Iiro Rantala, Foto: Holger Kistenmacher

Leinen los zum Kurs "Nordic Sounds"
Classical Beat Festival eröffnet mit dem Piano-Virtuosen Iiro Rantala

Finnland, das kleine nordische Land der 10.000 Seen, Myriaden von Mücken und einer unaussprechlichen Sprache, ist auch seit Jahren bekannt als führendes Land des Weltglücksberichts oder der schulischen Leistungen seiner Schüler.

Gleichzeitig wird dort eine besondere Musiktradition gepflegt. Die reicht von lautstarker Heavy-Metal-Musik über eine unfassbare Tango-Tradition, die selbst deren Ursprungsländer wie Argentinien und Uruguay in den Schatten stellt oder das seit Jahrhunderten geliebte Akkordeon-Wrestling, Haitaripainia genannt, das ursprünglich zur Überdeckung von Flatulenzen der Ringer gedacht war. Gleichzeitig hat Finnland aber auch Großmeister der Musik, wie den Klassik-Helden Sibelius, den Akkordeon-Schamanen Kimmo Pohjonen, den Elektronik-Visionär der Quetschkommode, aber auch Huntajat, den Schreichor aus Oulu hervorgebracht, der seit 36 Jahren keinen Ton singt, sondern Nationalhymnen, Kinderlieder und internationale Verträge brüllt, was schon einmal zum Entsetzen bei kleinen, höflichen Japanern führen konnte oder zu einem Auftrittsverbot in Frankreich reichte, weil man dort die Marseillaise nicht geschrieen hören wollte.

Iiro Rantala, Foto: Holger KistenmacherIiro Rantala, Foto: Holger KistenmacherEin ähnliches Kaliber stellt der Ausnahmepianist Iiro Rantala da, der auch schon einmal als „Naturereignis an den Tasten“ (Jazz thing) betitelt wurde. Jener Pianist, ein Grenzgänger zwischen Klassik, Moderne und Jazz, war am Dienstag im Saal des Atlantic-Hotels in Travemünde zu Gast, um gemeinsam mit dem jungen studentischen Classical Beat Chamber Ensemble unter der Leitung von Bernd Ruf das dortige Festival zu eröffnen.

Vor ausverkauften Haus präsentierte der grandiose Piano-Virtuose sein neuestes Projekt: die von ihm gemeinsam mit den Musikern der Berliner Philharmonie eingespielte Komposition „Venezia“. Diese italienische Stadt im Wasser, eine Metropole der Kunst und Musik, ein Sehnsuchtsort für namhafte Künstler und Musiker hat den finnischen Piano-Star zu einer Reihe von Stücken inspiriert, die die Kraft von Melodie, Harmonie und tiefer Emotionen atmen. Dabei sitzt dem klassisch ausgebildeten Klavierspieler, der früher eher als gefragter Jazz-Pianist berühmt war, immer auch der Schalk im Nacken. Allein sein Outfit versetzte das überwiegend gesetztere Publikum in verwundertes Staunen: Bekleidet mit einem schwarz-weiss gestreiften Anzug, ebensolchen Schuhen und einem glänzenden Gummi-Shirt betrat der Musiker die Bühne. Dann plauderte er humorvoll in seinen Zwischentexten zu den einzelnen Stücken und erklärte deren Ursprünge.

So beginnt er mit der Geschichte einer Touristen-Familie, die sich bei einer Bootstour durch die Kanäle der Stadt streitet. Während die Mutter die Sehenswürdigkeiten der Lagunenstadt besichtigen möchte, will der Vater lieber Fußball schauen, während die Kinder sich nicht einig sind, ob sie lieber Pizza oder McDonald-Food essen wollen. Daraus hat er seine erste Komposition erarbeitet, wo er leichthändig die Finger über den Flügel fliegen lässt, während das 10-köpfige Orchester zeigen kann, welche Könnerschaft auch in ihnen steckt. Das junge Studenten-Kammerorchester besteht aus 4 Streicher/innen (Geigen, Bratsche und Cello), einer Bassistin und 5 Bläser/innen (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Waldhorn) und wird wunderbar dirigiert vom Musikprofessor und musikalischen Tausendsassa der Lübecker Musik-Hochschule Bernd Ruf. Mal fein und filigran, dann aber auch mit ausufernden Armschwüngen leitet er das Kammer-Orchester, das nur einen Tag für Proben mit dem Piano-Meister zur Verfügung hatte, aber hervorragend abgestimmt mit ihm agiert.

Bernd Ruf und das Classical Beat Chamber EnsembleBernd Ruf und das Classical Beat Chamber Ensemble

Es folgt das nächste Stück, welches Rantala als erstes „schwules Ballett“ von Sergey Prokofjew vorstellt. „Der Meister, der viele Ballett-Inszenierungen des berühmten Ballett Russlands komponiert hat, die allerdings nie in Russland aufgeführt werden durften“, habe ihn zu „Romeo und Steve“ inspiriert. Ein Stück mit wunderbarem Solo der Klarinettistin Anna und tragisch schöner Klavier-Begleitung, die zwischen Film-Musik, Jazz und dramatischer Komödie laviert. Dazu stampft Rantala zwischenzeitlich kräftig mit den Schuhen den Takt mit, während Ruf seine Musiker/innen zur Höchstform animiert.

Es folgen Stücke, deren Ursprünge zum Beispiel bei Claudio Monteverdi liegen, der in Venedig im 16. Jahrhundert seine erste Oper aufführte. Oder Giuseppe Verdi, der dort 250 Jahre später seine La Traviata vorstellte. Beide liebten den Walzer, wie Rantala schelmisch verkündet, also produzierte er einen „unerfolgreichen Walzer“, der mit gezupften Streichern, aber auch zackig gespielten Pianoläufen daherkommt. Antonio Vivaldi, einer seiner weiteren mit Venedig verbundenen Musik-Helden, muss bei seinen „Vier Jahreszeiten“ mit ADHS gekämpft Iiro Rantala, Foto: Holger KistenmacherIiro Rantala, Foto: Holger Kistenmacherhaben, erklärt Rantala in humorvollem Plauderton. „Was wusste der schon vom Winter in Skandinavien“. Dementsprechend teilt er die Musiker nach Ländern auf: Finnland bekommt natürlich das Piano, Dänemark die Flöte und Schweden die Geige, während Island noch nicht entdeckt sei. Dafür gibt es im Norden aber den Hardrock und Hand in Hand segelten Finnland und Schweden jetzt in die Nato. Die musikalische Umsetzung dieser ADHS-Nummer von Vivaldi sorgt für erste Begeisterungsstürme beim Publikum, während sich Rantala in die Pause verabschiedet und dem Publikum „a lot of Drinks“ wünscht.

Danach geht es weiter mit dem finnischen National-Musiker Jan Sibelius, der angeblich wegen seiner 4. Symphonie, die so schwierig war und von keinem verstanden wurde, schwer depressiv war und dringend Urlaub in Venedig brauchte. Also machte er dort „Drinking-Holydays“ und kaufte sich 10 Flaschen Grappa. Seinen Stil des romantischen Komponisten hat Rantala dementsprechend für sein nächstes Stück verwendet. So glänzt der Pianist nicht nur am Flügel, sondern auch als Entertainer, Pausen-Clown und humorvoller Charmeur, dem das Publikum zu Füßen liegt.

Es folgen weitere Stücke, die von Mozart, Casanova oder Lorenzo da Ponte inspiriert wurden. Wobei Casanova ja nicht nur als Frauen-Held bekannt war, sondern auch von seinem Freund da Ponte profitierte, der ihm nicht nur bei seiner Flucht aus Venedig geholfen haben soll, sondern auch noch ein Bordell Bernd Ruf und das Classical Beat Chamber EnsembleBernd Ruf und das Classical Beat Chamber Ensemblebetrieben habe, mutmaßt Rantala. Und natürlich darf auch das Thema Venedig und der Tod bei seinen Kompositionen nicht fehlen. Stichwörter sind der berühmte Friedhof auf der Insel St. Michel mit seinen berühmten Bewohnern, wie Wagner, Stravinsky unter anderem. Aber auch Lübecks berühmtester Sohn, Thomas Mann und sein „Tod in Venedig“ haben ihn zu seinem „Beerdigungs-Marsch“ geführt, der traurig und dramatisch angelegt ist und trotzdem voller spielerischer Brillanz daherkommt. Dazu stopft er sogar sein Handtuch in den Flügel, um die Töne zu dämpfen.

Dann ist Schluss. Aber der Ausnahme-Pianist Iiro Rantala lässt es sich nicht nehmen, in seiner Zugabe mit einem unglaublichen Piano-Solo noch einmal seine gesamte Könnerschaft unter Beweis zu stellen. Da jubelt nicht nur das Publikum mit stehenden Ovationen, sondern auch sein hervorragendes Orchester staunt ungläubig mit offenen Mündern. Alle gemeinsam durften ein mitreißendes Städteporträt der anderen Art bewundern, das mit „Venezia“ fantastische Klangwelten im virtuosen Fluss, melodischen Reichtum, Drama und große Gefühle erzeugte. Der Fantasie des Komponisten und Piano-Meisters scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Fantastico!

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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