Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Jacob Scharfman (Eugen Onegin), Foto: (c) Jochen Quast

Theater Lübeck
Ein begeisternder Saisonauftakt mit Tschaikowskys „Eugen Onegin“

Es lief gut, zunächst noch etwas befremdlich, später immer besser. Viel Szenenapplaus bewies das. Er galt naturgemäß immer dem, was die Sänger im Moment oder in Minuten davor leisteten. Denn in dieser Oper gab es ja noch große Arien zu hören, die die Seelenzustände, vom Orchester feinsinnig untermalt, hinaustrugen.

Mancherlei Leitmotive wirkten wie Ohrwürmer und der Kontrast lichter Tanzszenen zu dem inneren Dunkel einzelner Personen brachte dramatische Gegensätze. Dennoch hatte das Lübecker Theater es mit dem „Eugen Onegin“ nicht leicht, als es mit ihm am 2. September 2023 die neue Spielzeit eröffnete. Immerhin ist es ein bedeutsames Werk, das wohl beliebteste des russischen Romantikers, aber eines der Nation, die zurzeit viel Schelte ertragen muss.

Jacob Scharfman (Eugen Onegin), Gustavo Mordente Eda (Lenskij), Foto: (c) Jochen QuastJacob Scharfman (Eugen Onegin), Gustavo Mordente Eda (Lenskij), Foto: (c) Jochen Quast

Ob auch die örtliche Tageszeitung die Spannung förderte, ist nicht zu prüfen. Sie hatte am gleichen Tag eine Notiz auf der Vorderseite, dass eine weltberühmte Sängerin in Berlin wieder auftreten dürfe. Ganz hinten im Ortsblatt, auf Seite 32, wurde das von Jan Sternberg, Redakteur beim RND, unter der Überschrift „Buhrufe für die Stimme des Kremls“ zu erklären versucht. Auf der Bühne im Haus an der Beckergrube breitete am Abend dagegen eine andere Russin singend ihr Seelenleben aus, Tatjana, stimmlich bewundernswert tiefsinnig und wunderbar dargestellt von der schon lange Jahre dem Ensemble angehörigen Griechin Evmorfia Metaxaki. Es war ihr Abend!

Tatjana ist die eigentliche Heldin, auch im „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin, dessen gleichnamiger Vers-Roman bekanntlich die Vorlage für die Oper war und ihr den Titel gab. In einer Rede, 1880 im Jahr nach der Uraufführung gehalten, bezeichnete Fjodor Dostojewski ihn, den eine Generation älteren Alexander Puschkin, „als den russischen Dichter schlechthin“ und Tatjana war für ihn die „Apotheose der russischen Frau“. Warum hatte Tschaikowsky dieses Werk nicht nach ihr benannt? Man kann ihn nicht mehr fragen.

Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen QuastEvmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen Quast

Nachzulesen waren die Auszüge aus Dostojewskis Rede im Programmheft zu der letzten Lübecker Inszenierung (2008). Was man damals interessiert las, wirkt heute verwirrend, wenn nicht erschreckend. Unwillkürlich assoziiert man beim Titel von dessen großartigem Werk „Der Idiot“ einen anderen aus Petersburg, der Stadt, in der auch der dritte Akt der Oper spielt. Er ist ebendort geboren, würde wohl darauf bestehen, Leningrader genannt zu werden. Man kann es ihm nicht verwehren. Die Historie gibt ihm dabei einmal Recht.

Auf geringerem Niveau ist dieses seltsam: Als die Oper vor 15 Jahren zuletzt an der Trave inszeniert wurde, war auf dem Umschlag des Programmheftes zu lesen: „Jewgeni Onegin, Lyrische Szenen … von Peter Tschaikowsky“. Und jetzt? Man hatte sich für „Eugen“ im Titel und für „Pjotr Iljitsch“ als Vornamen des Komponisten entschieden. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis! Dass auch wir uns ändern, sieht man, aber mit welcher Konsequenz für ein Land, dessen vielfältige Kultur hier ungemein geschätzt wird.

Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Jacob Scharfman (Eugen Onegin), Foto: (c) Jochen QuastEvmorfia Metaxaki (Tatjana), Jacob Scharfman (Eugen Onegin), Foto: (c) Jochen Quast

Julia Burbach, geboren in Tokyo und international aufgewachsen, hatte eine eindeutige Form zu finden und darin gefunden, dass sie konsequent weder Agnes Hasun mit ihrem Bühnenbaukonstrukt noch Bettina John mit ihren Kostümen auch nur die kleinste Anspielung auf Zeit und Architektur oder Mode eines magischen Präteritums erlaubte. Minimalismus herrschte auch bei den Requisiten. Zwei oder drei Bücher auf dem Boden hatten Leselust und das Sich-Verlieren in Literatur zu unterstreichen, der Unterbau eines Säulenvierecks wurde durch ein Laken und ein Kissen zum Bett, auf dem sich Tatjana ihre Geliebten erträumte, ein paar Sitzmöbel und in den Gesellschaftsszenen auch Tische schufen zeitlose Atmosphäre. Alle lebten und litten in einem Nirgendwo, dessen leere Raumkonstrukte auf der Drehbühne sich hurtig drehten, auch ineinander verwoben.

Mal füllten sie sich mit Glitzervorhängen oder mit beweglichen Plattenelementen. Sie verengten den Raum, boten aber nirgendwann Intimität, boten auch keinen wiedererkennbaren Bezug zu Früherem. Dass dieses Elemente einer bösen Stimmung waren, wurde durch die farbige Gestaltung deutlich. Wie ein böser endothymer Untergrund waren sie unten abgründig schwarz, erst in etwa einem Meter Höhe bis oben hin aber weiß übertüncht. Das war Hinweis genug auf ein arges Spiel, das sich auf der Bühne abspielte. Leitmotivischen Aussagewert bekamen zudem eine pendelnde Schaukel und der immer wiederkehrende leere Rahmen aus einem schmalen Lichtband, anfangs spielerisch und verwirrend. Zum Schluss aber fokussierte er die letzte Begegnung von Tatjana mit dem um sie vergeblich werbenden Onegin - ein starker optischer Eindruck, der das Wesentliche umrahmte!

Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen QuastChor und Extrachor des Theater Lübeck, Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen Quast

Die Kostüme von Bettina John waren sehr schlicht. Nur bei den Männern spürte man einen Hauch von Nostalgie, während die eng anliegenden Kleider der Frauen in ihrer Schlichtheit in Farbe und Schnitt den Charakter der einzelnen Personen zu unterstreichen suchten. Der Chor, wenn er Landbevölkerung zu spielen hatte oder Gesellschaft präsentierte, schien in seiner Buntheit mal eben einer züchtigen Love-Parade entflohen. Auch hier bestand die Regel, sich von jeder Form von Folklore abzuwenden.

Das aber war für die Sänger erschwerend. Sie mussten sehr intensiv ihre Rollen gestalten, die zudem in der Bewegungsregie sehr straff, aber sinnvoll gestaltet waren. Bei Ensemble-Szenen, vor allem bei den Tänzen, vermittelte der Choreograf Klevis Elmazaj dem Chor ansehnliche Bewegungskunst, die Jan Michael Krüger mit groß einstudierten Chorpartien hörenswert ergänzte.

Noah Schaul (Triquet), Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen QuastNoah Schaul (Triquet), Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen Quast

Es sei noch einmal ins Programmheft geschaut. Unter „Oper der Intimität“ findet man im neueren Programmheft Tschaikowskys Vorstellungen einer Bühnenrealisation. Er wollte seine Oper wie im Konservatorium mit „bescheidenen Mitteln“ aufgeführt sehen und für „die vier Hauptpersonen entsprechend junge Interpreten“ finden. Da müsste die Auswahl der Sänger in Lübeck ihn zutiefst befriedigt haben. Evmorfia Metaxaki vor allen hatte Charme und Versonnenheit, auch das jugendliche Temperament in Stimme und in Ihrer schlanken Erscheinung. Sie wurde der absolute Glanzpunkt dieser Aufführung. Olga, ihre jüngere Schwester, verkörperte die junge Mezzosopranistin Laila Salome Fischer, ausgestattet mit quirligem Temperament und mit einer sicheren, aber in der Tiefe noch nicht ganz ausgereiften Stimme.

Der Titelfigur gab Jacob Scharfman alles. Er konnte den blasierten Lebemann anfangs ebenso lebendig formen wie den geläuterten, aber enttäuscht Verzicht übenden Rückkehrer. Großartig seine Szene im engen Lichtrahmen mit Tatjana im Finale. Die Rolle von Olgas Verlobtem Lenski, des Dichters und benachbarten Landbesitzers, ist im Quartett der zwei jungen Paare wohl die undankbarste. Hohe Anforderungen Jacob Scharfman (Eugen Onegin), Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen QuastJacob Scharfman (Eugen Onegin), Evmorfia Metaxaki (Tatjana), Foto: (c) Jochen Quastmuss der Tenor gesanglich erfüllen, im Spiel der Enttäuschung Ausdruck geben. Beides mit Kraft und Sicherheit immer präsent zu erfüllen, schaffte der junge Brasilianer Gustavo Mordente aus dem Opernelitestudio, eine bewundernswerte Leistung von ihm.

In den weiteren Rollen glänzten Julia Grote als mitfühlende Mutter (Larina), in Kiew ausgebildet und einzige Sängerin, die nicht aus dem Ensemble stammte, und Edna Prochnik in der wunderbaren Rolle der Gouvernante Filipjewna. Nicht nur sie ist ein Beleg, wieviel Biografisches in dieser Oper steckt, auch in der, die Rúni Brattaberg als Fürst Gremin gab, sicher wie immer und mit Basses Tiefe. Noah Schaul schließlich glänzte im springlebendigen Couplet zu Tatjanas Geburtstagsfeier, Auftakt für die düstere Gesellschaftsquerele, die „Eugen Onegin“ so dramatisch enden lässt.

Der Schlussbeifall steigerte sich zum Jubel für die Sänger, steigerte sich noch als Stefan Vladar auf der Bühne erschien, Opernchef und musikalischer Leiter am Abend, der mit den Lübecker Philharmonikern Tschaikowskys sensible, zugleich ausdrucksvolle Musik mit viel Empathie zum Klingen brachte. Eine farbige instrumentale Stütze!

Ein wunderbares Fazit ist, dass der gnadenlose Kremlchef nicht schafft, die Kultur seiner Vorfahren zu vernichten.

Fotos: (c) Jochen Quast

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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