Foto: Anaëlle Tourret, (c) Hildegard Przybyla

Musik- und Kongresshalle Lübeck
Russische Musik im 5. NDR-Konzert

In der Konzertreihe des NDR hat es in dieser Saison schon ein paar herausragende Beiträge gegeben. Auch das fünfte Konzert (9. März 2024) wird nachwirken, weil es Spitzenwerke der russischen Musik auf dem Programm hatte. Der gute Besuch an diesem Abend zeigt zudem, dass zumindest die russische Musik nach wie vor hoch geachtet ist, auch wenn man über das Verhalten des Kremls ganz anders urteilt. Solch ein Konzert lässt hoffen, dass man über Kulturelles wieder einmal zusammenfinden kann.

Das Konzert begann mit Peter Tschaikowskys Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“, 1870 in Moskau uraufgeführt. Seine ausdrucksvolle Musiksprache, manchmal als zu gefühlsselig beargwöhnt, hat es zu einem beliebten Werk gemacht. Zudem hatte der NDR für diesen Abend Vasily Petrenko eingeladen, einen 1976 in St. Petersburg geborenen und dort ausgebildeten Dirigenten, der sich längst im westlichen Europa eine vielseitige Karriere aufgebaut hat. 2009 bis 2021war er in Liverpool, jetzt beim Royal Philharmonic Orchestra in London Chefdirigent und erwies sich in diesem Konzert als ein beeindruckender Vermittler der Musik seiner ursprünglichen Heimat.

Der sehr verhaltene Anfang der immer wieder bemerkenswerten Komposition, mit der Tschaikowsky zunächst den Charakter von Pater Lorenzo erfasst, eine der zentralen Figuren in Shakespeares Drama, entwickelte sich schnell zu dem Abschnitt, der die Gegensätze der verfeindeten Familien in drastischer Manier in Musik umsetzt, bis er voller Gefühl die schwelgerische Liebesmelodie entwickelt. Man spürt die Kraft des Dramatikers, der aber nicht nur an dem Nachzeichnen der Handlung interessiert ist, sondern den Hörer mit unterschiedlichen Tonsphären die dramatischen Höhepunkte vorführen will. Ein Kunststück war es, wie das Orchester und der Dirigent diese Entwicklung ohne übertriebenes Pathos ausführten.

Foto: Anaëlle Tourret, (c) Hildegard PrzybylaFoto: Anaëlle Tourret, (c) Hildegard Przybyla

Mit dem zweiten Werk bot der NDR eine Rarität. Wann ist schon einmal ein Harfenkonzert zu hören, eines in dieser Komplexität und zugleich Qualität? Solistin war die Französin Anaëlle Tourret, die als Solo-Harfenistin dieses, ihres Orchesters auftrat, wodurch sich ein spürbar besonderes Zusammenspiel ergab. Das dreisätzige Werk, das Reinhold Glière, selbst russischer Staatsbürger, aber Sohn eines deutschen Blasinstrumentenbauers für eine zum Bolschoi-Orchester gehörende Solistin komponiert hatte, wurde 1938 in Moskau uraufgeführt. Es bezauberte das Publikum vom ersten Moment an mit einem von der Pauke unterstützten Orchesterklang. Aus ihm bildete sich ein rauschendes Arpeggio der Harfe, aus dem das breite erste Thema herauswuchs. Schon dieser Anfang mit dem ätherischen Klangrauschen ihres Instrumentes bescherte dem Spiel der Solistin eine selten zu erlebende Aufmerksamkeit. Glières Stil ist spätromantisch, passt aber wunderbar zu dem Instrument ohne banal zu wirken und wird im Zusammenspiel mit anderen Klangfarben geschickt eingesetzt. Auch der zweite Satz, eine lange Variationenfolge und häufig im Dialog mit anderen Instrumenten, zeigte die ganze Klang- und Spielbreite des Instrumentes, ohne aber vordergründig zu sein. Er mündete in ein volkstümlich und effektvoll gestaltetes Finale. Der lange Beifall brachte als Zugabe eine Transkription einer offensichtlich spanischen Komposition für die Harfe.

Man hatte den Eindruck, dass Vasily Petrenko und das Orchester sich immer intensiver fanden. War der erste Programmpunkt von ernstem und dramatischem Spiel geprägt, änderte sich das bereits mit dem Harfen-Konzert, noch mehr dann bei Sergej Prokofjews letzter Sinfonie, seiner siebenten. 1951-52 war sie entstanden, ein Jahr vor seinem Ableben. Auch wenn sie dem Kundigen von den Repressalien des Stalinsystems zeugt, fand der Komponist einen Ton, der die Machthaber durch eine äußere Unbeschwertheit und den Humor, mit dem er immer wieder „Normales“ umformte, in die Irre führte. Es machte dem Dirigenten offensichtlich große Freude, diese versteckte Innenwelt in den vier Sätzen aufzudecken. Großartig folgte das Orchester an allen Pulten.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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