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Filmhaus Lübeck
Poor Things - die neue Fantasy-Groteske von Kino-Visionär Yorgos Lanthimos

Das neue cineastische Meisterstück des griechischen Kult-Regisseurs Yorgos Lanthimos wird bereits jetzt als der große Abräumer der diesjährigen Oscar-Verleihung vorhergesagt.

Nachdem „Poor Things“ im Herbst in Venedig den Goldenen Löwen einsacken konnte, bekam er ebenfalls vor kurzem bei den Golden Globe sowohl die Auszeichnung als beste Komödie, als auch für die beiden besten Darsteller mit der fantastischen Emma Stone und Mark Ruffalo. Aber was gibt es eigentlich zu sehen?

Poor Things ist eine Fantasy-Groteske zwischen Surrealismus, weiblicher Emanzipation, Frankenstein-Adaption und humorvollen Absurditäten. Zu Beginn sehen wir, wie Emma Stone in einem wunderschönen blauen Kleid an der Kante der Tower Bridge in London steht und sich in den Tod stürzt. Dann schwenkt der Film über in Schwarz-Weiss und die Szenerie wechselt in das schauerliche Haus von Dr. Baxter (ein gruselig zerschredderter Wissenschaftler - Willem Dafoe), der gerade sein letztes Experiment fertigt gestellt hat.

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Der Forscher mit dem schrecklich vernarbten Gesicht, selbst ein Opfer des Wissensdrangs seines Vaters, ist nun seinerseits herangereift zum Mad Scientist. Er hat die Leiche der Selbstmörderin wieder zum Leben erweckt, indem er ihr das Gehirn ihres eigenen ungeborenen Babys eingepflanzt hat. Hier wird erstmals die Frankenstein-Persiflage sichtbar, wenn absurde Gerätschaften zischen und krachen und die weibliche Leiche mit Hilfe von Strom und Energie zum Leben erweckt wird. Das Geschöpf Bella (Emma Stone) hat den sexy Körper der erwachsenen Frau, aber das naive, neugierige Hirn eines Säuglings.

Sie stakst herum und grient wie ein Zombie, weil die Grobmotorik noch nicht funktioniert. Ungeliebtes Essen wird wieder auf den Teller gespuckt und dann vom Tisch gewischt. Aber das seltsame Monster hat neugierige Augen und wächst schnell, während ihr gruseliger „Gott-Vater“ ihre Entwicklung sorgsam beobachtet. Und Bella lernt schnell - so schnell, dass ihr die Räume von Baxters Anwesen bald nicht mehr ausreichen. Da kommt der Lebemann Duncan (Mark Ruffalo) gerade recht, der sie einlädt, sich mit ihm auf eine erotische Entdeckungstour zu begeben.

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Was wie eine Hammer-Horror-Persiflage in düsterem Schwarz-Weiss beginnt, mutiert zum farbenprächtigen Bilderrausch, sobald Bella von unbändiger Neugier getrieben in die weite Welt zieht. Über Lissabon geht es auf ein Kreuzfahrtschiff, wo es zu einem wunderbaren Disput mit Hanna Schygulla über Sex im Alter kommt. Was mit Bellas spielerischen Entdeckungen ihrer eigenen Sexualität mit Hilfe von Apfel und Gurke beim Masturbieren beginnt, erweitert sich durch Sex-Hopsereien mit dem Dauer-geilen Duncan, der sie aber eigentlich nur zu seiner eigenen hormonell gesteuerten Lustbefriedigung benutzt. Er verfällt wie alle Männer diesem angstfreien Wesen, die völlig schamlos und Moral-frei alle Spielarten der Erotik kennen lernen will. Bella nimmt sich als geistig herangereifte Frau, was und wen sie will.

Zwischendurch glänzt der Film durch eine grandiose Tanzeinlage zwischen Duncan und Bella an Bord des Schiffes, woraufhin er zum Opfer unkontrollierbarer Eifersuchtsschübe von ihr wird. Er macht sich zum Deppen und sie verschenkt sein gesamtes am Roulett-Tisch gewonnenes Geld, derweil sie sich in Paris von ihm absetzt. Dort vermischt sie ihre Lust nach Sexualität und die Notwendigkeit, Geld zum Überleben zu verdienen, indem sie sich prostituiert.

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Die Städte, egal ob Lissabon, Alexandria oder Paris, sind Theaterkulissen - mit verzerrendem Fischauge-Objektiv aufgenommen. Es wirkt, als wenn sich der Extremfilmer Lanthimos von Dekorier-Weltmeister Wes Anderson (Grand Budapest-Hotel) und Körperhorrorkönig David Cronenberg (Crimes of the future) hat inspirieren lassen. Da watscheln einerseits skurrile Chimären aus Huhn und Hund, Ente und Ziege, Schwan und Mops durch den Garten von Gott-Vater Baxter, während die Damenwelt auf dem Schiff oder im Pariser Bordell mit den fantastischsten Kostümen durch Räumlichkeiten stolzieren, deren Ausstattung wohl erst bei dritten Ansehen des Films voll erschlossen werden können.

Lanthimos bislang zugänglichster und positivster Film ist ein fleischgewordener Bildungsroman einer jungen Heldin, die von Emma Stone grandios und mit Inbrunst verkörpert wird. Und er ist gleichzeitig eine Ode an die Menschlichkeit, obwohl er voller surrealer und humorvoller Erotik und Horror steckt. Der Film zeigt zwar auch hier, wie widerwärtig Menschen sein können, aber auch wie liebe- und verständnisvoll. Eine Essenz des Menschseins- und Werdens als lebensbejahendes Fest für alle Sinne. Großartig und absolut sehenswert!

Infos und Tickets: www.cinestar.de/kino-luebeck-filmhaus

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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