Präsentation des Eröffnungsfilms 'Die kleine Genossin' im Cinestar, Foto: (c) Olaf Malzahn

60. Nordische Filmtage Lübeck
Kannst du einen Film empfehlen?

Seit Jahren im Herbst die immer wiederkehrende Frage, als hätte ich auch nur irgendeinen der 199 Filme vorab bereits gesehen. Also bin ich stets versucht, entweder zu antworten: „Nein!“, oder aber: „Jeden!“

Es bedarf ja schließlich einer gewissen Hürde, bis ein Film auf den Filmtagen präsentiert wird. Fast möchte ich sagen: „Schlechte Filme gibt’s hier gar nicht.“ Natürlich hat mir auch der ein oder andere Streifen in den letzten Jahren mal überhaupt nicht gefallen, aber das ist letztlich wohl eher eine Frage des Geschmacks, denn der Qualität.

Zum Beginn des diesjährigen Spektakels kann ich nach knapp 24 Stunden und 4 angesehenen (jetzt wird mir überhaupt der doppelte Sinn dieses Wortes bewusst) Filmen mit Freude verkünden: Was für ein wunderbarer Auftakt!

Eigentlich wollte ich vom Eröffnungsfilm „Die kleine Genossin“ erzählen, komme aber soeben aus „Per im Glück“ („Lykke-Per“), ein Romanklassiker in Dänemark, der die Lebensgeschichte des Priestersohnes Per Sidenius schildert, brillant verfilmt von Altmeister Bille August, knappe 3 Stunden „ganz großes Kino“, wie die Dame neben mir am Ende seufzte, „was für eine Kameraführung“. Ja, aber doch nicht nur die! Der Film enthält ja alles, was man sich nur wünschen kann – bis hin zur wiederholten, einprägsamen Musik, die mit ihren melancholisch aufsteigenden Tönen schon vom ersten Moment an anklingen lässt, dass Pers Glück nicht ungetrübt bis zum Ende anhalten wird.

Per im Glück, Foto: (c) Rolf KonowPer im Glück, Foto: (c) Rolf Konow

Leider gab es in dieser Woche nur diese eine Vorstellung, aber der Film wird alsbald mit Sicherheit in kommerziellen Kinos zu sehen sein. Ich kann ihn jetzt also allerwärmstens empfehlen. Mit Bille Augusts Film „Pelle der Eroberer“ verbinde ich meinen Einstieg Ende der 80er Jahre in die Welt der Nordischen Filmtage und deren ungebrochene Faszination bis heute. Das war nun ein wirklich würdiger wie grandioser Beitrag zum 60-jährigen NFL-Jubiläum.

Der Glaube spielte nicht nur hier, sondern auch gestern Nacht eine zentrale Rolle in „Die Wege des Herrn“ (Dänemark, Regie Kaspar Munk). Zwei Episoden einer Serie gab es zu gucken, die Ende November auf ARTE ausgestrahlt wird. Aus eben dem Grund, dass sie ja im Fernsehen kommen werden, hatte ich Serien bisher strikt vermieden, und nun weiß ich wieder warum: Natürlich möchte ich jetzt wissen, wie’s weitergeht, und bin schon gleich ganz gefangen im Fortsetzungswahn.

Die Wege des Herrn, Foto: (c) Tine HardenDie Wege des Herrn, Foto: (c) Tine HardenDas war eine sehr spannende Unterhaltung mit Doppelmoral im Pastorenhaushalt, Familien- und Gewissenskonflikten en masse, schwer auszuhaltenden Kriegsszenen aus einem Krisengebiet, in welchem der eine von zwei Söhnen selbst Pastorendienst tut, während der andere versucht, sich mit gefälschter Masterarbeit einen Weg ins Leben zu verschaffen, den besten Freund mit dessen Freundin betrügt etc. pp. Geballter Stoff, aus dem sich Serien basteln lassen.

Beste dänische Schauspielercrew, allen voran Lars Mikkelsen als Pfarrer Johannes, der am Ende, noch halb betrunken, den letzten Segen für ein Gemeindemitglied am Grab nicht mehr ganz bewältigen kann und torkelnd mit ins Grab stürzt. Was sich so vielleicht slapstickhaft anhört, wirkt im Film nahezu vorhersehbar, fatal und doch durchaus glaubwürdig. Ich empfehle, Ende November ruhig mal wieder einen Blick auf ARTE zu werfen. Das Lesen der reichhaltigen Untertitel war zu nachtschlafender Zeit ein wenig mühsam.

Weniger anstrengend und beinahe sprach-los verständlich, wenn auch sehr bewegend am gestrigen Nachmittag: „Sommerkinder“ von Guðrún Ragnarsdóttir, die Geschichte einer Art Kinderlandverschickung auf Island vor gut 50 Jahren. Zwei noch sehr kleine Kinder (ganz großartig Kristjana Thors als Eydís und Stefán Örn Eggertsson als ihr Bruder Kári) werden in ein Heim geschickt, da ihr Vater gewalttätig gegen die Mutter war, die sich nun nicht um sie kümmern kann, aber es herrscht ein allzu strenges Regiment im Heim, und die Kinder hoffen sehnlichst, dass ihre Mutter sie bald wieder abholen möge.

Sommerkinder, Foto: (c) LjósbandSommerkinder, Foto: (c) Ljósband

Als das nicht mal am Ende des Sommers der Fall ist, machen sich die Kinder in einer Art verzweifelter Unerschrockenheit selbst auf den Rückweg. Nicht erst dort vermischt sich isländisch Mystisches in der Fantasie der Kinder mit der Realität der rauen Natur, die sie die ganze Zeit schon umgibt. Die Regisseurin hat eigene und, wie sie sagte, eher gefühlsmäßige Kindheitserinnerungen zu einer anrührenden Geschichte aus Kindersicht verwoben und filmisch wunderbar umgesetzt. Heute wird der Film für hoffentlich viele Kinder mit eingesprochenem Text gezeigt. Auch das ist immer wieder ein sehens- und hörenswertes Erlebnis.

Und der Eröffnungsfilm? Na, großartig! „Die kleine Genossin“ (Estland) läuft noch öfter. Kaum zu glauben, dass es sich um einen Debütspielfilm der jungen Regisseurin Moonika Siimets handelt. Wiederum aus der Perspektive der sechsjährigen Leelo begeben wir uns nach Estland im Jahre 1950. Die Mutter des Mädchens wird von der sowjetischen Besatzungsmacht abgeholt, und im Kind setzt sich der Glaube fest, dass es nur brav sein muss, damit die Mutter zurückkehrt. Es versucht inständig, das Richtige zu tun, was aber häufig genau das Gegenteil seiner guten Absicht bewirkt.

Die kleine Genossin, Foto: (c) Amrion, Priit GreppDie kleine Genossin, Foto: (c) Amrion, Priit Grepp

Für das Mädel bleibt es unverständlich, was vor sich geht und warum die Mutter nicht mal zur Einschulung wieder zurückkommt, da ihm nie die volle Wahrheit gesagt wird, nicht mal vom Vater, um dessen Verbleib Leelo am Ende auch noch fürchten muss. Ihre Verzweiflung wächst, je länger das Warten dauert, auch wenn die Erwachsenen immer wieder versuchen, unbeschwerte Momente für das Kind zu schaffen. Rührend beispielsweise, wie die Großeltern nachts für Leelo singen und tanzen, als die Kleine von Alpträumen geplagt wird. Für uns Zuschauende werden die allgegenwärtigen Repressalien, denen das estnische Volk ausgesetzt war, umso deutlicher, als wir sie durch die Augen des Kindes betrachten.

Der Film beruht auf den autobiografischen Romanen von Leelo Tungal, die im Anschluss des Filmes anwesend war und von ihren damaligen Erlebnissen und deren Auswirkungen bis heute berichtet hat. Ganz herzerfrischend und ‑erwärmend – ja, das geht irgendwie beides gleichzeitig – war die jetzt 10-jährige Hauptdarstellerin Helena Maria Reisner zu erleben, wie sie äußerst selbstbewusst, aber dennoch sehr natürlich ihre Erfahrungen mit ihrem ersten Film in tadellosem Englisch lebhaft zum Besten gab. Sie möchte gerne Schauspielerin werden und irgendwann nach Hollywood. Die Schauspielerei scheint ihr angeboren zu sein, und wer weiß, die NFL sind vielleicht „a first step towards her dream“. Das Gegenüber von Alt und Jung, der realen Person und ihrer talentierten Darstellerin als Kind faszinierten wohl alle Anwesenden.

Die kleine Genossin, Foto: (c) Amrion, Priit GreppDie kleine Genossin, Foto: (c) Amrion, Priit Grepp

Passend zu obigem Thema interessiert mich nun gleich der Film „14 Fälle“, eine Dokumentation über russischstämmige Esten, ein Viertel der dortigen Bevölkerung. In ein paar Stunden weiß ich mehr darüber, jetzt muss ich wieder los. Was kann ich sonst empfehlen? Nichts bzw. alles, was noch kommt!

Impressionen von der Präsentation des Eröffnungsfilms im Cinestar

Gerda Vorkamp
Gerda Vorkamp
Geboren 1958 in Herford, Lehramtsstudium, Angestellte im Fremdsprachendienst, freiberuflich tätig als Lektorin. Bei Unser Lübeck seit Beginn als Autorin und seit 2016 als Redakteurin dabei.

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