Carin Filipčić (Mrs. Nellie Lovett), Patrick Stanke (Sweeney Todd), Chor des Theater Lübeck, Foto: (c) Olaf Malzahn

Im Großen Haus
Stephen Sondheims Musical „Sweeney Todd“

Wer das Makabre liebt, ist im Theater Lübeck gut aufgehoben, denn dort treibt seit dem 14. Oktober 23 der Londoner Barbier Benjamin Barker in Stephen Sondheims intelligentem Musical ein effizientes Gewerbe, allerdings unter seinem Künstlernamen „Sweeney Todd“. Das Pseudonym musste sein. Warum, darüber erfuhr der Besucher in den nahezu drei Stunden viel, eine phantastische Vorübung auf Halloween.

Von einem Zwangsaufenthalt in Australien heimgekehrt, tauscht der Barber den Namen, bevor er zu einem Kollegen von Mackie Messer wird, skrupellos und clever wie er, nur mit anderer Geschäftsidee. Aber beide verstehen verteufelt gut, ein Schneidewerkzeug sicher ein- und anzusetzen, weshalb das Lübecker Programmheft auch den Untertitel nennt, „The Demon Barber of Fleet Street“. Englisch steht es da, klein, fast schüchtern, dennoch hatten die Theaterleute sich für die manchmal etwas holprig wirkende deutsche Fassung von Wilfried Steiner und Roman Hinze entschieden. Sei’s drum, obwohl viele der Musicalfans wohl Englisch-Sprachiges erwarten, da sie auf das reduzierte Klangspektrum einer Mikroport-Anlage dressiert sind.

Laurence Kalaidjian (Anthony Hope), Simon Rudoff (Ein Vogelhändler)Laurence Kalaidjian (Anthony Hope), Simon Rudoff (Ein Vogelhändler) 

Dennoch zauberte Nathan Bas, neuer zweiter Kapellmeister, mit den Lübecker Philharmonikern sehr sublime Klänge, bei denen sogar die Sänger eine Chance zu differenzieren hatten. Reizende Duette entstanden, wenn lustvoll von der Liebe zur Pastetenbäckerei gesungen wurde und den Geschmacksvarianten. Verständlich, dass es nicht egal ist, ob das Material ein fetter Prälat lieferte, fad durchs Zölibat, oder ein Säufer mit dem Gout von Gin. Dass der Zuhörer den Text leidlich mitbekommt, liegt daran, dass etliche Sänger auch sprechen können und sogar beim Singen den Gehalt der Sprache transportieren. Nur bei Chorpassagen schaffen die Lautsprecher es einfach nicht, alles zu verdauen. Da wird das Libretto selbst zum ohrgängigen Pastetenbrei.

Erfreulich bunt und zügig war alles inszeniert, zumal Werner Sobotka ein großes Gespür für rhythmisch gefügte Gesten hatte, für die Wirkung von Auftritten oder der von Gruppen, wobei Natalie Holtom mit choreografischem Witz unterstützte. Betrat man den Theaterraum, überwog ein Baustelleneindruck, denn die feinen Jugendstil-Elemente an den Balustraden des Theaters waren geschützt. Bühnenbildner Stephan Prattes hatte sie und die Bühne sorgfältig mit Folien abgehangen und verband so den Zuschauerraum mit der Bühne. Das führte dazu, dass auch Mitwirkende sich schon einmal in den Zuschauerraum verirrten. Dazu gehörte der Gehilfe Tobias Ragg, der ob des Gesehenen am Ende wahnsinnig wurde und schlussendlich bewirkte, dass über Sweeney Todd nichts mehr zu berichten ist.

Carin Filipčić (Mrs. Nellie Lovett), Elvire Beekhuizen (Lucy Barker), Patrick Stanke (Sweeney Todd), Steffen Kubach (Richter Turpin), Gustavo Mordente Eda (Büttel Bamford)Carin Filipčić (Mrs. Nellie Lovett), Elvire Beekhuizen (Lucy Barker), Patrick Stanke (Sweeney Todd), Steffen Kubach (Richter Turpin), Gustavo Mordente Eda (Büttel Bamford) 

Dazu gehörte auch die überall bettelnde Lucy, deren herzbewegendes Schicksal erst das Finale lüftete. Aber man fand es wichtig, den feuchten Nebel, den roten Lebenssaft, der weidlich floss, und den Qualm aus dem Backofen von den Wänden abzuhalten. Es ist ja schließlich London und der Rachefeldzug eines Barbers im Blutrausch und dazu die grandiose Geschäftsidee, Leichen gewinnbringend zu verarbeiten – mit dem Nachteil, dass es unangenehm stinkt, wenn das für eine Pastete nicht geeignete Material in dem rauchenden Ofen entsorgt werden muss. Wer da an Ausschwitz denkt oder an das, was am Abend vor der Premiere die Nachrichten an Schaurigem verkündeten, sollte dieses makabre Spiel lieber meiden.

Denn Sweeney Todd entstammt einem schwarzen Musical, das nun vor fast einem halben Jahrhundert das Schauergenre wiederbelebte. Geballte Gruselei hatte schon immer fasziniert, in Moritaten, Groschenheften oder, expandierter, in Schauerromanen. Man darf zurückblicken, auch noch einmal auf den schon erwähnten Mackie. Er ist ein Gentlemankiller, war in Soho aktiv. Sweeney aber, bodenständiger, jedoch ein noch versierterer Virtuose im Kehlkopfschnitt war schon als Barber prädestiniert dafür, zudem immer nahe dran. Er wirkte in der nicht weit entfernten Fleet Street, in der jetzt Anwalts- und Gerichtskanzleien residieren und es Presse-Erzeugnisse gab wie „The Sun“, das schauerlich-schöne Muster für „Bild“.

Patrick Stanke (Sweeney Todd), Franz Gürtelschmied (Adolfo Pirelli)Patrick Stanke (Sweeney Todd), Franz Gürtelschmied (Adolfo Pirelli) 

Glück für den vor Rache berstenden Sweeney war, dass er in Mrs. Nelly Lovett eine mordsmäßig clevere Partnerin wiederfand, bei der er vorher schon im Oberstübchen arbeitete. Sie gab ihm nicht nur seine Wirkstätte zurück und sein altes Rasiermesser, sie hatte auch die Idee zum Joint-Venture, ihre Pastetenfabrikation mit billigem Fleisch zu beleben. Er erfand einen Rasierstuhl-Mechanismus, schuf eine Luke im Boden und lieferte von oben herab. Sie verarbeitete seine Probleme, die aus seiner Rachsucht entstanden, und er lieferte ihr günstig die Zutaten für ihr Gewerbe. Beide Werkstätten brachte Stephan Prattes in dem größten, doch schäbigsten Bau auf der Drehbühne übereinander unter. Nur zwei weitere Bauten gab es noch, das sehr durchsichtige Haus des Richters Turpin mit Dachbalkon und einer Art Thronsessel darunter und dann das „Privatheim“ von Mr. Fogg, ein grausam enger und zugiger Lattenverschlag. Das genügte, anschauliche Stadtatmosphäre zu erzeugen, da Falk Hampel alles facettenreich beleuchtete.

Kern des Dramas war, dass Benjamin Barker eine schöne Frau hatte. Sie gefiel dem skrupellosen Richter Turpin, der einst einen justiziablen Grund fand, den Ehemann außer Landes zu befördern. Wie er sich der Frau bediente, darüber schweigen wir hier, auch darüber, was aus ihr wurde und wie er das mit Lucys Baby arrangierte. Nur so viel: Das Baby entzündete als Maid und Mündel wieder Turpins Lust. Sie, Johanna genannt, fand allerdings an einem Jüngeren Gefallen, jenem Anthoney, der als Matrose Barker aus Seenot gerettet hatte und mit ihm nach 15 Jahren zurückkehrte - womit das Drama begann.

Carin Filipčić (Mrs. Nellie Lovett), Patrick Stanke (Sweeney Todd)Carin Filipčić (Mrs. Nellie Lovett), Patrick Stanke (Sweeney Todd) 

Der Abend wäre kurz gewesen, wenn Sweeney Todd schon am Ende des ersten Aktes seine Rache an Richter Turpin befriedigt hätte, der als Lüstling und schlimmer Rechtsverdreher von Steffen Kubach mit kühler Grandezza gezeichnet wurde. Soviel sei verraten, dass es noch einen zweiten Akt gab mit nicht erahnbaren mörderischen Einfällen. Das hielt wach, auch wegen der umfangreichen Zahl von Mitwirkenden, die mit Freude am Makabren agierten. Vornan steht natürlich das Joint Venture-Paar, mit dem fast zu sympathischen, doch stimmgewaltigen Patrick Stanke als Sweeney Todd, der lachen, aber auch seine Wut herausschreien konnte. Neben ihm agiert als gewiefte Mrs. Lovett Carin Filipčić mit Lust auf Sweeney und an Tanz und Spiel. Gesanglich wechselte sie wunderbar zwischen Quäkerei und verführerischer Weichheit, zudem hatte ihr Kostümbildnerin Elizabeth Gressel geschickt schickliche Kleider so angepasst, dass sie den Geschäftserfolg unterstrichen, doch Todd standhaft bleiben ließen.

Gegenstück war das naive Paar, Johanna und Anthony. Bei stimmungsvollem Vogelzwitschern und auf einem Balkon, der auch Romeos Julia gut gestanden hätte, zog Elvire Beekhuizen als Todds leibliche Tochter Johanna das Mitleid auf sich, so wie Laurence Kalaidjian es als idealistischer Anthony tat. Solch köstliches Liebesleid gehört als Erholung vom Düsteren dazu, wie auch die Komik der Szenen mit Pirelli oder Beadle Bamford. Der eine, Sweeneys Konkurrent und Erpresser, wurde zwingend überdreht von Franz Gürtelschmied gesungen, der andere, Gustavo Mordente Eda als Turpins loyale Hand, durfte gelassen und stattlich sein, auch von Stimme und Statur. Wenig Bedauern hatte der Zuschauer mit deren Schicksal, auch nicht mit dem von Mr. Fogg, alias Thomas Stückemann. Er war Besitzer jenes „Privatheims“ für die, die Turpin als Irre wegsperrte, eine Blaupause für Nachahmer, denn so politisch kann ein Musical sein!

Noah Schaul (Tobias Ragg), Chor des Theater LübeckNoah Schaul (Tobias Ragg), Chor des Theater Lübeck

Anders war es mit Andrea Stadel, die verachtete und verstoßene Bettlerin mit ihrem herzzerreißenden Werdegang, sowie mit Noah Schauls Tobias Rogg, dem erbärmlich Herumgestoßenen mit großem Beschützerinstinkt. Für beide wurde viel Mitleid und Bewunderung für ihren Gesang und ihr Spiel laut. Das traurige Arsenal von weiteren Gestalten vervollständigte der Chor des Theaters, grandios und sicher mitspielend und ebenso musikalisch einstudiert von Jan-Michael Krüger.

Wer wollte sich nach dieser Vorstellung über den langen Jubel wundern?

Fotos: (c) Olaf Malzahn

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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