Trine Møller (Elektra), Foto: (c) Jochen Quast

Theater Lübeck
Strauss‘ „Elektra“ in Lübeck, eine feinsinnige Seelenstudie

Lübecks Theaterheft hatte uns informiert, dass es für diese Saison wieder eine „Elektra“ geben würde. Lange schon, seit 2001 und 2012, sind die letzten beiden Inszenierungen in Lübeck Geschichte, wie auch die beiden GMDs, die sie verantwortet hatten. Ist es Zufall, dass beide Richard Strauss‘ atemnehmende Vertonung für ihren Abgesang genutzt hatten? Kein Zufall ist, dass für die diesjährige Inszenierung, Premiere am 27. Januar 2024, Brigitte Fassbaender für die Regie gewonnen werden konnte. Ihr wird eine besondere Wertschätzung entgegengebracht. Eine neue „Elektra“ war fällig, zu der man sich diese Regisseurin herbeiwünschte.

Außerdem war im Gedächtnis, welche grandiose Inszenierung Kiel 2019 mit der selten aufgeführten Strauss-Oper „Frau ohne Schatten“ zeigen konnte. Regie hatte da schon Brigitte Fassbaender geführt. Im gleichen Jahr, es war zu ihrem 80. Geburtstag, erschienen ihre Memoiren unter der Anleihe beim Ochs von Lerchenau „Komm' aus dem Staunen nicht heraus“. Zur Vorbereitung für die „Elektra“ in dieser Saison nutzte Stefan Vladar, Lübecks auch in kleinen Formaten erfolgreich agierender GMD, neben den üblichen Einführungen, Probenbesuchen und Interviews nun den Inhalt der Memoiren. Er führte darüber ein Zwiegespräch mit Brigitte Fassbaender. Auftakt dieser Veranstaltung war Richard Strauss‘ umfangreiches Melodram „Enoch Arden“, bei dem Frau Fassbaender den Text übernahm und Vladar die Klavier-Begleitung.

Edna Prochnik (Klytämnestra), Trine Møller (Elektra), Foto: (c) Jochen QuastEdna Prochnik (Klytämnestra), Trine Møller (Elektra), Foto: (c) Jochen Quast

Dieses Werk war nicht zufällig gewählt. Alfred Tennysons berührender Heimkehrer-Text deutete unmittelbar auf das Schicksal Agamemnons hin, des Herrschers in dem verfluchten mykenischen Königshaus. Wie Enoch findet er nach seiner Rückkehr aus Troja seine Angetraute mit einem neuen Mann. Einziger Unterschied ist, dass das Melodram mit Selbstmord endet, die antike Gruselstory, zu der Hugo von Hofmannsthal den Text lieferte, weit blutiger. Agamemnon wird ermordet, Täter sind Klytämnestra, seine Angetraute, und ihr Galan Aegisth, aus dem Stamm der Tantaliden wie Agamemnon. Der Aufgabe, diese Untat zu rächen, haben sich seine Kinder verschrieben. Man kennt sie: Es sind Elektra und der Bruder Orest. Sie hoffen dabei, von Chrysothemis, der Schwester, unterstützt zu werden.

Brigitte Fassbaender fand für Strauss‘ kompositorisches Kraftwerk eine erstaunlich stimmige Lösung, wobei sie eng am Text blieb und jeden Akteur ins Geschehen sinnvoll einband, auch den eindringlich singenden Chor und die Statisten. Im Zentrum stand natürlich Elektra, von der Dänin Trine Møller mit großer, wenn nötig leuchtender Stimme gesungen, aber wechselvoll im Ausdruck bis zum Verhauchen. Hier sei gleich das Orchester einbezogen, das Vladar äußerst sensibel nicht nur im Dynamischen führte, immer mit Rücksicht auf die Sänger und bezogen auf die situative Stimmung.

Lena Kutzner (Chrysothemis), Trine Møller (Elektra), Foto: Jochen QuastLena Kutzner (Chrysothemis), Trine Møller (Elektra), Foto: Jochen Quast

Was Trine Møller darstellerisch an Präsenz leistete, war schier unfassbar. Sie war die vorbeihuschende, sich versteckende „Königstochter“, verleumdet und missachtet, dagegen in Momenten, in denen es um ihre „Aufgabe“ ging, besessen, stark und zielgerichtet. In den großen Duetten zeigte sich das, wenn sie mit ihrer Schwester hadern musste, die nur ihren weiblichen Wünschen nachhing, ebenso in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, deren plötzliche Anbiederung sie mit böser, kalter Ironie begegnete. Noch stärker wirkten die Wandlungen, wenn sie die Rolle des totgesagten Orest anzunehmen sich bereit zeigte, gleichzeitig zweifelte, das leisten zu können. Das war in der Regie durch kleinste Gesten und Bewegungen und ohne Künstlichkeit erarbeitet.

Die großen Frauenfiguren dominierten, Elektra natürlich, die nahezu ständig präsent war, selbst stumm. Sie war keine durch Rachsucht Getriebene. Sie glaubte nur, mit aller Ausschließlichkeit ihrer Aufgabe folgen zu müssen, und nur dieser. Nichts von einer Furie war da, was so oft dieser Figur angedichtet wird. Spott und Häme ertrug sie vom gesellschaftlichen Oben und vom Unten, nur eine der Mägde, die fünfte, stand zu ihr. Sie erkannte in Elektra die frühere Königstochter. Es war eine Szene akkuratester Gestaltung, wie der ganze Vorspann mit den beiden tobenden Kindern oder der Schwangeren überzeugend aufging, die von einer der anderen Mägde gehänselt wurde. Die szenische Kraft wirkte durch ihre Feinheiten bis ins Finale und ließen den Schluss wahr werden, bei dem nur Untergebene gegen das Fatum antanzten.

Trine Møller (Elektra), Foto: (c) Jochen QuastTrine Møller (Elektra), Foto: (c) Jochen Quast

In Lübeck war schon oft zu beobachten, dass Nebenpartien stimmig und mit Überlegung besetzt waren - und aus dem Ensemble. Edna Prochnik war z. B. eine bewundernswert wandlungsfähige Klytämnestra, herrisch zunächst wie nach Zustimmung gierend, verwirrt durch die kalte Ironie der Tochter und höhnisch in ihrem vermeintlichen Triumph, als das Gerücht vom Tode Orests umging. Alles leistete ihre dunkle und runde, in Momenten, wenn es sein musste, harte Stimme. Auch der Gast Lena Kutzner formte sehr dezidiert ihre Chrysothemis, die sich gegen die Vereinnahmung durch Elektra wehrte und ihre ganz andere seelische Verfassung dennoch zu verteidigen wusste. So ergab sich ein feinsinniges psychisches Spiel, an dem allerdings, schon in Libretto und Partitur so angelegt, vor allem die Frauen teilhatten, selbst die in niederen Stellungen wie die Vertraute, die Schleppenträgerin und die Aufseherin mit ihren fünf Mägden.

Die männlichen Rollen wirkten insgesamt wie bloße Staffage, denn beide, Orest wie Aegisth, bekommen nur ein kurzes Bühnenleben. So bekam der in Lübeck schon wiederholt eingeplante kraftvolle Tenor Wolfgang Schwaninger als Aegisth kaum eine Gelegenheit aufzutrumpfen. Selbst Orest musste sich ruhig verhalten, so dass Rúni Brattaberg nur wenig seinen tiefen, schwarzen Bass entfalten konnte.

Wolfgang Schwaninger (Aegisth), Trine Møller (Elektra), Foto: Jochen QuastWolfgang Schwaninger (Aegisth), Trine Møller (Elektra), Foto: Jochen Quast

Das rein Optische drängte sich nicht auf, entfaltete nicht wie oft ein ablenkendes Eigenleben. Alle bewegten sich in Kostümen, mit denen Bettina Munzer nur Standesunterschiede hervorheben wollte. Sie vermochte aber, bei den Frauen den Charakter zu unterstützen. Das war bei Elektra am stärksten ausgeprägt, die einen Unterrock unter einer Art Schlafanzug trug. Sollte er von ihrem Vater Agamemnon sein und sie ihn tragen, um ihm nahe zu sein? Sie stach heraus, auch durch ihre ergrauten Haare, die einen Gegensatz zu ihrem sonst jugendlichen Erscheinungsbild setzten. Ebenso unprätentiös zeigte sich das Bühnenbild. Eine quergestellte Veranda gliedert einen tieferen Raum. Zeitweise wird ein hoch angebrachtes Fenster einbezogen, alles aber drängte sich in keiner Weise auf.

In allem zeigte sich eine bewusste, sorgfältig durchdachte Gestaltung. Sehr schnell erhob sich das Publikum nach dem rasanten Finale zum stehenden Applaus. Er wollte nicht enden.


Fotos: (c) Jochen Quast

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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