Foto: Ralf Kiekhöfer, 16. März 2024 Lübeck, (c) Holger Kistenmacher

KOLK 17 Figurentheater präsentiert „Die Vermessung der Welt“
„Ich hab sone Kehl-Mann!“

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann ist zur Zeit in Lübeck in aller Munde. Zunächst war er vor Kurzem in der Gollan-Kulturwerft zu Gast, um aus seinem neuen Roman „Lichtspiel“ zu lesen. Jetzt gastierte das TheaterKorona aus Leipzig auf Einladung des "KOLK 17 Figurentheater & Museum“ mit einer freien Bearbeitung des berühmten Romans „Die Vermessung der Welt“ von Kehlmann im Hansemuseum.

In dem weltweiten Bestseller, der von mir hier auch kürzlich rezensiert wurde, erzählt der deutsche Autor die Geschichte der beiden genialen Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, die sich aufmachten, mit ihren Forschungsarbeiten die Welt zu vermessen. Der eine als leidenschaftlicher Naturforscher und Reisender, der eine Expedition nach Süd- und Mittelamerika unternahm, der andere als Tüftler im Verborgenem im Königreich Hannover, in Göttingen, das er fast nie verließ, um Erklärungen in abstrakten mathematischen Formeln zu finden.

Während Alexander von Humboldt in ständiger Rivalität zu seinem älteren Bruder Wilhelm stand und glücklich über den Tod der Mutter war, weil er durch sein Erbe endlich seine Reisen antreten konnte, war Gauß eher wehleidig und litt unter dem Älterwerden. Er war zweimal verheiratet (Johanna und nach derem Tod mit ihrer Freundin Minna), hatte drei Kinder, darunter den Sohn Eugen, der unter der Strenge und Boshaftigkeit des Vaters litt. Als sich dieser bei einer Teilnahme an einer freiheitlichen Studentenveranstaltung erwischen ließ, wurde er nach Amerika abgeschoben.

Foto: Ralf Kiekhöfer und Frank Schenke, 16. März 2024 Lübeck, (c) Holger KistenmacherFoto: Ralf Kiekhöfer und Frank Schenke, 16. März 2024 Lübeck, (c) Holger Kistenmacher

Das Theaterstück aus Schauspiel und Puppentheater beginnt mit zwei Darstellern (Frank Schenke und Ralf Kiekhöfer) in weißen Kitteln. Mit minimalen Mitteln und einer bescheidenen Bühnenausstattung schlüpfen die beiden Schauspieler in die verschiedensten Figuren der Geschichte. Zunächst als Eugen, der auf seinen berühmten Vater schimpft und Aimé Bonpland, einen französischen Botaniker, der Humboldt bei seiner strapaziösen Forschungsreise über sechs Jahre begleitete. Eugen beschwert sich darüber, dass sein Vater nicht einmal bei seiner Geburt dabei war, sondern sich lieber mit seinen Formeln oder der Prostituierten Nina beschäftigte. Bonpland war ebenso nicht so gut auf seinen Reise-Genossen zu sprechen, der sich zwar als leidenschaftlicher Naturforscher erwies, aber kaltblütig und leidensfähig selbst seine eigene Homosexualität verleugnete.

Mit einfachsten Mitteln werden die verschiedensten Stationen des Romans auf die Bühne gebracht. Dabei helfen als einfachstes Bekleidungsstück das Halstuch, um sich zur Frau oder Mutter zu machen. Die verschiedenen Kisten und Leinwand-Dreiecke werden zur Kutsche, mit der Gauß und sein Sohn Eugen von Göttingen nach Berlin reisen wollen. Weil Gauß an der Grenze von Hannover keinen Pass vorzeigen kann, werden sie aufgehalten. Dabei kommen die großen Kopfmasken von Gauß und Humboldt zum Einsatz, die die beiden Forscher in alte, gruselige und voller Gram verhärtete Gestalten verwandeln. Daneben kommen noch diverse andere große und kleine Puppen zum Einsatz, zum Beispiel als Kopf-und Fingerpuppen oder als „Humboldt“-Affe, der frech seinen Penis präsentiert. Leicht frivol wird es, als zwei weiße Puppen als Ehepaar Gauß, natürlich unter der „Decke“ des ewig benutzten Halstuches heftig kopulieren, um Eugen zu zeugen.

Auch das Publikum wird wiederholt in die Aufführung einbezogen. Mal gibt es Gummi-Tierchen zum Probieren, die als lebende kleine Ratten aus dem Urwald von Mexiko oder Erdbeeren aus Venezuela tituliert werden, aber natürlich von Haribo stammen. Dann muss das Publikum als Eingeborener-Stamm der „Hanseaten“ herhalten, um gezählt und katalogisiert zu werden. Ein stämmiger älterer Herr wird als Häuptling identifiziert, weil er wohl am besten ernährt wird. Dann werden Kopfläuse bei einer anderen Besucherin gefunden und gezählt. Solcherlei Schabernack und andere humoristische Einfälle unterhalten die Leute aufs Beste. Solides Schauspielhandwerk paart sich im Stück mit Experimentierfreude, Humor und genialem Puppenspiel zu einem Abend, der begeistert.

Foto: Ralf Kiekhöfer (Carl Friedrich Gauß) und Frank Schenke (Alexander Hunboldt), (c) TheaterKoronaFoto: Ralf Kiekhöfer (Carl Friedrich Gauß) und Frank Schenke (Alexander Hunboldt), (c) TheaterKorona

Da werden Urwälder durchquert auf der Suche nach dem Orinoko-Kanal oder der damals höchste Berge auf Erden, der Chimborazo erklommen. Alles mit einfachsten Utensilien nachgestellt. Mal hilft ein alter Overheadprojektor, um ein Schattenspiel oder die Sternensuche von Gauß zu illustrieren. Dann kommen Goethe und Kant ins Spiel. Bei der Reise nach Königsberg verlangt der greise Kant nach „Wurst und Sternen“. Insgesamt überzeugen die beiden Schauspieler durch ihre Vielfältigkeit und Fähigkeit, sich mit minimalen Utensilien in die verschiedensten Personen zu verwandeln.

Unter der Regie von Harald Richter und mit den Figuren und Maskenköpfen, die Matthias Hänsel gebaut hat, die selbst den Puppensex unterhaltsam präsentierten, gelang insgesamt ein amüsanter Abend, der für verdienten und lang anhaltenden Applaus beim begeisterten Publikum sorgte.

P.S. Der Ausspruch der Artikel-Überschrift stammt vom grummeligen Gauß, als dieser sich mit Humboldt 1828 in Berlin trifft und beide von Daguerre, dem Erfinder der Fotografie auf ein Bild gebannt werden sollen, was natürlich misslingt, weil der Mathematiker ungeduldig nicht lange genug stillstehen kann.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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