lieferten trotz des hohen Tempos die feinen Akzente, die dynamischen Differenzierungen und eine sensible melodische Gestaltung. C-moll als Grundtonart hin oder her, vor allem der letzte Satz bewies Diesseitsfreude und erfüllte die Erwartungen der Hörer.

Dazwischen also die Cellowerke, wobei das Cellokonzert Saint-Saָëns nicht ganz überzeugte. Holliger hatte mehr die Orchestermusiker im Kopf, ließ sie vor allem in Flöte und Klarinette sich zu vordergründig artikulieren. Sol Gabetta ist eine großartige Kammermusikerin mit intensivem, aber feinem Ton, besitzt zudem eine wunderbar wendige und leichte Spieltechnik. All das kam bei dem hier vorgelegten Tempo wenig zur Geltung. Erst Faurés elegisches Werk gab Sol Gabetta die Möglichkeit, in der Katilene den runden Ton zu entwickeln, der vom ersten Erklingen der bekannten Melodie bis hin zu dem Ausklang auf der leeren C-Saite bannt.

Das Publikum war verzaubert, applaudierte lange, erhielt aber keine Zugabe. Die Künstlerin machte sich rar. Am nächsten Abend wurde das Programm in Gut Emkendorf bei Rendsburg wiederholt, diesmal Open Air in einer der großzügig erbauten Gutshofanlagen in Schleswig-Holstein. Die sehr durchsichtige 10. wurde da durch die Ouvertüre zu den „Zwillingsbrüdern“ ersetzt, wahrlich besser passend zu der „Philharmonie im Park“.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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