Michael Ruchter (Ausrufer), Foto: Falk von Traubenberg

Döblins „Berlin Alexanderplatz“ im Großen Haus
Eine Endzeit wird lebendig

„Und nun Berlin. Das Chaos von Städten. Im Begriff, ein London von Internationalität zu werden; Volksgemisch erst, jetzt ein Völkergemisch. Vierunddreißig Jahre laufe ich hier herum, immer neugierig, beobachtend, wie sich das bewegt und wie es sich ruckartig entwickelte.“

Das sind keine Sätze eines 1984 Geborenen, Alfred Döblin hat sie 1922 geschrieben, als er „Berlin und die Künstler“ unter die „Zeitlupe“ nahm. Es sind Sätze in einer Zeit, die Hoffnung hegte, dass nach Krieg und Not und mit einem neuen Staat sich alles bessert. Weimarer Republik wurde sie genannt. Wir kennen ihr Ende.

Das Theater Lübeck beschäftigt sich immer wieder mit ihr. Aktuell sind es drei Inszenierungen in gerade einmal zwei Wochen, die die Schlussphase der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland vor ca. 90 Jahren lebendig machen. In Paul Abrahams Operette „Ball im Savoy“ (UA 1932) ist zu erleben, wie glamourös man sich amüsieren konnte. Ödön von Horváths lässt in „Glaube Liebe Hoffnung“, vor einer Woche in den Kammerspielen gespielt, einen Menschen sich im Verordnungsdschungel verfangen. Das wollten die Machthaber 1933 in Berlin nicht sehen und verboten die geplante Uraufführung. Jüngst (Premiere: 14. September 2018) folgte im Großen Haus Alfred Döblin, eine Bühnenfassung seines Romans „Berlin Alexanderplatz“, 1929 ebendort erschienen. Seine jüdische Abstammung zwang ihn 1933 in die Emigration.

Henning Sembritzki (Franz Biberkopf),  Sophie Pfennigstorf (Mieze), Foto: Falk von TraubenbergHenning Sembritzki (Franz Biberkopf), Sophie Pfennigstorf (Mieze), Foto: Falk von Traubenberg

Für die Bühne bearbeitet hat den Roman Andreas Nathusius, der zudem Regie führte. Die Zeit ist für ihn offensichtlich von Belang, hatte er 2014 das Gleiche doch bereits bei Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ getan. Auch das ein zeitkritischer Roman, 1932 erschienen, im gleichen Jahr, in dem Horváth die „Geschichten aus dem Wienerwald“ noch in Berlin herausbringen konnte. Sie waren Ende 2015 in Nathusius‘ Regie in den Kammerspielen zu sehen.

„Berlin Alexanderplatz“ ist ein großer, zudem vielschichtiger Text, mehrere hundert Seiten lang. Aus ihm hat Nathusius eine einleuchtende Fassung destilliert, die zur Aufführung noch drei Stunden und zwanzig Minuten benötigt. Er begnügt sich nicht einfach, die Geschichte Franz Biberkopfs herauszuarbeiten, er will zeigen, dass es sich hier um eine Großstadt handelt, in der Franz nur ein Exempel ist. So bekommen auch andere Figuren szenisches Gewicht. Zudem überträgt er Teile der epischen Struktur. Versatzstücke, in den Text montiert, werden übernommen, um Zusammenhänge herzustellen oder Situationen zu erläutern, auch politische, soziale oder medizinische Hintergründe. Das wirkt in seiner Bearbeitung flüssig und gestisch, wird teils von einem kommentierenden Chor in antiker Manier übernommen.

Henning Sembritzki (Franz Biberkopf), Chor  Foto: Falk von TraubenbergHenning Sembritzki (Franz Biberkopf), Chor Foto: Falk von Traubenberg

Eine starke motivische Verkettung schafft das Biblische. Da ist die Paradieserzählung mit dem Schlangenmotiv, dem Sündenfall und der Vertreibung. Auch Alttestamentarisches wird plastisch wie Hiobs Streit mit dem Satan oder seine Treueprüfung. Sven Simon und Robert Brandt spielen das oder den Streit der Juden Nachum und Eliser beeindruckend. Groß ist auch die Szene, in der Abraham seinen Sohn Isaak töten soll. Peter Grünig und Sophie Pfennigstorf gestalten das bewegend. Das schafft Ebenen, die die Handlung immer wieder intensivieren, sie zugleich motivisch verbinden.

Die Figur des Hiob in ihrer gottesfürchtigen Strenge und moralischen Haltung konterkariert die Entwicklung von Franz Biberkopf, dem Zement- und Transportarbeiter. Eingeschüchtert wird er zu Beginn aus dem Gefängnis in Tegel entlassen. Vier Jahre hatte er gesessen, weil er rauschhaft seine Freundin Ida erschlagen hatte. Nun begegnet er einer Stadt, die sich gewandelt hat. Nur schwer kann er sich zurechtfinden. Aber anständig sein will er, ist dennoch von kaum bezähmbarer Kraft und Lebensgier. Sie zwingt ihn in sein altes Milieu zurück. Die Rache eines Rivalen, der ihm das Mädchen raubt, und der Verlust eines Arms führen ihn schließlich in neue Isolation und ins Irrenhaus.

Susanne Höhne (Tod),  Henning Sembritzki (Franz Biberkopf), Foto: Falk von TraubenbergSusanne Höhne (Tod), Henning Sembritzki (Franz Biberkopf), Foto: Falk von Traubenberg

Es ist das Leben eines Gescheiterten, der auszog, sich einzuordnen, der dann doch an sich und der Umwelt scheitert, ein anderer Hiob. Großartig ist, wie Henning Sembritzki das in vielen Facetten vermittelt, naiv und brutal, überheblich und verzweifelt, ungezähmt kraftvoll und weinerlich sensibel, wie er vor allem auch physisch das Einarmige durchhält. Groß auch die Szenen, in denen er dem Tod begegnet. Da setzt Susanne Höhne eindringliche Momente im Gesang und Spiel, wenn sie dem Zusammengebrochenen mit dem Blasebalg des Akkordeons Atem einbläst. So wird die Musik (Felix Huber) zu einer animalischen Geste.

Der Schlachthof als Gewaltmetapher ist ein weiteres bedeutsames Motiv. In Sprache und Handlung taucht sie auf. Peter Grüning macht sie sichtbar, wenn er sich als Opfer bis auf die Haut entblößt, eine grandiose schauspielerische Leistung! Und die Stadt spielt in den großen und kleinen Bühnenbauten von Annette Breuer mit. Sie hat schon früher für Nathusius die Szenerie entworfen. Jetzt sind es dunkle Fassaden, deren Elemente gedreht und herumgefahren werden und deren gleißendes Licht auf der Rückseite das Publikum blendet. Hell und dunkel werden so zu einer weiteren Metapher und ermöglichen kraftvoll impulsives Spiel. Das von Andreas Hutzel gehört dazu. Er zeichnet den stotternden und zwielichtigen Reinhold staunenswert nuanciert, ohne ihn zu karikieren. Andere bezwingende Episoden ergeben sich durch die Frauen. Claudia Wiedemer verkörpert eindringlich die Minna, später die sich aufopfernde Cilly so wie Sophie Pfenningstorf die Mieze, die Franz retten will und dafür ermordet wird.

Sophie Pfennigstorf (Mieze),  Andreas Hutzel (Reinhold), Foto: Falk von TraubenbergSophie Pfennigstorf (Mieze), Andreas Hutzel (Reinhold), Foto: Falk von Traubenberg

Da bleibt noch Michael Ruchter. Er hat sich in der Rolle eines Ausrufers vielseitig zu bewähren. Er erntet mit seinen Tanzeinlagen als eine Art Conférencier Sonderapplaus, kann aber vor allem eines: sprechen. Solche Artikulation hat man lange vermisst. Das erleichtert seine Aufgabe als Beobachter, Bewerter oder einfach nur Vermittler dessen, was geschieht, in das er auch ab und zu eingreift. Mit seiner Rolle hat Andreas Nathusius sich die Möglichkeit geschaffen, vieles, was er gezwungenermaßen streichen musste, hereinzuholen.

Der Abend wurde mit Begeisterung aufgenommen, auch wenn er viel fordert, nicht nur von denen auf der Bühne, auch vom Zuschauer davor. Einige entzogen sich dem bereits nach der Pause. Sie können einen der Glanzpunkte im Sprechtheater nicht würdigen.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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