Foto: Kerstin Schomburg

Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ in den Kammerspielen

Andreas Nathusius, viel beschäftigter freier Regisseur aus Berlin, hat am Theater Lübeck schon eine Reihe von Inszenierungen hervorgebracht. Neben Klassikern wie Lessings Nathan oder, zu Beginn dieser Spielzeit, Hebbels Nibelungen gehörte Ibsens Peer Gynt dazu sowie Stücke moderner Autoren wie Beckett, Handke oder Jelinek.

Beispiele der in letzter Zeit so beliebten Bearbeitungen von epischen Werken sind Thomas Manns Joseph und seine Brüder, Heinrich Manns Der blaue Engel oder im März dieses Jahres Falladas Kleiner Mann, was nun?. Seine jüngste Arbeit, Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald, hatte am 5.12.2015 Premiere. Fallada und ihn eint, dass sie die Zeit zwischen den Weltkriegen beschäftigte. Und wie bei Fallada steht im Mittelpunkt ein junges Paar. 

Bei Fallada ist vor allem die Armut, durch Arbeitslosigkeit verursacht, das Thema. Bei Horváth bricht so ziemlich alles zusammen, die nachbarschaftlichen Beziehungs- und Familienstrukturen und auch die weltanschaulichen Ordnungen, die Kirche und Gesellschaft bieten. Das wird bitter ironisch an einem Wiener Stadtmilieu gezeigt mit der Fleischerei Oskars und seines Gesellen Havlitschek, mit Valeries kleiner Tabak-Trafik nebst Zeitungshandel, von der auch der zwielichtige Schönling Alfred lebt, und mit der Spielwarenhandlung des verwitweten Zauberkönigs, des Vaters von Marianne. Die entzieht sich dem „Naturgesetz“, mit dem klobigen Nachbarn Oskar verlobt zu werden, weil der Vater es will. Reizvoller ist ihr der windige Alfred, dessen „Geschäft“ Pferdewetten sind, soweit er nicht von Valerie, der 50-jährigen, sexuell stark Bedürftigen, über Wasser gehalten wird. In blinder Leidenschaft glaubt die blutjunge Marianne an die Liebe, folgt Alfred, bekommt ein Kind, das bei dessen Mutter aufwächst. Sie selbst landet zuerst als Nackttänzerin im Varieté, dann im Gefängnis, bis das Schicksal, zuletzt in der bösen Gestalt von Alfreds Großmutter, ihr noch das Kind nimmt. Nebenfiguren sind der erzkonservative, alte Rittmeister und ein Freund, der Mister, auch der Hierlinger Ferdinand, Alfreds gesinnungsloser Kumpan, oder der angehende Jurist und Rechtspopulist Erich, der bei Valerie als Nachfolger Alfreds einzieht. Alle ergänzen ein weit gefächertes Personal, das Moralisches wie Gesellschaftliches, Politisches wie Wirtschaftliches vielfältig in Beziehung setzt.  

Ödön von Horváths komplexe Bühnenwelt ist schwer zu inszenieren. Das zeigte auch der neueste Versuch. Diese Welt lebt einerseits von dem Atmosphärischen, weil sie eng verbunden ist mit Zeit, Ort und vor allem dem Tun und Denken der Menschen. Andererseits erwächst ihr durch sehr bewusst gearbeitete Motivkomplexe, durch die besondere Sprache und die szenischen Formungen eine eigene Kraft. Schon vor der Uraufführung 1931 erhielt Horváth dafür den „Kleist“-Preis. Zahlreiche Varianten, von Horváth über mehrere Jahre erarbeitet, kennt man heute. Aber trotz des durchgeformten, nahezu artifiziellen Aufbaus und der komplexen Handlung bleiben die Figuren lebendig, auch in dieser Lübecker Fassung. 

Volksstück in drei Teilen ist der Untertitel der Version, die Nathusius wählte. Nicht nur das Personal kürzte er von 22 Figuren auf 13, die er von neun Darstellern spielen lässt. Auch der Spielraum (Bühne: Annette Breuer) ist auf eineinhalb Orte reduziert. Rechts verläuft eine schräg nach hinten laufende, in ihrer Sperrholzoptik trostlos wirkende Wand mit sieben dreiflügeligen Drehtüren. Links begrenzt den Raum ein ebenso dürftig wirkender Glitzervorhang. Dazwischen stehen vor dem kahlen schwarzen Hintergrund auf einer kleinen Empore einige Hocker, die hie und da in das Spiel einbezogen werden. Der Glitzervorhang wird für die Varietészene einmal nach vorn bewegt. Das ist alles, was für die vielen weiteren Spielorte steht, für Haus und Landschaft in der Wachau und an der Donau, für die kleinbürgerliche, stille Straße in Wien mit Oskars Schlachterei und Valeries Tabak-Trafik, für das Innere des weiten Stephansdoms und des engen, möblierten Zimmers, für ein kleines Café oder für das Heurigenlokal. Ein paar Lichteffekte (Georg Marburg) gleichen etwas aus, wie etwa die Lichtgasse in der Kirchenszene, die Nathusius unnötigerweise aus einer anderen Fassung genommen hat. Die gestrichene ist einiges prägnanter. 

Die Atmosphäre müssen allein die Schauspieler erzeugen. Und sie tun es bewundernswert. Die Kostüme (Ursula Bergmann) mit Anklängen an die Nachkriegszeit versetzen das Geschehen um nur wenige Jahrzehnte. Einzig der skurrile Zauberkönig, von Sven Simon mit gestelzten, engen Bewegungen eindrucksvoll gestaltet, fällt durch eine folkloristische, eher altertümliche Garderobe heraus. Alle anderen Garderoben unterstützen den Charakter, der mit nur wenigen Worten oder Gesten verdeutlicht werden muss. Vor allem Astrid Färber als Valerie und Nadine Boske, die „Neue“ im Ensemble, leisten dabei Großartiges. Nadine Boske wird im tragischen Abwärtsweg immer glaubwürdiger. Zunächst ist sie eine gehorsame, doch drangsalierte Tochter, begehrt dann gegen ihr aufgezwungenes Schicksal auf und scheitert. Und Astrid Färber gibt der Valerie als taffe Geschäftsfrau und liebestolle, zugleich herzensgute Fünfzigerin ein vielfältiges Gesicht. Jochen Weichenthal versteht den Oskar in seiner Dumpfheit ebenso deutlich zu machen wie Till Bauer den durchtriebenen und faulen Alfred. Als Gast ist Karin Nennemann in der Rolle der Mutter sicher, dennoch nicht sehr gefordert, während Robert Brandt gleich zwei Rollen übernehmen muss. Seine Großmutter ist brillant, wirkt in diesem Ensemble aber eher kabarettistisch. Seinen Rittmeister dagegen nimmt man ihm gern ab. Auch Will Workman hat zwei Rollen zu bewältigen, den groben Havlitschek und den gedankenlosen Mister. Matthias Hermann schließlich muss als Hierlinger Ferdinand, als Erich und als Conférencier gleich dreimal Kostüme und Rollen wechseln. Jedem gibt er ein eigenes Gesicht.

Nathusius hat Erfahrung mit dem Theater Lübeck und mit seinem Ensemble. Und wieder schafft er mit geringsten Mitteln einen großen Theaterabend. Er beginnt zu gemächlich, gewinnt aber nach der Pause an Dichte. Die Streichungen allerdings beim Erich verhindern, dass dessen rechte Ideologie sich verdeutlichen kann, vor allem die gestrichenen Querelen mit dem Rittmeister. Damit wird ein wichtiger Gegenwartsbezug ausgespart. Blass bleibt als Dramenfigur auch der Ferdinand. Immerhin ist er Initiator von Mariannes Absturz. Schließlich wird durch die veränderte Beichtszene im Stephansdom der gesamte Komplex um Religiöses stark verknappt. Beim Zwang zum Kürzen wurde nicht immer der beste Weg gefunden. Das betrifft auch die stark reduzierte Musik (Wolfgang Siuda), die für Horváth ein wichtiger Gestaltungsfaktor ist. 

Das Premierenpublikum war zum Schluss beifallsfreudig. 

Eine kleine Anmerkung noch: Das Programmheft war diesmal mager, wenig anregend, sich mit dem Stück vertiefend auseinanderzusetzen. Schade.

Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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