Wioletta Hebrowska (Charlotte), Yoonki Baek (Werther), Foto: Olaf Malzahn

Jules Massenets „Werther“ im Theater Lübeck
Gefühle im Scheinwerferlicht

Die Schlussszene ist großartig: Werther und Charlotte, nur wenige Meter voneinander entfernt, wollen verzweifelt ihrem engen Lichtkäfig entkommen.

Sie wollen zueinander, links Werther, tödlich verletzt, innerlich wie äußerlich, rechts die in Pflicht und Leidenschaft gefangene Charlotte. Nah sind sie sich, doch zugleich weit entfernt. Und noch eine dritte Distanz ist da, die zu ihnen gehörende Umwelt, von außen zu hören mit weihnachtlichem Gesang. Erst Werthers Pistolenschuss beendet jäh das Seelendrama, Jules Massenets „Werther“.

Das Theater Lübeck widmete sich damit zum zweiten Male der Romantik. Vor nur wenigen Wochen wurde dem „Freischütz“ so ziemlich alles ausgetrieben, was der frühen Erscheinungsform dieser Epoche gemeinhin in deutschen Landen zugedacht wird oder aus dem Werk interpretierbar ist. Jetzt ging Sandra Leupold mit einem französischen Werk aus deren Endzeit geruhsamer um, nicht auf äußere Effekte schielend. Ihr Blick auf Jules Massenets „Werther“ war außerordentlich schlüssig.

Yoonki Baek (Werther), Gerard Quinn (Der Amtmann),  Johan Hyunbong Choi (Albert), Emma McNairy (Sophie), Kinderchor, Statisterie, Foto: Olaf MalzahnYoonki Baek (Werther), Gerard Quinn (Der Amtmann), Johan Hyunbong Choi (Albert), Emma McNairy (Sophie), Kinderchor, Statisterie, Foto: Olaf Malzahn

„Werther leidet nicht, er will leiden“, ist einer der Kernsätze ihrer psychologischen Exegese, die ihre Regie bestimmt (s. Programmheft). Als „egomanischen Außenseiter“ stellt sie ihn dar, denn „mehr als Charlotte liebt Werther die Unerfüllbarkeit dieser Liebe“. Konsequent stellt sie die Figuren wieder einmal in einen nackten Bühnenraum, schon eine Art Fingerabdruck für sie, und ermöglicht so ihr psychologisches Kammerspiel, das keinerlei Kulissen benötigt. Lichtflächen stellen Räume dar, das Haus des Amtmanns oder die Kirche. Sie werden pantomimisch durch Klopfen oder Kopfneigen oder über imaginäre Schwellen betreten. Das erinnert an Lars von Triers Film „Dogville“, der in einer anderen Bühnenrealität vor einer Woche Premiere hatte.

Der Bühnenboden steigt schräg nach hinten auf, ist mit ein wenig trockenem Herbstlaub bestreut, der Raum nach allen Seiten mit kalter, transparenter Folie verhängt (Bühne: Hanna Zimmermann). Das ermöglicht überall und allen Akteuren gleichzeitig den Auftritt und lässt schemenhaft Gleichzeitiges oder Zukünftiges erahnen. Licht und Nebel wandeln Stimmungen, die sonst allein die Sänger schaffen müssen. So wird der Spielraum zu einer Innenwelt, die alle Figuren mit Wirklichkeit füllen müssen.

Wioletta Hebrowska (Charlotte), Foto: Olaf MalzahnWioletta Hebrowska (Charlotte), Foto: Olaf MalzahnSehr hilfreich sind die Kostüme von Jochen Hochfeld, nicht in Werther-Farben, sondern in solchen aus Goethes „Dichtung und Wahrheit“: „… blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider und Stiefeln mit braunen Stulpen“. Ein helles Rot kennzeichnet Charlottes alla polonaise gerafften Überrock. Der und ein eng sitzendes, ihre Weiblichkeit betonendes Oberteil mit leichtem Spitzenbesatz macht sie zu einer ausnehmend ansehnlichen jungen Frau. Mit diesem reizvollen Mix aus Rokoko und Fin de Siècle fällt sie modisch ebenso aus der Zeit wie auch Werther, der über seinem nackten Oberkörper eine graublaue Weste und ein weißes Halstuch trägt, dazu eine gelbe Kniebundhose.

Das Irreale verstärkt sich zudem durch die Bewegungsmuster. Gleich die erste Szene verdeutlicht das, womit Sandra Leupold sich wieder selbst zitiert. Wie in Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“, vor einem halben Jahr inszeniert, bewegen sich alle im Zeitlupentempo, wie in einer Traumvorstellung des Titelhelden. Werden sie realistischer, nimmt das Tempo zu. Werther ist zudem nahezu ständig auf der Bühne anwesend, oft vorn an der Rampe, steuert selbst den Vorhang. Das entspricht sinnvoll Goethes Briefroman, der nur eine Perspektive kennt, eben die des Schreibenden. Er wird zum Regisseur seiner Eingebungen, nur seine Gefühle, sein Ego bestimmen die Handlung.

So lässt sich auch Massenets Musik als Ausdruck von Werthers Schwelgerei hören und gewinnt damit an Objektivität, indem sie die Farben seiner hochgradig erregten Seelenzustände malt. Manfred Hermann Lehner, der junge Kapellmeister, verstand es, dies mit den Musikern der Lübecker Philharmoniker lebhaft zu gestalten, besonders bei rein instrumentalen Sätzen. Einige emphatische Fortestellen allerdings deckten die Stimmen zu, die man gern in jedem Ton erfasst hätte, denn die Hauptpartien sind grandios besetzt.

 Yoonki Baek (Werther), Wioletta Hebrowska (Charlotte), Foto: Olaf MalzahnYoonki Baek (Werther), Wioletta Hebrowska (Charlotte), Foto: Olaf Malzahn

Yoonki Baek besitzt einen lyrischen Tenor, dessen Timbre sehr gut für den Werther passt, den er auch im Spiel ansprechend verkörperte. Mit Wioletta Hebrowska hat das Theater für Auge und Ohr eine geradezu ideale Charlotte. Ob als Mutterersatz für ihre Geschwister oder als Gegenpart zu Sophie, ob als pflichtgetreue Ehefrau oder im Schlussduett mit Werther als erträumte Geliebte überzeugt sie mühelos durch ihr nuanciertes Spiel wie durch ihre klangvolle Stimme, mit der sie in Dynamik und Farbe die Entwicklung schattiert.

Bemerkenswert auch die Nebenpartien, die erst die Qualität eines Hauses unterstreichen. Sophie gab Emma McNairy das, was diese Figur auszeichnet, eine erfrischend mädchenhaft wirkende Schlankheit und Gelenkigkeit in Erscheinung und Stimme. Mit seinem wendigen Bariton entsprach Gerard Quinn als Amtmann glaubwürdig und verlässlich einer Vaterfigur. Johan Hyunbong Choi hatte es als Albert in zweierlei Hinsicht schwer. Einmal musste er vor Beginn wegen einer Erkältung um Nachsicht bitten lassen, zum anderen ist der Wandel Alberts schwer darzustellen vom eher biederen und verlässlichen Bräutigam zum Ehemann, der seiner Frau die Pistolen aufdrängt, mit der der Nebenbuhler sich umbringen will.

Yoonki Baek (Werther), Foto: Olaf MalzahnYoonki Baek (Werther), Foto: Olaf Malzahn

Ein eindeutiges Plus dieser Inszenierung allerdings war, wie dezent die Rollen der trinkfreudigen Freunde des Amtmanns gestaltet waren. Nichts blieb von der häufig penetrant vordergründigen Derbheit dieser Rollen, obwohl beide, Hojong Song als Schmidt und Yong-Ho Choi als Johann, kräftig bei Stimme waren. Die Kinder hatte das Theater bei der Lübecker Knabenkantorei an St. Marien und im Mädchenchor der Gemeinnützigen gefunden. Sehr sicher waren sie von Karl Hänsel einstudiert und im Spiel mit vielen Aufgaben betraut.

Ein großer Opernabend war das, einleuchtend und zugleich erhellend inszeniert.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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