Amilcar Moret Gonzalez (Prinz), Keito Yamamoto (Cinderella), Foto: (c) Olaf Struck

Theater Lübeck
„Cinderella“ im Großen Haus - Eine märchenhafte Zirkuswelt

Ein roter Vorhang statt des mondänen Schmuckvorhangs und unten am Bühnenrand ein Streifenband mit wechselnden Dreiecken, Weiß, für das Unschuldige und Rot, für das, was das Herz erwärmt – es macht sichtbar, dass der Besucher des Traumhauses an der Beckergrube diesmal anders verzaubert werden soll.

Doch davor hantiert eine junge Frau, unauffällig in Beige gekleidet, auf dem Kopf einen melonenförmigen Strohhut. Sie schiebt ihren Wischwagen aus der Seitenloge und strengt sich an, mit dem Mopp die breite Fläche zu reinigen. Aber dann setzt Musik ein, deren Melodie von unten nach oben schwebt, und sie fängt zu träumen an. Sie möchte die sein, die sie sieht, als der Vorhang sich gerade so weit öffnet, dass er ihr einen Blick auf ein langes Band gewährt. Es hängt von ganz oben herab, daran eine Luftartistin (Clara Brauer). Langsam kommt die herunter, stürzt plötzlich ein paar Meter ab, fängt sich und gleitet auf den Boden, bevor der Vorhang sich wieder schließt. Es ist für sie wie ein Blick in eine andere Welt, ihre Traumwelt.

Victoria Lane Green (Stiefmutter) und Ensemble, (c) Foto: Olaf StruckVictoria Lane Green (Stiefmutter) und Ensemble, (c) Foto: Olaf Struck

Wenn der Vorhang sich ganz öffnet, sieht man in eine Zirkusmanege, in der geprobt wird und die sich langsam füllt. Sogleich wird die Rangordnung deutlich, als der grau gekleidete Zirkusdirektor kommt, der leibliche Vater, der von der anderen malträtierten Fußbodenpflegerin. Aber er ist nicht der, der wirklich herrscht. Das besorgt für ihn seine zweite Frau, die Stiefmutter seiner Tochter. Die trainiert herrisch ihre eigenen beiden Töchter, die wohl einmal in der Manege zu Ruhm und Ansehen kommen sollen. Man sieht es ihr an: Ihr schwarzes Kleid verrät ihre schwarze Seele (Kostüme: Angelo Alberto). Die gute Fee dagegen, die erst etwas später erscheint, ist natürlich weiß gekleidet. Nur ein paar Spitzen an den Händen verhindern nicht, dass ihr Auftritt wenig geheimnisvoll, eher simpel ist.

So einfach sind die Symbole der Märchenwelt, die überall auf der Welt gleichbedeutend sind, nur mit kleinen Varianten und mit anderen Namen für die, die exemplarisch sich ein besseres Leben erträumt. Aschenputtel hieß sie bei den Grimms, Aschenbrödel bei Kollege Bechstein, auf Französisch Cendrillon, auf Russisch Soluschka oder Cinderella im westlichen Disneyland - und bei Sergej Prokofjew. Seine Musik tönt hier aus dem Graben. Überall auf der Welt wird der Traum geträumt, dass eine arme Benachteiligte schließlich doch ihren Prinzen findet. Wie man weiß, ist das nur mit freundlichen Helfern möglich. Tiere wie Tauben oder Mäuse können das sein, ein Baum am Grabe der Mutter oder eine geheimnisvolle Fee, ein Wesen aus mystischer Wunderwelt. Hier im Zirkus wird sie von drei Clowns unterstützt.

Yat-Sen Chang Oliva (1. Clown), Keito Yamamoto (Cinderella), Didar Sarsembayev (3. Clown), Jean Marc Cordero (2. Clown), Foto: (c) Olaf StruckYat-Sen Chang Oliva (1. Clown), Keito Yamamoto (Cinderella), Didar Sarsembayev (3. Clown), Jean Marc Cordero (2. Clown), Foto: (c) Olaf Struck

Dafür, wie Cinderellas Glück in unserer Zeit sich hätte ereignen können, fand Kiels Ballettmeister Yaroslav Ivanenko eine Illusionswelt, aber eine andere als die im bekannten Märchen. Er wählte die Zirkuswelt, in der die Heldin nicht in Asche wühlen, sondern Staub vom Boden putzen musste. Diesen anderen Ansatz zeigt er jetzt mit seiner Kieler Balletttruppe einige Male in Lübeck, wo man schon lange ein eigenes Ballett vermisst. Lars Peter, der Bühnenbildner, kam aus Kiel mit, um das Jugendstil-Theater in eine veritable Zirkuswelt zu verwandeln. Kräftige Farben spielten eine Rolle, das Rot und Weiß sahen wir schon und auch das Schwarz und Weiß, mit dem sich Stiefmutter und Fee abgrenzten.

Rosa und ein helles Blau war den Stiefschwestern vorbehalten, während im Hintergrund, zunächst weit von Cinderella entfernt, Königsblau vorherrschte. Diesen Farbton benötigte man für den Ballsaal, in dem goldene Kronleuchter Licht gaben. Simpel ist die Symbolik, aber ebenso passend. Bunt dagegen sind die kunstvoll Fallenden und immer wieder sich lachend Erhebenden, die immer helfenden Clowns. Sie passen wunderbar in diese Welt, in die sie hineinstürzen, in der sie alles verwirren und doch auf unerklärliche Weise ordnen. Das in Tanz zu verwandeln schafften Henri Frey, Jean Marc Cordero und Didar Sarsembayev mit Witz und Balgerei.

Keito Yamamoto (Cinderella), Amilcar Moret Gonzalez (Prinz),  Foto: (c) Olaf StruckKeito Yamamoto (Cinderella), Amilcar Moret Gonzalez (Prinz), Foto: (c) Olaf Struck

Köstlich und skurril wirken die Szenen mit der Stiefmutter (Keito Yamamoto), besonders im zweiten Bild. In den Trainingspassagen stolz und anmaßend, wandelt sie sich dort zu einer sich billig Anbiedernden, die ihren neuen Platz an der Seite des Prinzen sucht. Apart, wie der sie abwimmelt und in den eigenen Clan zurückbefördert, während der korrekte Vater (Christopher Carduck) mit immer geradem Rücken seine Würde nicht verliert. Locker und voller Ironie sind die Szenen mit den Töchtern. Erika Asai und Leisa Martinez Santana staksten kunstvoll, doch auch irgendwie majestätisch, wenn sie nicht über Stiefschwesters Wischwagen purzeln. Sie schafften gekonnt die Mischung von dümmlicher Arroganz und tölpelhafter Eleganz.

Yaroslav Ivanenko hatte gute Ideen, wie er die Tänze choreografisch so einsetzte, dass sie zugleich die Charaktere durchscheinen ließen. Nichts wirkte aufgesetzt und die Tanzkunst angemessen, am stärksten dann bei dem Protagonisten-Paar. Gulzira Zhantemir war eine fabelhafte Cinderella, die erst spät ihre großen Auftritte bekam. Weich und beweglich war sie, setzte ihre Bewegungen kunstvoll ab von denen der Schwestern. Während sie in ihren Solopartien eindrucksvoll ihre Emotionen formte, fand sie im Pas de deux mit dem Prinzen in eine rauschhafte Gemütswelt. Wunderbar! Der Prinz (Vitalii Netrunenko) dagegen hatte es schwer. Lange musste er als Zirkusbesucher auf einer auf der Drehbühne herumfahrenden Tribüne posieren, dekorativ zwar, aber statisch, bevor er dann mit großen Sprüngen und Drehungen virtuose Tanzkunst zeigen durfte, die plastisch seine innere Erregung verdeutlichte.

Ensemble,  Foto: (c) Olaf StruckEnsemble, Foto: (c) Olaf Struck

Die Zirkuswelt hatte zudem einige magische Glanzpunkte und akrobatische Einlagen z. B. die eines Hula Hoop Artisten, dass man fast vergaß, in einem Opernhaus zu sitzen. Dafür, dass das nicht geschah, sorgten die Lübecker Philharmoniker unter Leitung des aufmerksamen Takahiro Nagasaki. Es ist nicht einfach, das Orchester mit den Zeitvorstellungen der Tänzer zu koordinieren. Es gelang sichtbar gut, auch wenn dabei manche Feinheit der Musik Prokofjews vergröbert wurde.

Langer Beifall war Dank für die vielseitige Mühe.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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